Brief an den Vater

Es gibt ein Ziel, aber keinen Weg; was wir Weg nennen, ist Zögern. (Franz Kafka)

I.) Einleitende Bemerkung

Kaum ein anderes Werk der Weltliteratur vereinigt so viele Spekulationen auf sich wie Franz Kafkas Brief an den Vater, wobei, so der Hinweis einiger Kritiker, nicht einmal sicher gesagt werden könne, ob es sich bei ihm überhaupt um ein literarisches Werk im eigentlichen Sinn, was auch immer ein literarisches Werk im einzelnen ausmacht, handeln könne, schließlich sei der Brief ja, wie Max Brod beteuert hat, dazu bestimmt gewesen, dem Vater tatsächlich übergeben zu werden. Andere Kritiker wiederum melden Zweifel an, ob es sich bei ihm um einen Brief im eigentlichen Sinn, was auch immer einen Brief im einzelnen ausmacht, handeln könne, schließlich sei er für einen Brief im herkömmlichen Sinn ungewöhnlich lang und auch sonst eher untypisch (sein Adressat kommt in ihm zu Wort, etc.).

Zu verworren scheinen in der Tat die Beziehungen zwischen biographischen Gegebenheiten und der Art und Weise ihrer Darstellung, als dass gesicherte Aussagen getroffen werden könnten. In diesem Streit über den Status des Werkes werden mehr Fragen aufgeworfen als tatsächlich beantwortet. Und das ist gut so, es bietet der Literaturwissenschaft und nicht nur ihr die Möglichkeit, die eigenen Muster, durch die Bedeutungen generiert werden, zu hinterfragen. Das könnte etwa Fragen, worin Literarizität in einem Fall wie Kafkas Brief an den Vater überhaupt bestehen könnte, worin sich spezifisch literarische Formen der Repräsentation von anderen unterscheiden, wo es Grenzbereiche gibt, genauso einschließen wie die Frage, ob nicht in der Annahme von Literarizität selbst möglicherweise problematische oder gar überholte (ideologische) Grundaussagen verborgen sind, die in der literaturwissenschaftlichen Praxis als solche oft unwahrgenommen bleiben.

Wenn man sich die zahlreiche Sekundärliteratur (auch die neuere) zum Brief an den Vater (in Auszügen) ansieht, wird man jedoch recht bald feststellen müssen, dass die Bereitschaft der Literaturwissenschaft zu gründlicher Selbstreflexion vielfach nicht oder allenfalls nur begrenzt zu bestehen scheint. Zu eindeutig und selbstverständlich scheinen häufig die Antworten der Kritiker auf Fragen bezüglich des Textes, wobei die Dogmatik in vielen Fällen bereits schon bei der Wahl des Ansatzes bzw. des Paradigmas beginnt, das dem Text zugrundegelegt wird. Es scheint sich geradezu ein 'common sense' dahingehend ausgebildet zu haben, dass insbesondere die Psychoanalyse Freuds einen sicheren Dekodierungsschlüssel bereit halte, mit dem der Text (mühelos) zu öffnen und seine Bedeutungen zu erschließen sei. Dabei verstört weniger die Wahl der Psychoanalyse als Untersuchungsmethode als vielmehr die Selbstverständlichkeit, mit der ihr (in vielen Fällen) diese Fähigkeit zugesprochen wird.

In den allzu schematischen Mustern, die dem Text in zahlreichen interpretatorischen Versuchen (und mehr als einen Versuch kann eine Interpretation ja letztlich nie darstellen) abgerungen werden, bleibt die Dynamik des Schreibens, die Problematik der Repräsentation bei Kafka oft völlig unberücksichtigt und unreflektiert, was schade ist, weil dadurch viele Dispositionen des Textes notwendigerweise im Dunkeln bleiben müssen. Ich hoffe, mit diesen Bemerkungen nicht den Eindruck eines über den Dingen stehen wollenden, besserwisserischen Nörglers zu erwecken, aber sie erscheinen mir vor allem auch deshalb wichtig zu sein, weil gerade Fragen der Repräsentation und Medialität im Text selbst auf eine sehr direkte Art und Weise thematisiert und noch mehr problematisiert werden.

Ich werde in meiner Untersuchung daher Aspekte behandeln, die den Akt der Darstellung und die im Kontext von Kafkas Brief spezifischen Bedingungen von Medialitäten, in deren Zusammenhang so etwas wie Darstellung ja erst erfolgen kann, betreffen, näher untersuchen. Es wird also im weitesten Sinne darum gehen, zu eruieren, unter welchen medialen Bedingungen Kommunikation im reichlich problematischen Vater-Sohn-Verhältnis erfolgt, ja erfolgen kann, welche Spuren von ihnen im Text (etwa auf der symbolischen Ebene) auszumachen sind und nicht zuletzt auch, welche poetologischen Implikationen sich daraus ergeben könnten. Der Fokus liegt daher auf dem Text als solchen, ich werde jedoch theoretische Positionen insbesondere aus dem Umfeld von Strukturalismus, Poststrukturalismus und Postmoderne in die Darstellung miteinbeziehen und nicht von einer dumpf-positivistischen 'closedness' des Textes ausgehen. Völlig aussparen werde ich hingegen biographistische Erklärungsmuster, zumal ich skeptisch bin, dass selbst dann, wenn der Brief tatsächlich bestimmt war, dem Vater übergeben zu werden und also ein 'eigentlicher' Brief ist, die biographische 'Faktenlage' allein ausreicht, um einem derart komplexen textuellen Gebilde auch nur annähernd gerecht werden zu können - mögen biographische Erklärungen im Einzelfall auch noch so plausibel und 'stimmig' scheinen.

Geschichten werden erzählt, um etwas zu vertreiben. Im harmlosesten, aber nicht unwichtigsten Falle: die Zeit. Sonst und schwerwiegend die Furcht. In ihr steckt sowohl Unwissenheit als auch, elementarer, Unvertrautheit. Bei der Unwissenheit kommt es nicht darauf an, dass vermeintlich besseres Wissen- wie es die Späteren rückblickend haben zu können glaubten - noch nicht zur Verfügung stand. Auch sehr gutes Wissen über Unsichtbares - wie Strahlungen oder Atome oder Viren oder Gene - macht der Furcht kein Ende. Archaisch ist die Furcht nicht so sehr vor dem, was noch unerkannt ist, sondern schon vor dem was noch unbekannt ist. Als Unbekanntes ist es namenlos; als Namenloses kann es nicht beschworen oder angerufen oder magisch angegriffen werden. (Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt/M, 1979, 409)

Es fiel auf sie Erschrecken und Furcht; vor deinem mächtigen Arm erstarrten sie wie die Steine (Das zweite Buch Moses [=Exodus], 15,16)

II.) Der Diskurs im Zeichen der Aporie. Diskursanalytische und subjekttheoretische Vorüberlegungen zu den kommunikativen Bedingungen im Brief an den Vater.

Kafkas Brief an den Vater beginnt, nicht untypisch für die Gattung 'Brief', mit einem Hinweis auf die Beweggründe, die zu seiner Verfassung geführt haben. (Äußerer) Anlass ist ein dem Brief vorangegangenes und letztlich desaströs verlaufenes (mündliches) Gespräch zwischen Vater und Sohn, in welchem der Sohn an der Beantwortung einer Frage des Vaters kläglich scheitert. Der erste Satz des Briefes rekurriert in Form indirekter Wiedergabe auf das mündliche Gespräch und nimmt so den abgebrochenen Diskurs erneut auf. Der Einleitungsabsatz setzt sich überdies in sehr expliziter Weise mit der Problematik der Kommunikation zwischen Vater und Sohn auseinander:

Liebster Vater, Du hast mich letzthin einmal gefragt, warum ich behaupte, ich hätte Furcht vor Dir. Ich wußte Dir, wie gewöhnlich nichts zu antworten, zum Teil eben aus der Furcht, die ich vor Dir habe, zum Teil deshalb, weil zur Begründung dieser Furcht zu viele Einzelheiten gehören, als dass ich sie im Reden halbwegs zusammenhalten könnte. Und wenn ich hier versuche, Dir schriftlich zu antworten, so wird es doch nur sehr unvollständig sein, weil auch im Schreiben die Furcht und ihre Folgen mich Dir gegenüber behindern und weil die Größe des Stoffs über mein Gedächtnis und meinen Verstand weit hinausgeht'.[1]

Es werden zwei Ursachen für das Scheitern im mündlichen Gespräch genannt: zum einen die Furcht vor dem Vater und zum anderen die vielen Einzelheiten, mit denen der Sohn im mündlichen Gespräch nicht adäquat umzugehen wußte, die aber zu einer tiefgründigen Beantwortung der Frage als unverzichtbar angesehen werden. Diese Argumente lassen einen Wechsel vom mündlichen zum schriftlichen Medium durchaus plausibel erscheinen. Sie evozieren das Bild eines verängstigten Sohnes, der seinem Vater Rede und Antwort stehen soll, dem es aber vor lauter Furcht und Nervosität so die Sprache verschlägt, dass er kein Wort herausbringt und es in der Folge daher vorzieht, an einem 'sicheren Ort', außerhalb der väterlichen Reichweite an die Beantwortung der Frage zu schreiten. (Auf die Bedeutung der Adverbialphrase 'wie gewöhnlich' in dieser Textstelle wird zu einem späteren Zeitpunkt noch gesondert eingegangen.)

