Die Rolle des Vaters und das Elternmotiv

Die Rolle des Vaters und das Elternmotiv

Von den drei Erzaehlungen, wird die Vaterfigur am eindeutigsten in ‘Der Verschollene’ sichtbar. Mehrere Figuren besitzen diese Charakteristika - so z.B. Pollunder, Green, der Oberportier, der Schiffskapitaen etc. - und verhalten sich Karl gegenueber entsprechend.
Gehen wir zunaechst kurz auf den Vater von Kafka ein, um ihn dann mit dem Onkel zu vergleichen. Kafka versuchte dauernd seinem Vater zu gefallen und von ihm Annerkennung zu bekommen, wozu er unter anderem auch das Schreiben benutzte. Das Schreiben sah er jedoch gleichzeitig als eine Fluchtmoeglichkeit an, um in eine von ihm geschaffene Welt zu versinken. Im nachfolgenden Zitat aus dem ‘Brief an den Vater’, sieht man sehr deutlich Kafkas Minderwertigkeitskomplex gegenueber seinem Vater.

‘Du warst, ganz abgesehen vom Unternehmerinteresse und von deiner Herrschsucht schon als Geschaeftsmann allen, die jemals bei Dir gelernt haben, so sehr ueberlegen, dass Dich keine ihrer Leistungen befriedigen konnte, aehnlich unbefriedigt musstest Du auch von mir sein. (BV, S. 33)

Kafkas Vater, Hermann Kafka, war ein ‘harter Geschaeftsmann’ der kein Mitleid gegenueber seinen Mitarbeitern zeigte. Als alle seine Mitarbeiter gekuendigt hatten, wegen einem Entschluss des Vaters, hat dieser die Ruhe behalten und durch seine guten Verhandlungsfaehigkeiten, alle wieder zurueckgewinnen koennen. Kafkas tagebucheintrag zitieren.
Der Onkel in 'Der Verschollene', ist genauso ein Geschaeftsmann, der es in Amerika ‘weit gebracht’ (DV, S.67) und sich alles, vor dreissig Jahren ‘selbst eingerichtet’ (DV, S.67) hat. Seine Macht als Geschaeftsmann, und jene als private Person, wird schon alleine an seinem Haus ersichtlich. So lag Karls Zimmer ‘im sechsten Stockwerk eines Hauses, dessen fuenf untere Stockwerke, an welche sich in der Tiefe noch drei unterirdische anschlossen, von dem Geschaeftsbetrieb des Onkels eingenommen wurden.’ (DV, S. 54) Dieser Luxus der Karl ploetzlich umgibt, beeindruckt ihn sehr. Insbesondere die Art und Weise wie das Geschaeft seines Onkels funktioniert will er verstehen und kennenlernen. ‘Verhaeltnismaessig lange dauerte es, ehe sich der Onkel entschloss, Karl auch nur einen kleinen Einblick in sein Geschaeft zu erlauben, trotzdem Karl darum oefters ersucht hatte’ (DV, S. 65)
Bevor Karl den Onkel trifft, setzt er sich vehement fuer einen Heizer ein, den er gerade erst kennengelernt hat. Der Heizer repraesentiert die Arbeiterklasse in Amerika, und wie sie in der Muehle des Systems allmaehlich verbraucht wird. Eine Parallele laesst sich dabei gegenueber Kafkas Einstellung zur Geschaeftswelt ziehen.

‘In der Auflehnung gegen die Vater - Welt des Geschaefts und Profits, ergriff Kafka die Partei des Personals. ... die Arbeiter nicht als kaempfende Klasse, sondern als hilflose Einzelne kennen.’ [1]

Das Motiv der Ungerechtigkeit gegen die einfachen Arbeiter, auf die das System aufbaut, aber die es gleichzeitig schamlos ausnutzt, wird in ‘Der Verschollene’ dargestellt.
Am Anfang des Kapitels ‘Der Onkel’ wird dieser als ausserordentlich freundlich dargestellt. Er kommt Karl in jeder Kleinigkeit entgegen und stellt ihm sogar ein Klavier zur Verfuegung, als er erfaehrt das Karl frueher zwar selten, aber dafuer gerne das Klavier gespielt hat. Ausserdem kuemmert er sich um die Ausbildung von Karl, indem er ihm einen Privatlehrer zur Verfuegung stellt, der ihm Englisch beibringen soll. Doch gibt er seinem Neffen, - der gerade erst siebzehn ist - keine weitere Chance, nachdem dieser gegen seinen Willen Herrn Pollunder besucht hat, sondern will ihn nie wieder sehen.

‘Du hast Dich gegen meinen Willen dafuer entschieden, heute Abend von mir fortzugehn, dann bleibe aber auch bei diesem Entschluss Dein Leben lang, nur dann ist es ein maennlicher Entschluss.’ (DV, S. 123)

Die Strenge des Onkels und sein Prinzip kein Mitleid gegenueber Karl zu haben, wird deutlich, sobald Karl versucht seinen eigenen Willen durchzusetzen. Wie Karl schon sehr frueh erkennt ‘auf Mitleid durfte man hier nicht hoffen’. (DV, S. 54 - 55) Der Onkel verurteilt noch auf dem Schiff, die Eltern von Karl, dass sie so hart gegen ihn geurteilt haben und ihn nachdem er den Fehler begangen hat, sich von einem Dienstmaedchen verfuehren zu lassen, keine weitere Chance geben, sondern ihn nach Amerika schickten. Er selber aber verhaelt sich nicht viel anders. Als Karl den Fehler begeht, gegen den Wunsch des Onkels, Herrn Polunder zu besuchen, bekommt er keine zweite Chance.
Kommen wir kurz zurueck auf Hermann Kafka. Kafka schreibt im ‘Brief an den Vater: A...ich waere wahrscheinlich auch sonst ein menschenscheuer, aengstlicher Mensch geworden,...@. (BV, S. 345) Die Macht des Vaters schien Kafka in seiner Jugend einfach zu erdruecken. Er stellte eine staendige Bedrohung fuer Kafka da, der ‘krampfhaft’ aber ‘erfolglos’ versuchte seinen Anforderungen zu entsprechen, um die ueber ihn haengende erdrueckende Machtstellung des Vaters zu kompensieren.
So hielt Hermann Kafka seinem Sohn dauernd vor, wie weit der Vater es gebracht hat und wie gut der Sohn es im Vergleich dazu hat.

‘Du pflegtest darauf hinzuweisen, wie uebertrieben gut es mir ging und wie gut ich eigentlich behandelt worden bin’ (BV, S. 27)

Der Onkel gibt Karl alles, uebersieht aber scheinbar das Wichtigste fuer einen aufwachsenden Jugendlichen in einer ‘feindlichen Welt’, was man mit Geld, materiellen Werten nicht kaufen kann. Liebe, Zuneigung und die Faehigkeit Fehler zu verzeihen. Ausserdem Karl dabei behilflich zu sein, sich zu einem eigenstaendigen Menschen zu entwickeln. Ihm ist es unverstaendlich, dass Karl Ratschlaege braucht, jemanden der ihn leitet und ihm hilft sich zurechtzufinden.
Stattdessen befindet sich Karl von Anfang an in einer Abhaengigkeit gegenueber dem Onkel. Denn er hat seine Ausbildung nicht abgeschlossen und kennt ansonsten in Amerika niemanden. Dementsprechend ist Karl unterwuerfig und versucht sich dessen Wuenschen, so gut es geht, anzupassen.