Tatsächlich scheint der Sohn nach dem Wechsel von der dialogisch-mündlichen zur monologisch-schriftlichen[2] Kommunikationsform soweit gesammelt, dass er zur Sprache zurückfinden kann. Der Grund, weshalb dem so ist, scheint auf der Hand zu liegen: im Gegensatz zum mündlichen Gespräch ist er beim Schreiben des Briefes vom Vater (physisch) getrennt (sonst bräuchte er den Brief ja gar nicht erst zu schreiben), sodass von diesem im Schreiben keine den Kommunikationsakt unmittelbar bedrohende Gefahr ausgehen kann. Anders als in der harten, mündlichen, 'face-to-face'-Konfrontation kann der Sohn im Schreiben unbedrängt und besonnen daran gehen, an einer Antwort zu feilen, die der Frage auch in den entscheidenden Einzelheiten gerecht wird und den Vater in ihrer Akribie möglicherweise noch verblüfft. Doch der Text unterstützt diese Annahme keineswegs. Die 'Vorzüge' des schriftlichen Mediums tragen nicht wirklich zu einer Verbesserung der Situation bei, wie die Ausführungen zu den Bedingungen des Schreibens deutlich machen: zwar wird das Argument, die Einzelheiten nicht zusammenhalten zu können, gegen die schriftliche Diskursform nicht mehr eingewendet, doch die Furcht vor dem Vater bleibt auch im Schreibakt unvermindert bestehen. Anstatt dass der Sohn durch den Brief die Furcht aufarbeiten und dadurch wenigstens teilweise bewältigen könnte, holt ihn diese im Schreiben erst recht wieder ein. Der Hinweis auf die fatalen Bedingungen des Schreibens ist als präventive Desillusionierung und damit als Eingeständnis, dass der Brief schon gescheitert ist, bevor er überhaupt wirklich begonnen hat, aufzufassen. Es wird vorn herein kein Zweifel darüber gelassen, dass er sein Ziel, die Frage des Vaters vollständig zu beantworten, nur verfehlen kann. Begründen hieße ja (im wörtlichen Sinne) durch den Gegenstand hindurch gehen, um schließlich auf seine Ursache zu treffen. Insofern muss, damit man überhaupt von einer Begründung sprechen kann, diese auch vollständig sein. Das scheint jedoch völlig unmöglich, da der Sohn im Bestreben, den Gegenstand zu begründen, von diesem nicht, wie es erforderlich wäre, frei sondern - im Gegenteil - fatal umklammert ist. Die angestrebte Begründung muss folglich im Versuchsstadium steckenbleiben.

Wenn wir uns nun der sprachlichen Gestaltung dieses Einleitungsabsatzes zuwenden, so stellt sich insbesondere die Frage, weshalb er in einem derart feierlich-pathetischen, ja geradezu erhaben anmutenden Duktus gehalten ist, der angesichts der pragmatischen Intention doch einigermaßen unverhältnismäßig wirkt. Ein einfaches Bekenntnis des Scheiterns hätten wir möglicherweise in einer eher nüchternen Sprache erwartet. Wenn ich hier von rhetorischer Unverhältnismäßigkeit spreche, so beziehe ich mich insbesondere auf den letzten Satz des Absatzes: 'und weil die Größe des Stoffs weit über meinen Verstand und mein Gedächtnis hinausgeht'. In dieser Sequenz erscheinen die Begriffe Stoff, Verstand und Gedächtnis in einem geradezu mythologischen Kontext, zumal in ihr auf die Unmöglichkeit eines rationalen Diskurses hingewiesen wird.[3] Es wird eine unfaßbare Tiefe suggeriert, die es nicht in den Kategorien der Vernunft zu verstehen sondern irrational zu erahnen und ehrfurchtsvoll zu beschwören gilt. Man fühlt sich in dieser Passage stark an den von Adorno beschriebenen 'Jargon der Eigentlichkeit'[4] erinnert, der auf eine Gewalttat zurückzuführen sei, die sich Bild und Begriff ständig gegenseitig antun, wobei die 'Worte vor Ergriffenheit tremolieren, während sie verschweigen, worüber sie ergriffen sind'.[5] Wir erfahren in der Tat nichts darüber, worin die Furcht besteht, was die Folgen der Furcht sind und wie sie sich äußern, was die Furcht im Einzelnen auslöst, etc.. Aufschluß darüber scheint angesichts der pathosbeladenen Sprache schlechterdings unmöglich. Doch die Inflammation der Sprache währt nur von kurzer Dauer. Mit Beginn des zweiten Absatzes ändert sich der Duktus radikal, er wird nüchterner und erreicht jene für Kafka so typische unprätentiöse Klarheit. In dieser Differenzsituation ist die überbordende Sprache des Einleitungsabsatzes in jedem Fall als signifikante Textstrategie zu erachten. Die Frage, welche pragmatischen Funktionen sie nun tatsächlich erfüllen soll, ist eine komplexe. Wesentlich erscheint mir jedoch, dass durch sie nicht bloß die desolate psychische Verfassung des schreibenden Subjekts emphatisch hervorgehoben werden soll sondern dass in ihr gleichzeitig auch eine Poetik des Schreibens entworfen wird, die traditionelle Theorien das Erzählen betreffend in Frage zu stellen scheint. Wenn Kafka von der Größe des Stoffs spricht, durch welche das Erzählen in seiner Begrenzung erfahrbar wird, so erscheint die traditionelle Vorstellung, dass im Schreiben ein unbegrenzter Zugriff auf das durch es Dargestellte möglich sei, suspendiert. Zwar wird der Begriff 'Stoff' in allen möglichen Zusammenhängen verwendet, ohne dass damit gleich immer eine philosophische Konnotation intendiert wäre, doch in diesem den Akt der sprachlichen Darstellung betreffenden Zusammenhang scheint die Verwendung des Begriffs 'Stoff' sehr wohl in einem philosophischen Zusammenhang zu sehen. In der aristotelischen Philosophie wird vom 'Stoff' als der ersten Materie gesprochen, die noch völlig ungeformt und unbestimmt ist und gewissermaßen ihrer Formung harrt.[6]

Doch die Formung des Stoffes zu einer Erzählung des schreibenden Subjekts scheint bei Kafka unmöglich, weil die elementaren Voraussetzungen des Erzählens, i.e. Gedächtnis und Verstand (vernünftiges Bewußtsein), welche die Souveränität des Subjekts gegenüber dem Erzählten gewährleisten würden, am Stoff ihre Begrenzung erfahren, zumal sie in sich durch ihn begrenzt und von ihm umkreist sind. Somit erscheint nun das Erzählen selbst als Bestandteil des mythischen Narrativs, das es metanarrativ darstellen sollte, und nicht als dessen rationalisierende Instanz in einem dem Objektdiskurs ausgelagerten Metadiskurs. Das bedeutet nun konsequenterweise die Auflösung des Subjekts in seinen traditionellen konstitutiven Bezügen. Die für eine metasprachliche Darstellung notwendige Distanz zwischen dem darzustellenden Gegenstand und der darstellenden Sprache ist nicht gegeben. Die fatale Berührung zwischen dem (intendierten) Metadiskurs und dem Objektdiskurs (die Furcht) hat zur Folge, dass das Subjekt nun nicht mehr als Autorinstanz, die über dem Metadiskurs positioniert ist, gesehen werden kann. Das Darstellungssystem, die darstellende Sprache, ist selbst vom Objekt des angestrebten Metadiskurses kontaminiert, wodurch es unmöglich wird, dieses als Signifikat eines Metadiskurses zu konstituieren, also im wahrsten Sinne des Wortes zu re-präsentieren. Wir haben es hier mit einem Moment zu tun, das Jean-François Lyotard in seinem Buch Kindheitslektüren 'infantia' nennt.[7] Der Metadiskurs erscheint in der Verkehrung nunmehr als Manifestation des Objektdiskurses. Anders gesagt, indem Kafka zwanghaft versucht, einen Metadiskurs über den Furchtdiskurs zu führen, verfängt er sich umso stärker in diesem, da der Versuch, den Metadiskurses zu führen, die Unentrinnbarkeit aus dem Dilemma noch verschlimmert. Das Scheitern des Metadiskurses weist den Sohn schließlich als Unterworfenen unter den Diskurs der Furcht aus, der nun als das heimliche Subjekt erscheint, das die Führung des Metadiskurses an sich gerissen hat. Das Schreiben des Sohnes erscheint nicht mehr eigentlich als eine Praxis des Signifizierens sondern im Gegenteil selbst als Signifikat, als Bezeichnet-Werden vom objektsprachlichen Diskurs. Durch das Schreiben kann nichts anderes mehr bewirkt werden als eben die Manifestation der Furcht des Sohnes vor dem Vater. Man könnte es vielleicht folgendermaßen auf den Punkt bringen: Im Schreiben des Briefes bricht die Objektsprache in die Metasprache ein und usurpiert diese, was den Anschein erweckt, dass das Schreiben nun kein Schreiben über die Furcht sondern vielmehr ein Schreiben der (subjektgewordenen) Furcht ist. Der Diskurs der Furcht ist also nicht, wie beabsichtigt, als Dargestelltes sondern unmittelbar präsent. Es wäre dennoch verfehlt, würde man das Schreibdilemma einfach mit gängigen Phrasen wie denen vom 'Tod des Autors' oder dem 'Tod des Subjekts' abhandeln wollen, wenn es auch auf den ersten Blick so scheinen mag, als wäre das Subjekt zur Gänze ausgelöscht.

Selbstverständlich bedarf es der darstellenden Sprache, damit sich der Furchtdiskurs vermitteln kann und damit wiederum des Subjekts, doch in der Sprache ist dem Subjekt jede Möglichkeit, intentionales Bewußtsein zu vermitteln, genommen. Es handelt sich nur mehr dem Schein nach um einen Metadiskurs. In ihrem Buch Kafka. Für eine kleine Literatur betonen die Autoren Gilles Deleuze und Felix Guattari eben diesen Aspekt, wenn sie von der Pervertierung des Gattungsprinzips in Kafkas Briefen sprechen. Formal bleibe die klassische Subjektdualität zwar aufrechterhalten, aber die klassischen Subjektfunktionen seien gehörig aufgemischt und in ihr krasses Gegenteil verkehrt:

Zweifellos behalten sie [die Briefe; Anm.] als spezifische Gattung noch die Dualität der zwei Subjekte: Wir unterscheiden hier grob zwischen einem Subjekt der Aussage als Form des Ausdrucks, also einem ersten Subjekt, das die Briefe schreibt, und einem Subjekt des Ausgesagten als Form des Inhalts, also einem zweiten Subjekt, von dem der Brief spricht (auch wenn ich von mir spreche). Genau diese Dualität ist es nun aber, die Kafka pervers und teuflisch gebraucht: Statt, dass wie es normal wäre, das erste Subjekt den Brief benutzt, um sein eigenes Kommen anzukündigen, übernimmt bei ihm das zweite Subjekt die ganze, nun fiktiv oder scheinbar gewordene Bewegung.[8]

In der Umkehrung der traditionellen Bestimmung von Signifikat und Signifikant, Subjekt I und Subjekt II, wäre schließlich Kafkas Vorstellung des 'idealen Schreibens' erreicht, welches darin besteht, 'das Wort ganz mit sich zu erfüllen'.[9] Der Schrift wohnt, so Sokels Interpretation der Derridaschen Metaphysik der Präsenz, eine metaphysische Wehmut inne, welcher der Wunsch nach einer Überbrückung von sprachlichem Zeichen und außersprachlicher Wirklichkeit zugrundeliegt, wobei Derrida folgend die Wirklichkeit 'jenseits des sprachlichen Zeichens vorausgesetzt ist und das Zeichensystem Sprache nicht nur begrenzen, sondern auch erreichen soll'.[10] Dass aber gerade das Erreichen dieses 'idealen Schreibens' bei Kafka letztlich die Unmöglichkeit zu schreiben bedeuten, sei ironisch vermerkt, zumal der Metadiskurs das Opfer ist, das dem 'idealen Schreiben' dargebracht werden will.