‘Und tatsaechlich verzog der Onkel immer aergerlich das Gesicht, wenn er bei einem seiner Besuche, die immer nur einmal taeglich und zwar immer zu den verschiedensten Tageszeiten erfolgten, Karl auf dem Balkone antraf. Karl merkte das bald und versagte sich infolgedessen das Vergnuegen, auf dem Balkon zu stehn, bach Moeglichkeit.’ (DV, 57)

Der Onkel in ‘Der Verschollene’ ist mit Klamm in ‘Das Schloss’ vergleichbar, insofern als dieser ebenso ein Abhaengigkeitsverhaeltnis gegenueber der Hauptfigur aufgebaut hat. Karl ist finanziell von seinem Goenner abhaengig, waehrend K. von Klamm abhaengig ist, weil er eine einflussreiche Stellung besitzt und wie sich bei der Familie Barnabas gezeigt hat, das Wohlwollen des Schlosses und ihren Beamten grosse Auswirkungen haben kann. Der Unterschied ist, das Karl am Anfang, keine physische Distanz zum Onkel hat. Dies trifft aber nur insoweit zu, asl dass er mit ihm sprechen kann.
Als Karl in Herrn Pollunders Landhaus ist, stellt er sich vor den Onkel zu Hause zu ueberraschen. Deutlich wird die Distanz zwischen dem Onkel und Karl, der noch nicht einmal weiss wo dessen Schlafzimmer liegt. ‘Er war zwar noch niemals in seinem Schlafzimmer gewesen, wusstte auch gar nicht, wo es lag, aber er wollte es schon erfragen.’ (DV, s.86) Die persoenliche Distanz die zwischen beiden besteht ist in diesem Falle aber die wichtigere. So ist sich Karl gar nicht bewusst, wie sehr der Onkel gegen seinen Besuch beim Herrn Pollunder ist. Einmal dort angekommen, ist er sich ploetzlich bewusst, dass die Kommunikation zwischen ihm und seinen Onkel nicht funktioniert. ‘Es lag ja schliesslich nur an dem Mangel dieser offenen Aussprache, wenn er heute dem Onkel gegenueber etwas unfolgsam oder besser starrkoepfig gewesen war.’ (DV, S.86 - 87)
Doch sobald er verstossen worden ist, und die Distanz physisch sich auch manifestiert, versucht er nicht mehr Kontakt aufzunehmen. Im Gegensatz dazu will K. der Landvermesser unbedingt mit Klamm sprechen, aber je mehr er es versucht, desto weiter scheint dieser sich von ihm zu distanzieren. ‘Wenn es, wie Sie sagen, fuer mich unmoeglich ist mit Klamm zu sprechen, so werde ich es eben nicht erreichen ob man mich bittet oder nicht.’ (DS, S.91) K. behauptet selber das er ‘ein Nichts in in Klamms Augen’ (DS, S.83) sei.
Um die Darstellung der Instanzen und die eventuelle Verbindung mit der Vaterfigur zu verstehen, muss man das Pawlatscheerlebnis und die Auswirkungen die es auf den Autor hatte, in Betracht ziehen. Kafka hatte des Nachts wohl um Wasser gebeten, unter anderem, weil er Zuwendung haben wollte, diese wurde ihm jedoch nicht gewaehrt und nach mehrmaligen Aufforderungen des Vaters doch Ruhe zu geben, hat dieser ihn auf die Pawlatsche getragen. Dieses Ausgesperrtsein hat wiederum Kafkas Verhalten gepraegt. Die harte Bestrafung konnte Kafka als traumatische Erfahrung zeitlebens nicht verabeiten. AIch war damals nachher wohl schon folgsam, aber ich hatte einen inneren Schaden davon.@ [2]

So sagt Kafka:

‘Noch nach Jahren litt ich unter der quaelenden Vorstellung, dass der riesige Mann, mein Vater, die letzte Instanz...und dass ich also ein solches Nichts fuer ihn war.’ (BV, S. 11)