Doch bei semiotischen Manövern dieser Art ist Vorsicht geboten, da durch sie möglicherweise fatale Mißverständnisse produziert werden könnten. Allzuleicht könnte der Eindruck entstehen, als wäre der Brief in erster Linie als diskurstheoretisches bzw. sprachphilosophisches Projekt angelegt, für das der Vater, nach allem was wir über ihn im Brief erfahren, wohl nur herzlich wenig Verständnis aufbringen würde. Man würde unberücksichtigt lassen, dass die Ausführungen Kafkas zum 'dilemma scribendis' in allem kausal an die individuelle Vater-Sohn-Beziehung, also an die unmittelbare Furcht des Sohnes vor dem Vater, gebunden sind.

Es wäre daher zu einfach, im Einleitungsabsatz die programmatische Exposition bzw. die Partitur des Projekts und im 'eigentlichen Brief'[11] die Umsetzung des Programmentwurfs zu sehen, so in der Art: 'Wenn Du den Brief liest, sollst Du sehen, wie mich die Furcht Dir gegenüber behindert'. Das mag als Projektentwurf vielleicht ganz spannend klingen - das Problem dabei ist freilich, dass im weiteren Verlauf des Briefes eine Behinderung des Schreibens durch die Furcht vor dem Vater nicht wirklich absehbar ist, das Tremolieren der Worte dringt, könnte man spöttisch anmerken, nicht bis zum Rezipienten durch. (Überhaupt würde man dem Sohn nach all den Klagen, die er zu Beginn äußert, jene schonungslose Offenheit im weiteren Brief sowohl gegenüber dem Vater wie auch gegenüber sich selbst möglicherweise gar nicht mehr zutrauen.) Dennoch ist nicht ausgeschlossen, dass, obschon auf der Ebene des Textes von einer Behinderung des Schreibens durch die Furcht vor dem Vater vordergründig nichts zu bemerken ist, eine solche (unsichtbar, in der Tiefenstruktur des Erzählens) besteht. Das würde freilich einen Zynismus ganz besonderer Art bedeuten: nicht nur, dass den Sohn die Furcht vor dem Vater (auf welche Weise immer) im Schreiben behindert und quält, er könnte, weil er diese nicht rational zu vermitteln weiß, zu allem Überdruß gar noch als neurotischer Hypochonder oder als eingebildeter (Schreib)Kranker erscheinen. Er wäre somit gleich in doppelter Hinsicht gedemütigt.

Man kann nun dem 'Versagen' des Sohnes, die Behinderung des Schreibens durch die Furcht vor dem Vater nicht rational darstellen zu können, freilich auch einen gänzlich anderen interpretatorischen Grundansatz zugrundelegen und in ihm taktisches Kalkül erblicken. Dafür lassen sich einige Indizien finden. Wenn man sich das Ende des Briefes genauer ansieht, könnte man den Eindruck erhalten, als würde es den Einleitungsabsatz in seiner Programmatik aufheben, zumal der Sohn in den letzten Zeilen ein vorsichtig positives Fazit zieht, wenn er davon spricht, dass durch den Brief seiner Meinung nach 'doch etwas der Wahrheit so sehr Angenähertes erreicht [ist], dass es uns beide ein wenig beruhigen und Leben und Sterben leichter machen kann'[12]. Von einer vollständigen Begründung der Ausgangsfrage ist zwar auch hier nicht die Rede, aber ein im Einleitungsabsatz noch gänzlich ausgeschlossen scheinender Fortschritt wäre dennoch erreicht. Das gefinkelte taktische Manöver würde also darin bestehen, dass der Sohn an den Beginn (taktisch) ein Horrorszenario setzt, um es am Ende dann doch wenigstens ansatzweise zu dekonstruieren. In einer solch raffinierten Inszenierung würde der Anschein erweckt werden, als wäre dem Sohn im Schreiben geradewegs ein Triumph gelungen, weil er das vermeintlich Unbezwingbare doch bezwungen hat. Auch diese Lesart mag ihre Reize haben, doch ist auch sie nicht wirklich eine befriedigende, zumal sie nur ex negativo bestehen könnte. Die Interpretation des Einleitungsabsatzes als kalkulierte Inszenierung hieße in letzter Konsequenz nichts anderes, als ihn als 'verlogenes' Mittel zum Zweck einer Inszenierung abzustempeln und dadurch gerade nicht ernst zu nehmen. Insbesondere biographistisch motivierte Deutungen neigen zu dieser Lesart.[13]

Doch welche der beiden Lesarten ist nun zu präferieren, wenn beide, obwohl oder gerade weil sie völlig konträr gelagert sind, potentiell möglich und plausibel scheinen? Diese Frage lässt sich auf der Ebene des Textes nicht endgültig klären und läuft somit auf eine Aporie hinaus. Die Herstellung der pragmatischen Beziehung zwischen dem Einleitungsabsatz und dem 'eigentlichen Brief' obliegt letztlich dem Leser, wobei diese Entscheidung nicht zuletzt von den Bedingungen des eigenen Dekodierungssystem abhängig ist.[14]

Ich meine, dass gerade in diesem unbequemen, aporetischen Moment eine Stärke des Briefes liegt, denn es nötigt den Leser dazu, den eigenen Lektüreprozeß in die Reflexion miteinbeziehen.

Die Verfahren der Produktion und der Rezeption erscheinen in gewisser Hinsicht parallelisiert: sowie das Schreiben autoreflexiv angelegt ist (die Behinderung des Schreibens durch die Furcht wird im Schreiben thematisiert), so muss sich nun auch der Leser selbst (implizit) zum Gegenstand seiner Tätigkeit machen, wodurch er geradewegs zu einem Paradebeispiel für den von Umberto Eco analysierten Lector in fabula wird.[15]

Nachdem ich mich bisher vor allem um eine semiotische und eine diskurspragmatische Analyse des Einleitungsabsatzes bemüht habe, die (enttäuschenderweise oder auch nicht) in eine Aporie gemündet ist, erscheint es nun - unter dem Aspekt, dass ein weitestgehend textimmanentes Verfahren unter dem rigorosen Ausschluß biographistischer Deuteleien jeder Art, gewählt wurde - sinnvoll, die Frage nach der linguistischen Beschaffenheit des Einleitungskapitels näher zu beleuchten, um mehr über die Anlegung des Vater-Sohn-Dilemmas im Text zu erfahren. (Da der Aspekt des Jargons bereits zuvor behandelt worden ist, wird auf ihn nur mehr dort, wo es der interpretatorische Zusammenhang unmittelbar erfordert, eingegangen.[16])

Kehren wir noch einmal zurück zum ersten Satz des Briefes: 'Liebster Vater, Du hast mich letzthin einmal gefragt, warum ich behaupte, ich hätte Furcht vor Dir'. Dieser Satz steht in der Form indirekter Wiedergabe, er ist also, verkürzt gesprochen, die (neutrale) Wiedergabe einer Aussage, die in direkter Rede erfolgt ist. Aus ihr lässt sich wiederum die ursprüngliche Aussage, also die Frage des Vaters, erschließen, die nun (logisch abgeleitet) nicht 'Warum hast du Furcht vor mir' sondern 'Warum behauptest Du, du hättest Furcht vor mir' lautet. Ihr wiederum geht die Aussage des Sohnes 'Ich habe Furcht vor Dir' voraus, wie sich aus dem Gebrauch des verbum dicendi 'behaupten' ersehen lässt. Dieser textlinguistische Exkurs mag banal und redundant erscheinen, und doch werde ich den Verdacht nicht los, als würden manche Interpreten diesen (Detail)Aspekt übersehen oder wenigstens für irrelevant erachten. Die Nuance ist in pragmatischer Hinsicht nicht unbedeutend. Wenn die Frage des Vaters (rekonstruiert) lauten würde, 'Warum hast du Furcht vor mir', dann würde nämlich der Vater als Aussagesubjekt die Existenz der Furcht des Sohnes vor ihm implizit beglaubigen. Im Fall 'Warum behauptest Du ....' ist dies jedoch nicht der Fall. Der Gebrauch des verbum dicendi schafft Distanz zwischen dem Subjekt des Fragesatzes und der Aussage, auf welche die Frage referiert. Halten wir vorläufig fest: in der Frage ist die Furcht des Sohnes vor dem Vater nicht eine vom Subjekt des Fragesatzes in all ihren 'Geltungsansprüchen'[17] anerkannte Tatsache, sondern auf sie wird (lokutionär) nur als Gegenstand einer vorausgehenden Aussage bezug genommen. Diesem Sprechen wird das Sprachspiel 'Behaupten' zugewiesen, was die Distanz noch größer erscheinen lässt, zumal in einer Behauptung ja zunächst die einzige Bürgschaft des Referenten das Sprechen von ihm ist. Auch wenn es sich nicht mit völliger Bestimmtheit sagen lässt, so erscheint es zumindest plausibel, als wollte der Vater mit seiner Frage (illokutionär) die Rechtmäßigkeit der vorangegangenen Aussage 'Ich habe Furcht vor Dir' anzweifeln und damit (unausgesprochen) den Vorwurf zum Ausdruck bringen wollen, dass sich der Sohn mit seiner Aussage ihm gegenüber unaufrichtig verhalten hat und verhält (man beachte den präsentischen Aspekt im Relativsatz), noch dazu wo der Objektsatz im Konjunktiv II steht. Der Vorwurf der Unaufrichtigkeit und des Schmarotzertums wird am Ende des Briefes denn auch ganz explizit erhoben, wenn der Vater (durch den Sohn) sein Gesamturteil über den Brief ausspricht.[18]

Es ist jedoch auch eine andere Lesart möglich: ich bin bisher davon ausgegangen, dass der erste Satz des Briefes eine neutrale Wiedergabe der Frage des Vaters ist (neutral deshalb, weil sich das Aussagesubjekt in einer bloßen Wiedergabe nicht kommentierend positioniert). Dem muss jedoch nicht zwangsläufig so sein, wenn man sich das finite Verb näher ansieht, das sowohl indikativisch wie konjunktivisch aufgefaßt werden kann. Es bleibt letztlich ambivalent, wer die Bestimmung der Aussage 'Ich habe Furcht vor Dir' als 'Behauptung' vornimmt. So es sich im finiten Verb ('ich ... behaupte') um den Konjunktiv I handelt, wäre - den Gesetzen der consecutio temporum, an die sich Kafka in der Regel strikt hält, folgend - die festlegende Instanz der Vater. So es sich aber um den Indikativ handelt, wäre die bestimmende Instanz der Sohn. Im ersten Fall wäre nichts darüber zu erfahren, ob der Sohn die Einschätzung des Vaters teilt oder nicht, während im zweiten Fall eindeutig geklärt wäre, dass beide Kommunikationspartner in der Einschätzung der Beurteilung der referierten Aussage als 'Behauptung' übereinstimmen. Die Betonung der sprachlichen Ebene gegenüber der inhaltlichen wäre eine noch emphatischere, weil das Sprachspiel 'Behaupten' nun selbst ins Zentrum rückt. Auch diese Frage (Konjunktiv / Indikativ) ist nicht mit völliger Bestimmtheit zu klären, weshalb wir auch hier von einer Aporie auszugehen haben.

Indem die Frage des Vaters in jedem Fall, also unabhängig davon, ob man sich letztlich für die Lesart 'Konjunktiv' oder 'Indikativ' entscheidet, nicht zuletzt auch auf die Ebene der Sprache gerichtet ist, wird der kontextuelle Rahmen des Briefes erweitert. Es wird bereits im aporetischen Moment als solchem deutlich gemacht, dass in ihm nicht 'bloß' ein klassischer Vater-Sohn-Konflikt verhandelt wird sondern vor allem auch ein sprachlicher, dem paradoxer- und fatalerweise wiederum nur in der Sprache begegnet werden kann.

In ihrer illokutionären Aussage impliziert die Frage, dass sie auf einen argumentativ-beweisenden, legitimatorischen Antwortdiskurs zielt. Es gilt, die zwischen den Kommunikationspartnern nicht gleichermaßen anerkannten Geltungsansprüche der der Frage vorausgehenden Aussage 'Ich habe Furcht vor Dir' nachträglich zu legitimieren. Indem der Sohn sich vornimmt, die Frage des Vaters zu beantworten, nimmt er auch die (implizite) Aufforderung zu einem begründenden, logisch-argumentativen Diskurs und den damit verbunden Postulaten an.[19] Doch der angestrebte logisch-argumentative Diskurs wird gleich ad absurdum geführt, denn der Sohn wiederholt im Verweis auf die Schreibproblematik einfach die Behauptung, die er in ihren Geltungsansprüchen dem Vater gegenüber eigentlich erst legitimieren müsste und verabsolutiert sie dadurch: 'weil auch im Schreiben die Furcht und ihre Folgen mich Dir gegenüber behindern'. Doch eine bloße Verdoppelung macht die inkriminierte Aussage auch nicht legitimer, eher scheint das Gegenteil der Fall zu sein. Doch - und das ist das Besondere an dieser Verdoppelung - die Wiederholung der Furchtbehauptung (Furchtbehauptung II)[20] ist hier keinesfalls einfach eine dogmatische Affirmation ('es ist so, weil es so ist') der Furchtbehauptung I, die Gegenstand der sprachlichen Verhandlung ist. Die neuerliche Behauptung der Furcht (Furchtbehauptung II) geht über die Furchtbehauptung I insofern hinaus, als sie sich auf die Referenzebene bezieht und andeutet, dass der intendierte argumentative Diskurs aufgrund seiner Verquickung mit dem Objekt der Furchtbehauptung I nicht möglich ist.

Gravierender als die erste ist die zweite Furchtbehauptung, da durch sie die konventionellen Gesetze der begründenden Sprache als mit den kommunikativen Bedingungen unvereinbar zurückgewiesen werden. Es handelt sich dabei um einen Absolutismus der Sprache, welcher darin besteht, dass die Furchtbehauptung I, obwohl sie, wie der Sohn implizit einräumt, im Status der Behauptung einzementiert bleiben muss, nicht infolge eines logisch-argumentativen Diskurses als illegitim zurückgewiesen werden kann, weil ihre logisch-argumentative Legitimation über den Umweg der Furchtbehauptung II unmöglich wird. Durch die Furchtbehauptung II wird die Furchtbehauptung I gestützt, wobei die Furchtbehauptung II konstitutiv wiederum die Furchtbehauptung I voraussetzt.

Es steht völlig außer Streit, dass die von Kafka eingeschlagene 'Legitimationsstrategie', welche die Geltungsansprüche der beiden Furchtbehauptungen völlig verabsolutiert ohne sie diskursiv zu legitimieren, eine höchst problematische ist, da die Behauptungen so raffiniert angelegt und ineinander verschachtelt sind, dass sie, so man eine der beiden als potentiell legitim anerkennt, nicht mehr nach den Regeln eines logischen Diskurses falsifiziert werden können.

Man könnte nun zur Ansicht gelangen, dass die beiden Furchtbehauptungen mit Absicht so angelegt sind, dass sie sich perfekt überlagern, um nicht widerleg- und falsifizierbar zu sein. Unter dieser Annahme könnte man gleich beide (als kalkulierte Konstrukte) als völlig illegitim zurückweisen. Einer solchen Entscheidung wäre die Regel zugrundegelegt, dass eine Aussage nur dann ernst zu nehmen ist, wenn sie der Sprecher auch unter Beachtung der Spielregeln eines logisch-argumentativen Diskurses zu begründen weiß. Und doch dürfen wir nicht außer acht lassen, dass derlei normative Anforderungen immer pragmatische Konventionen, sind, durch welche Kommunikation nach festgelegten Spielregeln geregelt erfolgen kann, und nicht etwa ontologische Gegebenheiten. Anders gesagt, nur weil sich eine Sache nicht in der Form konventionalisierter Beweisverfahren und Darstellungsmechanismen beweisen lässt, - wobei Beweisen immer auch erfordert, den Beweis so zu führen, dass durch ihn die Regeln des eingesetzten Beweisverfahrens nicht angetastet werden - heißt das noch nicht zwingend, dass die Sache deshalb an sich illegitim wäre. Die Nicht-Beweisbarkeit bedeutet zunächst nur, dass die Sache im Zuge des spezifischen Beweisverfahrens nicht bewiesen ist, wobei infolge einer ethnozentrischen Verabsolutierung der dem Beweisverfahren zugrundegelegten Konventionen und Grundaussagen tatsächlich der Eindruck entstehen mag, als wäre die Sache an sich illegitim.[21] Auf Kafkas Brief bezogen bedeutet das nun, dass wir trotz aller (berechtigter) Skepsis gegen die Verabsolutierungsstrategie, die mit den beiden Furchtbehauptungen verbunden ist, die Möglichkeit in Betracht ziehen müssen, dass die beiden Furchtbehauptungen an sich legitim sein können, dass also eine Transformation des Sprachspiels 'Behaupten' in ein anderes im Zuge eines logisch-argumentativen Diskurses tatsächlich nicht möglich ist. Auch hier haben wir es wiederum mit einer Aporie zu tun, da wir auf der Ebene des Diskurses nicht verläßlich klären können, ob die beiden Furchtbehauptungen an sich legitim sind oder 'nur' taktisches Kalkül. Auch hier gilt, dass die Entscheidung darüber, ob die eine oder die andere Variante zu präferieren ist, einzig und allein dem Leser obliegt.

Es gibt keine verbindliche Urteilsregel mehr, nach welcher dieser Konflikt bezüglich der Legitimität der Furchtbehauptungen in den Kategorien eines Metadiskurses, als, um es in der Terminologie Jean-François-Lyotards auszudrücken, Rechtsstreit (litige) verhandelt werden könnte.[22]

Die Ausrichtung als aporetische Konstruktion lässt den Einleitungsabsatz nun in einem postmodernen Gewand erscheinen. Ein fundierter Wissens- und Erkenntnisdiskurs scheint unmöglich geworden,[23] anstelle des intendierten homogenen Diskurses, der alles auf sich vereint, zerfällt der Diskurs im Schreiben in nicht mehr zu einende bzw. eindeutig zu bestimmende Sprachspiele, das von Lyotard fünfzig Jahre später konstatierte Ende der großen (Meta)Erzählungen scheint zumindest in Ansätzen angedeutet.

Deine äußerst wirkungsvollen, wenigstens mir gegenüber niemals versagenden rednerischen Mittel bei der Erziehung: Schimpfen, Drohen, Ironie, böses Lachen und - merkwürdigerweise Selbstbeklagung (Franz Kafka, Brief an den Vater, a.a.O., 21)

III.) Die Rede - der vollkommene Körper / der ausgelöschte Körper

Ich habe im vorigen Kapitel darauf hingewiesen, dass der Einleitungsabsatz nicht zuletzt als sprachtheoretische bzw. poetologische Auseinandersetzung (mit Affinitäten zur Postmoderne) angelegt ist, wobei in diesem Zusammenhang aber immer die (katastrophische) Vater-Sohn-Beziehung mitzuberücksichtigen ist.

Ich werde mich in diesem und im nächsten Kapitel darum bemühen, die Frage nach den medialen Konstitutionsprinzipien und -bedingungen im Zusammenhang der unterschiedlichen Identitätskonstruktionen von Vater und Sohn zu thematisieren sowie auf symbolische Überlagerungen und daraus resultierende Implikationen einzugehen.