Dieses Erlebnis verstaerkte Kafkas Ohnmachtsgefuehl gegenueber Autoritaten und intensivierte sein Gefuehl der Einsamkeit. So hat er jahrelang unter der Angst gelitten, dass sein Vater ohne Grund kommen und ihn auf die Pawlatsche tragen koenne. Folglich, dass er, als Sohn, doch ein solches Nichts war. Desweiteren spricht er in diesem Zusammenhang von seinem Vater als der ‘letzten Instanz’. In ‘Der Prozess’ klagt das Gericht J.K an. Sein Prozess aber gelangt nie zur letzten Instanz. Dauernd versucht er zu den hoeheren Beamten vorzudringen, die in seinen Augen die wirkliche ‘Macht haben’. Denn wie der Advokat behauptet, ‘wirklichen Wert aber haben nur ehrliche persoenliche Beziehungen mit hoehern Beamten, womit natuerlich nur hoehere Beamten der untern Grade gemeint sind.’ (DP, S. 122)
Eine weitere Vaterfigur in ‘Der Verschollene’ ist Herr Polunder. Er will Karl unbedingt mit sich ins Landhaus nehmen und scheint gegen alle Einwaende des Onkels eine Antwort zu haben. Auf der Reise zum Landhaus dann, sitzen sie eng beeinander ‘und Herr Polunder hielt Karls Hand in der seinen, waehrend er erzaehlte.’ (DV, S.73) Karl ist ungeduldig anzukommen und Fraeulein Klara zu treffen. Er scheint sich sehr wohl in der Gegenwart von ihm zu fuehlen und lehnt sich spaeter sogar an seinen Arm. (DV, S. 75) Trotzdem ist es ihm von Wichtigkeit, dass Herr Polunder seine Schlaefrigkeit nicht bemerke d.h. er bemueht sich um einen guten Eindruck.
Ein wenig spaeter, als sie dann im Landhaus angekommen sind, betrachtet Karl das Verhalten von Herrn Pollunder sehr genau. Obwohl sie sich erst seit kurzer Zeit kennen, scheint er den Anspruch an ihn zu stellen, seine ungeteilte Aufmerksamkeit zu bekommen. ‘Vergebens suchte sich Karl das Benehmen Herrn Pollunders zu erklaeren. Der sass vor seinem Teller und sah in ihn, als geschehe dort das eigentlich Wichtige. Er zog Karls Sessel nicht naeher zu sich und wenn er einmal sprach so sprach er zu allen, aber zu Karl hatte er nichts besonderes zu reden.’ (DV, S.84) Er scheint Herrn Pollunder und das manipulative Spiel von ihm, nicht zu verstehen. Denn sicherlich musste Herr Pollunder den Grund des Besuchs von Herrn Green geahnt haben und spaetestens als Karl wieder zurueckwollte wusste er von den Absichten des Herrn Green. ‘ "Wollten Sie ihm nicht etwas sagen?" fragte Herr Pollunder Herrn Green und fasste wie bittend Herrn Greens Hand.’ (DV, S. 108) Stattdessen hat Herr Pllunder trotz dem Verhalten seiner Tochter, in den Augen von Karl, immer noch eine ‘Guete’ die im Kontrast zu Herrn Greens ‘ Abscheulichkeit’ (DV, S. 108) steht.
Herr Green stellt in diesem Sinne die umgekehrte Vaterfigur da. Vor dieser hat Karl Respekt, der schon fast in Angst umschlaegt. ‘Vor der riesigen Gestalt Greens - an Polunders Groesse hatte er sich schon gewoehnt - die sich vor ihnen, wie sie die Stufen hinaufstiegen, langsam entwickelte, wich allerdings von Karl jede Hoffnung, diesem Manne den Herrn Pollunder heute abend irgendwie zu entlocken.’ (DV, S. 79) Herr Green erscheint ihm ‘riesig’ genau wie Kafkas eigener Vater ihm manchmal so erschien, jemand der ihn verfolgt, ihm Angst macht. ‘Green nahm in diesem Gang eine schon laecherliche Groesse an und Karl stellte sich zum Spass die Frage, ob er nicht etwa den guten Herrn Pollunder aufgefressen habe.’ (DV, S.121)
Die Verfolgung Gregors in ‘Die Verwandlung’, in der der Vater, Gregor ernsthaft verletzt, hat wohl auch in Kafkas Kindheit stattgefunden, wo der Vater den Sohn spielend um den Tisch herum verfolgte, was aber - so Kafka - Aschrecklich@ war, und die Mutter diesen dann rettete. So heisst es denn auch in einem Brief an Felice: AIch habe die Eltern immer als Verfolger gefuehlt.@ [3] Noch expliziter wird dies in Kafkas Brief an den Vater.

‘Wollte ich vor Dir fliehen, musste ich vor der Familie fliehen, selbst vor der Mutter. Man konnte bei ihr zwar immer Schutz finden, doch nur in Beziehung zu Dir.’ (BV, S. 35)

In ‘Der Prozess’ wird Josef K., aehnlich, von den Instanzen, dem Gericht verfolgt.
Karl fuehlt sich von Herrn Green abgestossen und moechte am liebsten gar nicht mit ihm reden. Insbesondere die Essenmanieren erinnern an Kafkas eigenen Vater, wenn man ihnen den Eintrag gegenueberstellt.
‘...,sagte Herr Green und fuehrte einen Bissen in den Mund, wo die Zunge, wie Karl zufaellig bemerkte, mit einem Schwunge die Speise ergriff. Ihm wurde fast uebel und er stand auf.’ (DV, S. 82)

Die Eltern werden in ‘Der Verschollene’ aber auch direkt erwaehnt.

‘Karl allerdings fuehlte sich so kraeftig und bei Verstand, wie er es vielleicht zu Hause niemals gewesen war. Wenn ihn doch seine Eltern sehen koennten, wie er im fremden Land vor angesehenen Persoenlichkeiten das Gute verfocht und wenn er es auch noch nicht zum Siege gebracht hatte, so doch zur letzten Eroberung sich vollkommen bereit stellte. Wuerden Sie seine Meinung ueber ihn revidieren? Ihn zwischen sich niedersetzten und loben? Ihm einmal in die ihnen so ergebenen Augen sehn? Unsichere Fragen und ungeeignetester Augenblick sie zu stellen.’ (DV, S. 33)

Konnte sich Kafka, der zuhause wohnte, unter dem ungeheuren Druck, den der Vater bewusst oder unbewusst dem Sohn auflastete, wirklich so entwickeln, wie er wollte? Fuehlte er sich von allen moralischen Gesetzten und Regeln frei? Nein. Zwar konnte er dies im erwachsenen Alter kompensieren und lernte damit umzugehen, aber der Brief an den Vater ist geradezu eine Bestaetigung dafuer, dass er dies nicht konnte.

Ausserdem finden sich in diesem Zitat zwei weitere Motive. Erstens wird das Elternmotiv ersichtlich und die Ergebenheit, die Karl ihnen gegenueber aufweist, obwohl sie ihn weggeschickt haben. Er ist selber davon ueberzeugt, ‘dass er keine Heimat mehr hatte.’ (DV, S. 54), nicht mehr zurueckkehren kann, selbst wenn sie ihn zurueckgeschickt haetten. Dies wiederum, ist im Bezug auf Kafkas Leben zu sehen, seiner Motivation zu schreiben und seiner Furcht vor dem Vater.

‘Ging heute Samstag nicht zum Nachtmahl, teils aus Furcht vor dem Vater, teils um die Nacht fuer die Arbeit ganz auszunuetzen,...’ [4]

Zweitens findet sich das Motiv der Gerechtigkeit. Verteidigt Karl den Heizer am Ende wirklich wegen seiner moralischen Auffassung oder um vor sich selber als gut darzustehen; etwas Gutes zu tun, was seine Eltern, waeren sie als Betrachter anwesend, als gut empfinden wuerden, ja loben wuerden.
Gleich zu Anfang des Romans bekommt der Leser mitgeteilt, dass der siebzehnjaehrige Karl Rossmann von seinen Eltern nach Amerika geschickt worden ist, ‘weil ihn ein Dienstmaedchen verfuehrt und ein Kind von ihm bekommen hatte.’ (DV, S.7) Dies ist gleichzusetzen mit einer Verstossung des eigenen Sohnes und zeigt die Macht des Vaters. Karl hat seine Ausbildung noch nicht einmal abgeschlossen und wird mit seinem jungen Alter, ohne Begleitung und ohne dass seine Eltern etwas arrangiert haetten, wie zum Beispiel jemand, bei dem er bleiben kann, nach Amerika geschickt. Folglich wurde der Onkel nicht von den Eltern informiert, sondern von Karls Geliebten. Trotzdem ist fuer Karl das Wichtigste, dass ‘der Vater von seiner jetzigen Lage nicht das allergeringste erfahren konnte, selbst wenn er nachforschen sollte.’ (DV, S.14) Der Vater ist, wie der Onkel, ein Geschaeftsmann, ‘welcher durch Cigarrenverteilung alle die niedrigern Angestellten gewann, mit denen er geschaeftlich zu tun hatte.’ (DV, S.15)
Im Unterschied dazu werden in ‘Der Prozess’ Vaterfiguren nur selten direkt sichtbar. Die Figuren die J.K. umgeben, sind nur schwer mit Vaterfiguren gleichzusetzen. Dies gilt insbesondere, weil die Figuren eher oberflaechlich charakterisiert werden. ZITAT
In Kafkas Tagebucheintragung vom 29.Juli 1914 ist eine Skizze fuer eine Szene in dem Prozess, die jedoch nicht aufgenommen worden ist. Hier sieht man die Vaterfigur und einen Streit, der sich entwickelt.