Beginnen wir chronologisch, also mit dem Medium der Rede. Das Versagen, eine Frage des Vaters im Reden nicht beantworten zu können, ist für den Sohn nichts Außergewöhnlich mehr, es ist im Laufe der Zeit vielmehr zur Regel geworden: 'Ich wußte Dir wie gewöhnlich nichts zu antworten'.[24] Der aktuelle Anlass, die konkrete Frage des Vaters, scheint somit gar nicht so sehr die eigentliche Ursache für die Sprachlosigkeit des Sohnes zu sein, vielmehr scheint umgekehrt das aktuelle Versagen eine generelle, über den unmittelbaren Anlass hinausgehende Regel zu bestätigen. Durch diese Regel, so der logische Schluß, muss es dem Sohn geradezu versagt bleiben, dem Vater im Medium der Rede antwortend gegenübertreten zu können. Die Gründe für die offenkundige Sprachlosigkeit des Sohnes erfährt man ein paar Seiten später, wenn er sich als sprechgestörtes Individuum beschreibt und diese Störung zunächst auf die dominante Redeweise des Vaters zurückführt, die ein normales Zwiegespräch nicht zulasse. Dem Vater sei es, so Kafka, 'von vornherein nicht möglich, ruhig über eine Sache zu sprechen',[25] wenn er (a) mit ihr nicht einverstanden sei, (b) keine Meinung zu ihr habe oder (c) die Sache nicht von ihm stamme:[26] 'Dein herrisches Temperament lässt das nicht zu',[27] so der knappe Kommentar. Die Gegenwart des sprechenden Vaters gerät dem Sohn gleichsam zur verbietenden Gegenwärtigkeit, i.e. zum Verbot eigenen Sprechens, was fatale Auswirkungen nach sich zieht:[28] der Sohn geht nach und nach der gesprochenen Sprache verlustig. Im Brief wird die nachhaltige Degenerierung der Sprechfähigkeit bis hin zur völligen Zerstörung in ihrer Genese rekonstruiert. Dieser Prozeß verläuft in etwa so: in der Kindheit wird dem Sohn der Gebrauch der Sprache verboten, was zunächst die Verkrüppelung der Rede (Stottern) zur Folge hat, ihr folgt als (allerletztes) Aufbäumen dagegen das Schweigen als Ausdruck des Trotzes, bis schließlich die Redefähigkeit endgültig zum Erlischen gebracht ist, sodass das Schweigen am Ende ein gewaltsam erzwungenes und nicht mehr der Ausdruck intentionalen Subjektbewußtseins ist:

Die Unmöglichkeit des ruhigen Verkehrs hatte noch eine weitere eigentlich sehr natürliche Folge: ich verlernte das Reden. Ich wäre ja wohl auch sonst kein großer Redner geworden, aber die gewöhnlich fließende menschliche Sprache hätte ich doch beherrscht. Du hast mir aber schon früh das Wort verboten, Deine Drohung: "kein Wort der Widerrede!" und die dazu erhobene Hand begleiten mich schon seit jeher. Ich bekam von Dir - Du bist, sobald es um Deine Dinge geht, ein ausgezeichneter Redner - eine stockende, stotternde Art des Sprechens, auch das war Dir noch zu viel, schließlich schwieg ich, zuerst vielleicht aus Trotz, dann weil ich vor Dir weder denken, noch reden konnte.[29]

Wie sehr Vater und Sohn einander entfremdet sind, merkt man in diesem Textausschnitt schon allein daran, dass auf der einen Seite die Sprechfähigkeit des Vaters, der, wenn es um seine eigenen Dinge sogar ein ganz ausgezeichneter Redner ist, hervorgehoben wird, während die des Sohnes in ihrem Niedergang gezeigt wird. Dieses totale Ungleichgewicht hat große symbolische Aussagekraft: hier der übermächtige Vater, der das Territorium der Rede besetzt hält, dort der unterlegene Sohn, für den in dem vom Vater okkupierten Territorium kein Platz ist.[30] Wo der Vater ist, darf der Sohn nicht sein, aus seinem Reich ist er gnadenlos verbannt. Diese Verbannung kommt in letzter Konsequenz einer Auslöschung des Sohnes vor dem Vater gleich, da es außerhalb der Sprache (das trotzige Schweigen wäre als Ausdruck intentionalen Bewußtseins im weitesten Sinne innersprachlich zu sehen) keine Möglichkeit gibt, dem Vater intentionales Subjektbewußtsein entgegenzubringen. 'Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt',[31] so lautet einer der berühmtesten Sätze aus Wittgensteins Tractatus-logico-philosophicus, in dem das Dilemma bei Kafka in seinem vollen Ausmaß nachvollziehbar wird: die Verbannung aus dem Sprechen kommt einer Verbannung ins Nichts gleich, zumal die Macht des Vaters unbegrenzt scheint und es also keinen 'Ort' mehr gibt, an den sich der Sohn als Subjekt zurückziehen könnte:

Du sagtest: "Kein Wort der Widerrede!" und wolltest damit die Dir unangenehmen Gegenkräfte in mir zum Schweigen bringen, diese Einwirkung war aber für mich zu stark, ich war zu folgsam, ich verstummte gänzlich, verkroch mich vor Dir, und wagte mich erst zu regen, wenn ich so weit von Dir entfernt war, dass Deine Macht, wenigstens direkt, nicht mehr hinreichte. Du aber standst davor und alles schien Dir wieder "contra" zu sein, während es nur selbstverständliche Folge Deiner Stärke und meiner Schwäche war.[32]

Dem Sohn ist jede Möglichkeit genommen, vermittels der Sprache einen Identitätsdiskurs zu führen und seine Differenz zum Vater zu behaupten. Sein Dasein besteht einzig und allein darin, Zeichen des väterlichen Verbotsdiskurses zu sein.

Kafka identifiziert die Erinnerung an die Kindheit mit dem Bild des polternden Vaters, der das Verbot, 'kein Wort der Widerrede', verkündet, welches durch die erhobene Hand noch an Bedrohlichkeit gewinnt. Eine Erinnerung an einen Zeitpunkt vor dem Verbot gibt es nicht, die 'imago' des drohenden Vaters ist als Ursprung allen Erinnerns schon immer da und dem Sohn als Bewußtsein völliger Unterwerfung vor dem Vater konstitutiv eingeschrieben. Der bedrohliche 'imaginäre Vater'[33] (Lacan) erscheint somit als das konstitutive Prinzip des Bewußtseins überhaupt. Das Sprechverbot bedeutet in letzter Konsequenz die völlige Unmöglichkeit, Subjekt zu sein: 'dann weil ich vor Dir weder denken noch reden konnte'. Die Unmöglichkeit des Subjektseins möchte ich im folgenden 'das Gesetz' nennen (in Lacanianischer Tradition könnte man auch vom symbolischen Vater sprechen)[34], wenn ich mir auch dessen bewußt bin, dass gerade der Begriff des Gesetzes (ähnlich wie der der Schuld) bei Kafka ein unglaublich vielschichtiger und von allen möglichen Interpreten in alle möglichen und unmöglichen Richtungen ausgedeuteter ist.

Am Ende ist dem Sohn also sogar die Möglichkeit genommen, im Denken als der 'stummen Rede' intentionales Bewußtsein zu entwickeln und sich so seiner Subjektivität zu versichern.[35] War zuvor noch ein Diskurs des Schweigens als Ausdruck des Trotzes (Schweigen I) möglich, so ist das erzwungene Schweigen (Schweigen II), i.e. das nicht-mehr-Sprechen-Können, nicht mehr diskursiv. Im Schweigen II ist die Auslöschung des Sohnes als Subjekt schließlich eine totale. Es gibt keine Wahl mehr zwischen Reden (und damit gegen das Verbot der Widerrede zu verstoßen und sich Konsequenzen einzuhandeln) oder Schweigen I. Es bleibt nur mehr das Schweigen II übrig. Damit ist der Sohn nicht mehr bloß äußerlich (dem Vater gegenüber) sondern auch innerlich (sich selbst gegenüber) dem Gesetz unterworfen. Es ist unhintergehbar geworden, da es nicht mehr gebrochen werden kann. So gesehen, erscheint es nur konsequent, wenn Kafka im Einleitungsabsatz notiert, dass er dem Vater 'wie gewöhnlich nichts zu antworten' wußte. Vor diesem Hintergrund ist die Frage nach der Macht anders zu beantworten, als es gängige Interpretationsmuster, die vom allmächtigen, unterdrückenden Vater und vom Sohn als dem Opfer der väterlichen Gewalt ausgehen, nahelegen. Das Gesetz bedarf gar nicht mehr seiner Überwachung, da es durch die Verlagerung in das Subjekt hinein unumstößlich geworden ist. Komplexer wird die Sache, wenn wir uns der Frage nach dem 'Exekutor' des Gesetzes zuwenden. Auf den ersten Blick würde man wahrscheinlich eindeutig den Vater als solchen identifizieren wollen. Doch so eindeutig ist die Sache nicht: der Schrecken, der sich im Sohn einstellt, wird zwar vom Vater ausgelöst, aber zur Geltung kommt es erst infolge des nicht-mehr-Sprechen-und-Denken-Könnens als Bewußtsein des Ausgelöscht-Seins vor dem Vater. Soweit geht aber das Widerredeverbot an sich gar nicht. (Der bloße Hinweis, dass infolge des väterlichen Verbotes mehr bewirkt wird als beabsichtigt erscheint in diesem Zusammenhang zu verkürzt.). Das Gesetz konstituiert sich in dem Moment, wo der Sohn vor sich selbst die eigene Nichtigkeit im Angesicht des Vaters dem Vater erkennen muss. Das hört sich jetzt vielleicht verwirrend an, die folgende (knappe) Diskussion der Pawlatsche-Episode,[36] in der eben dieses Moment zum Tragen kommt, wird den Punkt hoffentlich klar(er) machen können:

Nachdem einige starke Drohungen nicht geholfen hatten, nahmst Du mich aus dem Bett, trugst mich auf die Pawlatsche und ließest mich dort allein vor der geschlossenen Tür ein Weilchen im Hemd stehn. [...] Noch nach Jahren litt ich unter der quälenden Vorstellung, dass der riesige Mann, mein Vater, die letzte Instanz, fast ohne Grund kommen und mich in der Nacht aus dem Bett auf die Pawlatsche tragen konnte und dass ich also ein solches Nichts für ihn war.[37]

In dieser Passage wird deutlich, dass der Sohn nicht eigentlich unter der Ausübung der väterlichen Gewalt leidet sondern unter der Vorstellung, ein Nichts für ihn zu sein. Er wird nicht geschlagen oder auf irgendeine andere Weise vom Vater (körperlich) gezüchtigt sondern er ist - das ist die andere Seite der Grausamkeit - auf der Pawlatsche der ihm vom Vater zugedachten Nichtigkeit überlassen. Er verspürt also nicht den Terror des Vaters sondern vielmehr die eigene Hilf- und Machtlosigkeit. (Auf die Pawlatsche-Episode wird in einem anderen Zusammenhang noch einzugehen sein, weshalb ich es vorläufig bei dieser Andeutung belassen möchte.) Kehren wir zurück zur Machtfrage im Zusammenhang des Gesetzes. Ich habe vorher darauf hingewiesen, dass es einer repressiven Überwachung des Gesetzes nicht bedarf, weil es ihm Sohn so tief verwurzelt ist, dass es ohnehin nicht angefochten werden kann. Dennoch scheint aber eine gewisse Form repressiver Machtausübung vonnöten, damit es überhaupt zu dieser geradezu sakrosankten Inthronisierung des Widerredeverbots und in weiterer Folge des Gesetzes kommen kann. Das Verbot wird in einer beinahe theatralischen Inszenierung vermittelt. Zur Sprache gesellt sich die erhobene Hand, wodurch es noch bedrohlicher und furchteinflößender wirkt. Die erhobene Hand ist dabei Zeichen der Bereitschaft des Vaters, gegebenenfalls die repressive Seite der Macht real zum Vorschein kommen zu lassen. Indem das Symbol (die erhobene Hand) in Anspielung auf die real-repressive Macht anspielt repräsentiert es die festgeschriebene Machtbeziehung, erstickt sie das Bedürfnis, gegen das Verbot aufzubegehren, schon im Keim, so ein solches überhaupt aufkommt. Über die symbolische Repräsentation braucht die real-repressive Macht somit gar nicht erst zur Anwendung gebracht zu werden oder expressis verbis angedroht zu werden.