‘Josef K., der Sohn eines reichen Kaufmanns ging eines Abends nach einem grossen Streit der er mit seinem Vater gehabt hatte - der Vater hatte ihn sein liederliches Leben vorgeworfen und dessen sofortige Einstellung verlangt -, ...’ [5]

Es findet sich zwar ein Onkel, der sich ebenfalls um den Hauptcharakter Josef K. sorgt, aber er nimmt K. nicht auf, hat nicht die gleich Machtstellung gegenueber ihn, wie der Onkel in ‘Der Verschollene’. K. nimmt das Angebot des Aufenthaltes auf dem Lande nicht an. Nur den vom Onkel empfohlenen Advokaten sucht er auf, obwohl er ihn spaeter feuert. Infolgedessen steht er dann, wie Karl Rossmann, einer ihm fremden Umgebung gegenueber und schlaegt sich selbst durch. Doch ist er ein erwachsener Mann, der sich nicht um einen Job kuemmern muss und ich werde spaeter aufzeigen, dass das Schuldmotiv im Vordergrund steht.
Der Onkel wird als ‘ein kleiner Grundbesitzer vom Lande’ (DP, S. 95) beschrieben, der aber gleichzeitig, wie Erna schreibt, ueber grosse einflussreiche Bekanntschaften verfuegt und eventuell eingreifen soll, wenn er es fuer noetig erachtet (DP, S. 97).

‘Das bedeutet, dass Du einfach gestrichen wirst. Und dass die ganze Verwandtschaft mitgerissen oder wenigstens bis auf den Boden gedemuetigt wird. Josef, nimm Dich doch zusammen. Deine Gleichgueltigkeit bringt mich um den Verstand.’ (DP, S. 101)

Aber ihn interessiert nur die Tatsache, dass die Familie einen schlechten Namen bekommen wird, weil ein Familienmitglied in einem Prozess verwickelt ist. Eine Paralelle laesst sich zu ‘Der Verschollene’ ziehen, insofern, als dass die Eltern von Karl Rossmann ihn verstossen, sicherlich aus dem Grund, weil eine Heirat nicht in Frage kommt und ausserdem die Ehre der Familie beschmutzt werden wuerde. Die Aussage des Onkels bestaetigt dies: ‘... - da also die Eltern zur Vermeidung der Alimentenzahlung und des Skandales ihren Sohn meinen lieben Neffen nach Amerika haben transportieren lassen,...’ (DV, S. 40) K. wird am Ende der Erzaehlung quasi ‘verstossen’ bzw. ‘gestrichen’, wenn die beiden Waechter ihn toeten.
Es ist jedoch moeglich, das Gericht mit dem Vater gleichzusetzten, insofern, dass er die Verkoerperung der Hierarchie, des richtigen oder falschen Handelns ist. Doch machen wir dies, so stellt sich die Frage, ob die Vaterfigur eher in der eigentlichen Instanz und ihren moralischen Werten zu sehen ist, d.h. Schuld und Strafe, demnach insbesondere das Verhalten von J.k. oder ob die Beamten als Teil des Gerichts zu sehen sind. Denn in diesem Falle gelangt man zu einem ganz anderen Bild.
Die Distanz zu J.K. ist sicherlich am auffaelligsten. Er versucht staendig an die in seinen Augen wichtigen, weil ausschlaggebenden hohen Beamten zu gelangen, aber sein Erfolg ist nichtig.
Wenn man aber die Beamten und die Gerichtsgebaeude miteinbezieht, dann entsteht ein anderes Bild, das schon schwerer mit der Vaterfigur gleichzusetzen ist. Insbesondere die Schaebigkeit der Beamten steht im Widerspruch dazu. Das pornografische Buch des Untersuchungsrichters. ‘K. schlug das oberste Buch auf, es erschien ein unanstaendiges Bild.’ (DP, S. 62) Sie werden nicht als ehrenvoll charakterisiert.
Natuerlich darf man nicht vergessen, dass die Meinungen bezueglich was das Gericht repraesentiert weit auseinander gehen. Fuer einige Interpretatoren hat Kafka versucht das Schuld und Straf Motiv - die Frage nach der wirklichen Moral zu portraetieren. Andere wiederum sehen in dem Schloss ein System der Ausbeutung oder als religioeses Motiv die Gnade Gottes.

In der Erzaehlung ‘Das Schloss’ befinden wir uns in einer aehnlichen Situatuion, wie in ‘Der Prozess’. Die Eltern werden nur einmal direkt, am Anfang der Geschichte, erwaehnt. Hellmuth Kaiser behauptet, dass im Schlossroman die Vaterfigur in ‘der weltlichen Macht einer Verwaltungsbehoerde’ [6] aufgeloest ist. Es gibt viele unterschiedliche Interpretationen hinsichtlich der wirklichen Bedeutung des Schlosses, wie auch in ‘Der Prozess’ von dem Gericht. Ich denke, es ist ein Fehler und eine grobe Vereinfachung, das Schloss einfach als weltliche Verwaltungsbehoerde anzusehen und in Verbindung mit Kafkas Vater zu setzen. Max Brod zum Beispiel hat versucht, es als die ‘Gnade Gottes’ darzustellen, d.h. eine religioese Interpretation von Kafkas Werk. Diese beiden Interpretationen weisen die gleiche Schwaeche auf, naemlich, dass sie den Anspruch stellen, die einzig richtige zu sein. Trotzdem kann man auch in der Erzaehlung ‘Das Schloss’ die Vaterfigur wiederfinden. R. Sheppard weist uns auf die Periode hin, wo die Literaturkritiker das Schloss als Vaterfigur sahen.

‘Correspondingly, the Kafka critics of the sixties, tending to see the Castle as a purely immanent institution, tend also to regard it as a grandiose version of the repressive father figure, which transmits either no grace at all, or only the faintest glimmerings of grace to those whom it governs.’ [7]

Ein Schluesselbegriff des ‘Brief an den Vater’ ist der ‘Kampf’ fuer und um Macht, immer wieder in verschiedenen Versionen auftaucht. ‘Es ist durch Kafkas Aeusserungen haeufig belegt worden, dass er sein Leben im Bilde des Kampfes sah.’ [8] K. glaubt, nachdem er zum Landvermesser berufen worden ist, einen Kampf gegen das Schloss zu fuehren.

‘Das Schloss hatte ihn also zum Landvermesser ernannt. Das war einerseits unguenstig fuer ihn, denn es zeigte, dass man im Schloss alles Noetige ueber ihn wusste, die Kraefteverhaeltnisse abgewogen hatte und den Kampf laechelnd aufnahm.’ (DS, S. 12)

Setzt man den realen Kampf gegen die Macht des repressiven Vaters gleich mit dem Kampf in ‘Das Schloss’ und K. mit Kafka, dann kann dieses Bild natuerlich entstehen. Es lassen sich viele Stellen finden, die diesen Kampf belegen. Alle Handlungen K.’s sind darauf ausgerichtet, dem Schloss naeher zu kommen. Doch die ‘Macht’ des Schlosses hindert ihn daran.