In Kafkas Brief wird die Machtausübung des Vaters gegenüber dem Sohn fast ausschließlich auf der Ebene der symbolischen Repräsentation vollzogen, in Form tatsächlicher physischer Gewalt tritt sie nie wirklich in Erscheinung. Ihre real-repressive Seite besteht zumeist nur als theoretische Möglichkeit, wobei der Sohn freilich dessen gewahr sein muss, dass dem symbolischen gegebenenfalls sehr bald der reale Ausdruck der Macht nachfolgen könnte. In der Ankündigung der real-repressiven Macht besteht schließlich die gesamte Wirkungsmächtigkeit der symbolischen Machtausübung. Diese Annahme wird in Kafkas Brief jedoch insofern ein wenig relativiert, als der Sohn in der Erinnerung an die Kindheit davon spricht, dass eine tatsächliche Überschreitung der symbolischen Machtausübung hin zur realen, wenn es auch noch so sehr danach aussehen mochte, eher unwahrscheinlich gewesen wäre:

Schrecklich war mir zum Beispiel dieses: "ich zerreiße Dich wie einen Fisch", trotzdem ich ja wußte, dass dem nichts Schlimmeres nachfolgte (als kleines Kind wußte ich das allerdings nicht), aber es entsprach fast meinen Vorstellungen von Deiner Macht, dass Du auch das imstande gewesen wärest. Schrecklich war es auch, wenn Du schreiend um den Tisch herumliefst, um einen zu fassen, offenbar gar nicht fassen wolltest, aber doch so tatest und die Mutter einen schließlich scheinbar rettete.[38]

Die Feststellung des Sohnes, dass er ab einem gewissen Alter wußte, es würde nichts Schlimmeres nachfolgen, lässt die symbolische Machtausübung deshalb aber um nichts weniger wirksam erscheinen, weil die unmittelbare Befürchtung der realen Machtausübung durch die Vorstellung ihrer prinzipiellen Möglichkeit ersetzt wird. In ihr bricht der imaginäre Vater durch, wir haben es gewissermaßen mit einem Umspringbild zu tun.

Es wäre demnach ein großes Mißverständnis, würde man in der symbolischen Machtausübung an sich einen wirkungslosen Bluff sehen wollen. Das Gegenteil ist der Fall. Der Schrecken des Sohnes vor dem Vater gründet sich nämlich gar nicht so sehr auf der Befürchtung oder der Erwartung realer Gewalt, er stellt sich zu einem Gutteil auf der symbolischen Ebene selbst ein, die sich gegenüber der realen fast noch schlimmer ausnimmt:

Es ist auch wahr, dass Du mich kaum einmal wirklich geschlagen hast. Aber das Schreien, das Rotwerden Deines Gesichts, das eilige Losmachen der Hosenträger, ihr Bereitliegen auf der Stuhllehne, war für mich fast ärger. Es ist, wie wenn einer gehängt werden soll. Wird er wirklich gehenkt, dann ist er tot und es ist alles vorüber. Wenn er aber alle Vorbereitungen zum Gehenktwerden miterleben muss und erst wenn ihm die Schlinge vor dem Gesicht hängt, von seiner Begnadigung erfährt, so kann er sein Leben lang daran zu leiden haben. Überdies sammelte sich aus diesen vielen Malen, wo ich Deiner deutlich gezeigten Meinung nach Prügel verdient hätte, ihnen aber aus Deiner Gnade noch knapp entgangen war, wieder nur ein großes Schuldbewußtsein an. Von allen Seiten her kam ich in Deine Schuld.[39]

Dieser Passage ist überdies zu entnehmen, dass die symbolische Machtausübung im Gegensatz zur realen ihre zerstörerische Kraft von innen her entfaltet, indem sie dem Sohn ein Bewußtsein der Schuld einschreibt. Die vermeintliche Gnade verstärkt somit in letzter Konsequenz die Unterwerfung des Sohnes unter den das Gesetz repräsentierenden symbolischen Vater.

Wenn wir die bisher getroffenen Aussagen zur Frage der väterlichen Machtausübung in Beziehung zur Widerredeverbotsszene setzen, dann zeigt sich, dass die erhobene Hand des Vaters letztlich eine leere Geste ist, die als Supplement zur Sprache hinzutritt, durch die aber nicht eigentlich intendiert wird, über die Sprache hinaus auf den repressiven Körper zu verweisen. Vielmehr lässt sie die Sprache selbst in ihren Bezügen zum Körperlichen erscheinen. Anders gesagt, die leere Geste, die in den Bereich der Sprache hineingezogen ist, deutet (symbolisch) die enge ontologische Beziehung zwischen dem Medium der Rede und dem Körperlichen an. Das Medium der Rede ist in seiner ontologischen Beschaffenheit selbst Träger einer Vorstellung des Körperlichen. Die gesprochene Rede setzt zuallererst die Stimmkraft, also eine Fähigkeit und die Gegenwart des Körpers, voraus. Die Stimme als pars-pro-toto für den Körper ist dabei nicht bloß das vermittelnde Medium sondern sie ist als Gegenwart des Körpers unmittelbar selbst anwesend, ohne als Signifikat des Diskurses konstituiert zu sein. Somit lässt sich Sprechen in einer ähnlichen Weise als eine Geste des Körpers beschreiben wie etwa das Heben der Hand, etc. Wenn wir uns jetzt den Zusammenhängen zwischen Vater und Sohn in ihren körperlichen Erscheinungsweisen und ihren Positionen im Feld der gesprochenen Sprache zuwenden, dann wird deutlich, wie sehr der Brief an den Vater symbolisch strukturiert ist. Zu Beginn dieses Kapitels habe ich davon gesprochen, dass der Sohn aus der gesprochenen Sprache, die dem Reich des Vaters zufällt, verbannt ist. Analysiert man die Darstellungen von Vater und Sohn in Hinblick auf ihre gegensätzlichen Körperlichkeiten, dann - ich nehme es vorweg - finden wir ein ähnliches Ausschlußmodell vor: hier der vollkommene Körper des Vaters, dort der degenerierte Körper des Sohnes, der im Angesicht des Vaterkörpers ein Nichts ist. Als (symbolisch) ausgelöschter Körper kann er somit (symbolisch) am Medium der Rede nicht teilhaben. Doch wenden wir uns nun der genaueren Analyse zu. Der totale Gegensatz zwischen dem körperlichen Übermaß auf der einen und dem scheinbaren Nichts auf der anderen Seite wird am eindrucksvollsten in der Szene zum Ausdruck gebracht, in der sich Vater und Sohn in der Kabine eines Schwimmbades entkleiden. Der Körper des Vaters wird darin als unfaßbar groß vorgestellt, während der Körper des Sohnes im Vergleich dazu ein jämmerliches und, wie es scheint, nicht mehr zu unterbietendes Bild abgibt:

Ich war ja schon niedergedrückt durch Deine bloße Körperlichkeit. Ich erinnere mich z. B. daran, wie wir uns öfters zusammen im Schwimmbad in einer Kabine auszogen. Ich mager, schwach, schmal, Du stark, groß, breit. Schon in der Kabine kam ich mir jämmerlich vor und zwar nicht nur vor Dir, sondern vor der ganzen Welt, denn du warst für mich das Maß aller Dinge. Traten wir dann aber aus der Kabine vor die Leute hinaus, ich an Deiner Hand, ein kleines Gerippe, unsicher, bloßfüßig auf den Planken, in Angst vor dem Wasser, unfähig Deine Schwimmbewegungen nachzumachen, die Du mir in guter Absicht, aber tatsächlich zu meiner tiefen Beschämung immerfort vormachtest, dann war ich sehr verzweifelt und alle meine schlimmen Erfahrungen auf allen Gebieten stimmten in solchen Augenblicken großartig zusammen. Am wohlsten war mir noch, wenn Du Dich manchmal zuerst auszogst und ich allein in der Kabine bleiben und die Schande des öffentlichen Auftretens so lange hinauszögern konnte, bis Du endlich nachschauen kamst und mich aus der Kabine triebst. Dankbar war ich Dir dafür, dass Du meine Not nicht zu bemerken schienest, auch war ich stolz auf den Körper meines Vaters. Übrigens besteht zwischen uns dieser Unterschied heute noch ähnlich.[40]

Auffällig ist in diesem Textausschnitt die verabsolutierende Darstellungsweise: der Vaterkörper stellt nicht nur eine Übermacht im direkten Vergleich zum Körper des Sohnes dar sondern er wird als unfaßbare Größe, 'als Maß aller Dinge', schlechthin vorgestellt.[41] An der Größe des Vaterkörpers muss jede andere Größe notwendigerweise zerbrechen. Sie scheint absolut unüberbietbar. Im Angesicht dieser unendlichen Größen, im Erkennen, ihr als Nichts gegenüberzutreten, vermittelt sich dem Sohn apokalyptischer Schrecken: 'dann war ich sehr verzweifelt und alle meine schlimmen Erfahrungen auf allen Gebieten stimmten in solchen Augenblicken großartig zusammen'. In der Betrachtung des Vaterkörpers wird ein Gefühl des Erhabenen vermittelt, da dem Bewußtsein der absoluten Größe des Vaterkörpers das Bewußtsein der absoluten Nichtigkeit des Sohnkörpers ('jämmerlich [...] vor der ganzen Welt') entgegensteht, und somit die Kategorien der vernünftigen Beurteilung außer Kraft gesetzt sind. Nichtig deshalb, weil die Differenz in Hinblick auf das Unendliche selbst eine unendliche sein muss. Als nichtiger Körper ist die Körperlichkeit des Vaters an sich ausreichend, um die (zu Beginn dieses Kapitels angedeutete) (symbolische) Auslöschung des Sohnes schmerzlich vor Augen zu führen: '[i]ch war ja schon niedergedrückt durch Deine bloße Körperlichkeit'.

Damit ein Gefühl des Erhabenen erreicht ist, muss aber zum Schrecken notwendigerweise das Wohlgefallen hinzutreten.[42] Dieses wird im vorletzten Satz des Absatzes zum Ausdruck gebracht: 'auch war ich stolz auf den Körper meines Vaters'.

Die völlige Gegensätzlichkeit von Vater und Sohn wird im Brief nicht als eine einfach individuell bedingte dargestellt sondern ihr sind fest umrissene, deterministische Narrative zugrundelegt. Vater und Sohn erscheinen als Aktanten vorgängiger, genealogischer Erzählungen, denen nicht zu entraten ist. Der Vater ist dabei der Repräsentant der Kafkaschen Linie und er ist in seiner Struktur, wie eigens betont wird, 'ein wirklicher Kafka'.[43] Diese Linie steht, grob gesprochen, für die Sphäre des Unnmittelbaren und Körperlichen, wie die ihr zugeschriebenen Attribute verdeutlichen: 'Stärke, Gesundheit, Appetit, Stimmkraft, Redebegabung, Selbstzufriedenheit, Weltüberlegenheit, Ausdauer, Geistesgegenwart, Menschenkenntnis'.[44] Ihre zugewiesenen Eigenschaften lassen die Vertreter der Kafkaschen Linie als autonome Herrschaftswesen erscheinen, die völlig selbstbestimmt sind und der anderen offenkundig nur bedürfen, um ihre Herrschaftsfähigkeit unter Beweis stellen zu können. Die ersten drei Eigenschaften beziehen sich unmittelbar auf ihre körperliche Überlegenheit, die sie in Kombination mit den letzten drei, die ihre Unmittelbarkeit und Spontaneität hervorheben, als kühne und robuste Überlebensstrategen (den Jägern des Dschungels vergleichbar) erscheinen lässen. Zwischen den Eckpfeilern des Körperlichen und der Unmittelbarkeit befindet sich das Rhetorische in Form der 'Stimmkraft' und der 'Redebegabung', wobei auch im Begriff der Stimmkraft wiederum die körperliche Sphäre emphatisch hervorgehoben ist. Die Mittelstellung könnte möglicherweise (metaphorisch) andeuten, dass das Medium der Rede das Moment ist, das auf beide gleichermaßen bezogen ist und beide in sich vereint.

Die Sphäre des Geistigen, der Reflexion, der Mittelbarkeit scheint in einer solchen Identitätskonstruktion bloß hinderlicher Ballast, sodass sie in ihr, dem starken Körper, denn auch völlig ausgespart ist. Es wirkt angesichts dieses genealogischen Narrativs daher mehr als ironisch, wenn ein paar Zeilen später von der 'geistigen Oberherrschaft' des Vaters die Rede ist, wobei allein schon der Begriff Herrschaft andeutet, dass sie autoritärer Natur ist. Diese 'geistige Oberherrschaft' besteht schlichtweg darin, dass durch den Vater alles Geistige und Reflexive unterdrückt wird und er doktrinär nur das gelten lässt, was ihm genehm ist bzw. was er selbst spricht.

In seinen Schimpftiraden erscheint er schließlich als flächendeckender Zerstörer, der alles eliminiert, bis er selbst als Einziger bestehen bleibt: 'Du konntest z. B. auf die Tschechen schimpfen, dann auf die Deutschen, dann auf die Juden und zwar nicht nur in Auswahl sondern in jeder Hinsicht und schließlich blieb niemand mehr übrig außer Dir'.[45]

Bemerkenswert in dieser Passage erscheint, dass die (rhetorische) Destruktionswut in letzter Konsequenz auch vor der kollektiven Selbstzerstörung nicht Halt macht (der Vater ist selbst Jude!).[46] Er besteht für sich als das Absolute. Doch das nur am Rande.

Das Urteil, das der Sohn über den Vater spricht, ist ein hartes: 'Du bekamst für mich das Rätselhafte, das alle Tyrannen haben, deren Recht auf ihrer Person, nicht auf dem Denken begründet ist. Wenigstens schien es mir so'.[47] An die Stelle des 'cogito' tritt im Vater 'das Sein', was ein typisches Merkmal autoritärer, und dabei insbesondere faschistischer Herrschaftsästhetik ist.

Der Sohn auf der anderen Seite repräsentiert die Löwysche Linie, also die Linie der Mutter, die metaphorisch den reduzierten Körper repräsentiert:

ich, um es sehr abgekürzt auszudrücken, ein Löwy mit einem gewissen Kafkaschen Fond, der aber eben nicht durch den Kafkaschen Lebens-, Geschäfts-, Eroberungswillen in Bewegung gesetzt wird, sondern durch einen Löwy'schen Stachel, der geheimer, scheuer, in anderer Richtung wirkt und oft überhaupt aussetzt.[48]

Die Löwy'sche Linie, in der der Sohn trotz seines 'Kafkaschen Fond[s]' steht, stellt die Antithese zur Kafkaschen dar. Ihr 'fehlt' insbesondere deren Unmittelbarkeit, sie erscheint, weil sie geheimer ist, in ihrer Struktur als eine in sich bereits vermittelte, da ihr 'Seiendes', wenn überhaupt, nur verdeckt bzw. verfremdet zum Vorschein kommt. Insofern steht sie symbolisch für die Vermitteltheit der Welt. Wenn man nun die beiden Identitätskonstruktionen in Beziehung zum Medium der Rede in seinen konstitutiven Bedingungen setzt, dann wird deutlich, dass die Rede symbolisch der Kafkaschen Linie zugeordnet ist, zumal ihr, wie oben angedeutet wurde, eine Vorstellung der unvermittelten Anwesenheit des Körpers inhärent ist. Der Aufenthalt des Sohnes im Medium der Rede würde symbolisch den Übertritt in die Kafkasche Linie, in die Sphäre des Körpers, bedeuten, was den Vater in der patriarchalen Machtstruktur als unumschränkten Herrscher, als Tyrannen, der von seinem Lehnstuhl aus die Welt regiert,[49] in Frage stellen würde. Er hätte mit einem Mal einen Konkurrenten. In der Unmöglichkeit zu sprechen wird (wiederum symbolisch) schließlich die Unantastbarkeit des Patriarchats zum Ausdruck gebracht. Die Strategie, vermittels derer der Machterhalt des Patriarchats gesichert bleibt, ist, wie wir in der Frage der Durchsetzung des Gesetzes gesehen haben, eine höchst raffinierte: Seine Unantastbarkeit gründet sich nicht (allein) auf ihrer realen Übermacht den ihm Unterworfenen gegenüber, sondern sie ist ihnen als Bewußtsein unverrückbarer Strukturen und genealogischer Determinismen konstitutiv eingeschrieben, sodass die reale Seite der Machtausübung gegenüber der symbolischen zurücktritt und die reale gar nicht in Erscheinung zu treten braucht. Die unterdrückende patriarchale Ordnung wird somit im Bewußtsein des Subjekts (hier im wahrsten [lateinischen] Sinne des Wortes als 'Unterworfenes' zu verstehen) selbst aufrechterhalten und perpetuiert. In seinem Symbolismus ließe sich Kafkas Brief daher auch im Kontext moderner Gesellschafts- bzw. soziologischer Theorien (etwa der Pierre Bourdieus), in denen diese und ähnliche Fragenkomplexe verhandelt werden, lesen, was angesichts einer beinahe unendlich gewordenen Zahl von zum Teil in sich aufgeblasenen individualpsychologischen Deutungen und Deuteleien eine erfrischende Innovation bedeuten könnte.

Jedoch - selbst wenn es einem gelänge - das Treiben in Worte zu fassen, wäre heute ein selbstmörderischer Diskurs (Roland Barthes, Die Lust am Text, Frankfurt/M., 1996, 29)

IV.) Die Schrift - der abwesende Körper / der reproduzierte Körper

Steht das Medium der Rede symbolisch für den Körper, weil auf seiner Ausdrucksseite immer auch die Gegenwart des Körpers unmittelbar mitgeführt ist (im Ereignis der Rede vermittelt das sprechende Subjekt immer auch eine Vorstellung von sich als Körper), so scheint hingegen das Medium der Schrift gerade vom Gegenteil gekennzeichnet zu sein. Die unmittelbare Gegenwart des Körpers ist in der Schrift nicht vorhanden. Zweifellos ist auch im Gebrauch des schriftlichen Mediums der Körper (die schreibende Hand) vonnöten, auf seiner Ausdrucksebene scheinen die Bewegungen (anders als in der Rede die vibrierende Stimme) des Körpers jedoch erstarrt, sodass wir von der Anwesenheit des Körpers als einer abwesenden auszugehen haben: 'Für sie (die Schrift; Anm.) ist charakteristisch, dass sie auch in der Abwesenheit des Sprechers funktioniert'.[50]

In der Abwesenheit des Körpers in seiner unvermittelten Erscheinung könnte nun nach dem Ausschluß aus der Rede, dem Reich des Vaters, (symbolisch) die Schrift das Reservat des Sohnes werden, der ja als Teil der Löwyschen Linie symbolisch für die Vermitteltheit der Welt steht. Indem also die Konstitution des Mediums der Schrift nicht von der Unmittelbarkeit des Körpers bedingt ist, erscheint eine Überwindung der niederdrückenden 'bloßen Körperlichkeit' des Vaters möglich.[51] Wenn man sich im Brief die Ausführungen, die sich explizit mit dem Schreiben aussehen, ansieht, wird man sogleich feststellen, dass ihm ganz spezifische Funktionen zugeordnet werden. Das Schreiben steht dabei vor allem im Zeichen des Abschied-Nehmens vom Vater, was einer Befreiung aus seiner Umklammerung gleichkäme: '[e]s war ein absichtlich in die Länge gezogener Abschied von Dir, nur dass er zwar von Dir erzwungen war, aber in die von mir bestimmte Richtung verlief'.[52] Das Dilemma der Rede scheint überwunden, der Ausdruck intentionalen Subjektbewußtseins (der Sohn bestimmt die Richtung) möglich, das Subjekt gewissermaßen gerettet. Die Macht des Vaters scheint vor dem Schreiben des Sohnes beendet, es erweckt nicht einmal sein Interesse, was im Sohn zunächst ein Gefühl der Freiheit auslöst