‘Das Schloss dort oben, merkwuerdig dunkel schon, das K. heute noch zu erreichen gehofft hatte, entfernte sich wieder.’
(DS, S. 29)

Man kann wiederum argumentieren, dass sich durch den Entzug, durch die Verwendung von Boten, die Nachrichten ueberbringen, eine ‘direkte Kommunikation’ nicht moeglich ist. Der Landvermesser wird in seiner vollen Funktion eben doch nicht angenommen, sondern auf ein Abstellgleis gestellt. Jedoch hat der Landvermesser keine ‘Furcht’ vor dem Schloss.
Trotzdem ist es in dieser Erzaehlung moeglich noch andere Figuren zu finden, die die Stelle der Vaterfigur repraesentieren. ‘Durch das kleine Loch, das offenbar zu Beobachtungszwecken gebohrt war, uebersah er fast das ganze Nebenzimmer.’ (DS, S. 60) Wie schon erwaehnt versucht K. dauernd zu Klamm vorzudringen, aber es gelingt ihm nicht. Er tritt dem Bild, dass er sich von Klamm geformt hat, mit Respekt, fast schon Ehrfurcht gegnueber. Laesst es sich aber dennoch nicht nehmen auf ihn in der Kutsche zu warten. Dieser scheint davon erfahren zu haben und folglich wartet er bis K. wieder gegangen ist. Dies Distanz zu der Vaterfigur wie auch zu Kafkas eigenem Vater wird hier ersichtlich.
‘Wie soll er denn sonst verstehn, was uns selbstverstaendlich ist, dass Herr Klamm niemals mit ihm sprechen wird, was sage ich ‘wird’, niemals mit ihm sprechen kann. Hoeren Sie Herr Landvermesser. Herr Klamm ist ein Herr aus dem Schloss, das bedeutet schon an und fuer sich, ganz abgesehen von Klamms sonstiger Stellung, einen sehr hohen Rang. Was sind nun aber Sie, um dessen Heiratseinwilligung wir uns hier so demuetig bewerben. Sie sind nicht aus dem Schloss, Sie sind nicht aus dem Dorfe, sie sind nichts.’ (DS, S. 79 - 80)


‘Karls Vorgesetzte dienen auch als Ersatzeltern. Die muetterliche Oberkoechin tritt fuer ihn ein, als er von so strengen Vaterfiguren wie dem Oberkellner und dem noch brutaleren Oberportier bestraft wird.’ [9]

[1] Ingeborg Schulz, ‘Blickpunkt - Text im unterricht, Franz Kafka, Der Prozess, Das Schloss’, 1996, Joachim Beyer Verlag, Deutschland, S. 25
[2] Juerg Amann,>Das Franz Kafka Buch=,1983 Germany, Clausen & Bosse, Leck, S. 324
[3] Hartmut Binder,>Kafka Handbuch=, Alfred Kroener Verlag, Stuttgart 1979, S. 160
[4] Franz Kafka, ‘Tagebuecher, Schriften, Briefe’, Kritische Ausgabe, Hans - gerd Koch, Michael Mueller, Malcom PaDSey, S.Fischer, 1990, Germany, S. 710
[5] Franz Kafka, ‘Tagebuecher, Schriften, Briefe’, Kritische Ausgabe, Hans - gerd Koch, Michael Mueller, Malcom PaDSey, S.Fischer, 1990, Germany, S. 414
[6] ‘Erlaeuterungen und Dokumente, Franz Kafka, Der Prozess’, S. 126
[7] Richard Sheppard, ‘On Kafka's Castle, a study’, London, Croom Helm, 1973, S. 201
[8] Ingeborg Schulz, ‘Blickpunkt - Text im unterricht, Franz Kafka, Der Prozess, Das Schloss’, 1996, Joachim Beyer Verlag, Deutschland, S. 70
[9] Robertson, Ritchie, ’Kafka, Judentum, Gesellschaft, Literatur’, Stuttgart, Metzler, 1988, S.99

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