Meine Eitelkeit, mein Ehrgeiz litten zwar unter Deiner für uns berühmt gewordenen Begrüßung meiner Bücher: "Legs auf den Nachttisch!" (meistens spieltest Du ja Karten, wenn ein Buch kam), aber im Grunde war mir dabei doch wohl, nicht nur aus aufbegehrender Bosheit, nicht nur aus Freude über eine neue Bestätigung meiner Auffassung unseres Verhältnisses, sondern ganz ursprünglich, weil jene Formel mir klang wie etwa: "Jetzt bist Du frei!" Natürlich war es eine Täuschung, ich war nicht oder allergünstigsten Falles noch nicht frei. Mein Schreiben handelte von Dir, ich klagte dort ja nur, was ich an Deiner Brust nicht klagen konnte.[53]

Doch der vermeintliche Ausweg entpuppt sich - wie so oft bei Kafka - als tückische Falle und verkehrt sich in sein unheilvolles Gegenteil. Der Grund, weshalb das Medium der Schrift doch keinen Ausweg aus dem Dilemma, keine Überwindung des Vaters, bedeuten kann, liegt in der eigentümlichen Poetik des Schreibens bei Kafka begründet: 'Mein Schreiben handelte von Dir, ich klagte dort ja nur, was ich an Deiner Brust nicht klagen konnte'.[54] Zunächst geht aus dieser Textstelle hervor, dass die Schrift dort ansetzt, wo das Medium der Rede durch das Verbot des Vaters unmöglich geworden ist, in der Widerrede, denn nur in ihrer prinzipiellen Möglichkeit könnte die Subjektivität überhaupt gewährleistet sein. Doch die allgemeinen medialen Voraussetzung der Schrift können nicht zur Geltung gebracht werden, weil sie im poetologischen Entwurf von vornherein als Sublimation der Vaterbrust (pars pro toto für den Körper) angelegt ist und diesen gewissermaßen reproduziert. Die Brust des Vaters, an der der Sohn klagt, wird in die Schrift verlagert. Die Reproduktion des Vaterkörpers ist in der Einmengung des Vaters in den Briefdiskurs in einem noch viel stärkerem Maß nachvollziehbar. Indem der Vater durch den Sohn spricht, der ihn dadurch gewissermaßen als Aussagesubjekt konstituiert, wird die Durchdringung der Schrift vom Körperlichen, das der Vater symbolisiert, augenscheinlich. Somit erscheint die Hoffnung, dass sich der Sohn im Schreiben letztgültig vom Vater befreien könnte, von vornherein illusorisch und unerfüllbar, da im Medium der Schrift gewissermaßen die Bedingungen des Mediums der Rede simuliert scheinen. Kafka veranschaulicht diese trügerische Hoffnung, die schließlich in beklemmende Hoffnungslosigkeit mündet, in Form eines sehr schönen und aussagekräftigen Vergleiches: '[h]ier (im Schreiben, Anm.) war ich tatsächlich ein Stück selbständig von Dir weggekommen, wenn es auch ein wenig an den Wurm erinnerte, der, hinten von einem Fuß niedergetreten, sich mit dem Vorderteil losreißt und zur Seite schleppt'.[55]

In diesem Satz ist die von Deleuze und Guattari konstatierte 'Vergrößerung des Vaterfotos ins Absurde'[56] als merkwürdige Besonderheit des Briefes deutlich nachzuvollziehen, da sich selbst noch der Fuß des Vaters dem Wurm gegenüber als Riese ausnimmt. Wie unfaßbar groß, muss dann erst der Vaterkörper in seiner Gesamtheit anmuten? könnte man fragend hinzufügen.[57] Diese Textstelle symbolisiert gewissermaßen das 'dilemma scribendis', wobei der Wurm (metaphorisch) für den Sohn und der Fuß als Ausdruck des Körpers (metaphorisch) für den Vater steht. In ihr wird, ähnlich wie in der oben diskutierten Pawlatsche-Episode, symbolisch zum Ausdruck gebracht, dass der Vater nun nicht der eigentliche Zerstörer im Medium der Schrift ist sondern dass der Sohn letztlich selbst die Gewalt an sich verübt, denn die Verstümmelung des Wurmes erfolgt (im Vergleich) ja schließlich erst im Versuch sich zu befreien, sie entspringt also einer Handlung, welche durch den Sohn gesetzt wird. Damit scheint dem Sohn die Möglichkeit genommen, im Schreiben den Vater vollständig zu fliehen. Er erkennt nicht nur, dass die Macht des Vaters ihm gegenüber eine schier unbegrenzte ist, sondern auch, dass selbst das geringste Wegkommen von ihm (ihm entspricht das sich-zur-Seite-Schleppen des Wurmes) unweigerlich mit Selbstzerstörung verbunden ist. Es ist in der Tat ein fataler Kompromiß, der dem Schreiben innewohnt: Das 'kleine bißchen Wegkommen', so könnte man den Symbolismus auflösen, ist, wenn überhaupt, nur in der Spaltung des Subjekts möglich, das in eine patriarchale Überwachungsbewußtheit (der Hinterteil des Wurmes befindet sich in der Gewalt des Vaters) und ein dezimiertes Sohnsubjekt, das sich nicht mehr richtig fortbewegen sondern nur noch zur Seite schleppen kann, also nicht mehr wirklich lebensfähig ist, zerfällt. In einer solcherart angelegten Poetik des Schreibens wird ein konstitutives Moment der Moderne, das man etwa in Ernst Machs Formel vom 'unrettbaren Ich'[58] zusammenfassen könnte, zum Ausdruck gebracht. Das homogene Vatersubjekt wäre in diesem Zusammenhang als Ausdruck vormoderner Befindlichkeit zu werten. Doch das nur als Bemerkung am Rande. Signifikant ist in der symbolischen Wurmerzählung in jedem Fall die Wahl der Vergleichsobjekte. Ist der Fuß der Abschluß des Körpers, auf dem sein ganzes Gewicht lastet und somit Teil einer horizontalen, aufrechten Konstruktion, so ist der Wurm im Gegensatz dazu kriechendes, sich nicht aufrecht fortbewegendes Ungeziefer, das über keine Möglichkeit verfügt, sich aufzurichten und damit in seiner Erscheinung zu vergrößern, so wie die erhobene Hand den Vater in der Verbotsszene mächtiger und furchteinflößender erscheinen lässt. Die Begrenztheit seiner Erscheinung ist dem Wurm somit strukturell unveränderlich eingeschrieben. Ähnlich wie Gregor Samsa in der Verwandlung wird dem Sohn im Brief an den Vater die Humilität seines Daseins metaphorisch vor Augen geführt.

Die Wahl eines Ungeziefers als das den Sohn symbolisierende Vergleichsobjekt ist im Zusammenhang der im vorigen Kapitel besprochenen Identitätskonstruktionen der Kafkaschen und der Löwyschen Linie eine durchaus konsequent nachvollziehbare, wenn etwa vom 'Löwyschen Stachel' die Rede ist, wobei schon allein der Begriff des Stachels eine Insektassoziation erweckt. Das Insektenmotiv wird schließlich auch noch im Sprechakt des Vaters aufgenommen, wo er davon spricht, dass sich Vater und Sohn in einem Kampf befinden,[59] wobei - in Einklang mit den Eigenschaften der Kafkaschen Linie - durch ihn der ritterliche Kampf, 'wo sich die Kräfte selbständiger Gegner messen, jeder bleibt für sich, verliert für sich, siegt für sich'[60], repräsentiert werde, während der Sohn für den 'Kampf des Ungeziefers, welches nicht nur sticht, sondern gleich zu seiner Lebenserhaltung das Blut saugt'[61], stehe. Es handelt sich also um den Kampf zwischen der gesunden, autonomen Natur, die ihre Energie aus sich selbst schöpft und dem das Schmarotzertum repräsentierende Insekt, das nur durch das Saugen fremden Blutes zu überleben weiß. Am Ende des Absatzes wird dem Sohn indirekt gar die Lebensberechtigung abgesprochen, wenn der Vater dem Sohn die Worte 'Lebensuntüchtig bist Du'[62], entgegenschleudert.[63] Der Vorwurf des Schmarotzertum wird insbesondere auch gegen das Schreiben und im Besonderen gegen den Brief vorgebracht: 'Wenn ich nicht sehr irre, schmarotzest Du an mir noch mit diesem Brief als solchem'.[64] Die in Hinblick auf das Schreiben sich ergebende metaphorische Aussage ist eine starke: Das schmarotzende Sohnungeziefer saugt im Schreiben (symbolisch) am Blut des väterlichen Körpers, die Schrift ist letztlich mit Vaterblut geschrieben. Der Vater ist somit der Schrift bereits in ihrer Fundamentierung konstitutiv eingeschrieben und allem teilhaftig, was durch sie 'veräußert' wird. Die Unmittelbarkeit des Körpers (als dessen Repräsentant figuriert, wie mehrfach betont wurde, der Vater) in der Rede, von der zu Beginn dieses Kapitels ausgegangen wurde, scheint somit symbolisch in die Schrift übertragen. In diesem Zusammenhang sind auch die desillusionierenden Bemerkungen des Sohnes das Schreiben betreffend als Einbekenntnis, dass der Vater auch im Schreiben durch nichts nicht zu fliehen ist, weil er in der Schrift allem gegenwärtig ist und letztlich alles durch ihn bezeichnet wird, zu werten:

Aber wie wenig war das alles! Es ist ja überhaupt nur deshalb der Rede wert, weil es mir in der Kindheit als Ahnung, später als Hoffnung, noch später oft als Verzweiflung mein Leben beherrschte und mir - wenn man will, doch wieder in Deiner Gestalt[65] - meine paar kleinen Entscheidungen diktierte.[66]

Es erscheint somit auch die Schrift als Inbegriff des väterlichen Machtdiskurses, auch in ihr ist er der umumschränkte Herrscher, ein Entkommen scheint a priori ausgeschlossen. Man könnte sagen, dass die Geschichte des schreibenden Sohnes eine fortlaufende Antiklimax ist, an deren Ende die Verzweiflung und das Bewußtsein, dem Vater dem Anschein nach ein wenig entkommen zu sein, aber nicht dem Gesetz. Das Schreiben ist daher nicht der (erhoffte) Ausweg aus dem Dilemma, da es von diesem tückisch eingeholt ist, womit letztlich, was vielleicht das Schlimmste von allem ist, alle Hoffnung für immer zerschlagen sein muss. Das Schreiben ist nur im Bezeichnet-Werden durch das Gesetz möglich, das Gesetz selbst unbezwingbar!

V.) Abschließende Bemerkung

Zum Abschluß möchte ich, gewissermaßen als Synthese des bisher Gesagten, noch kurz andeuten, worin eine dem Text inhärente Poetik, sofern man von einer solchen überhaupt sprechen kann, bestehen könnte: sie wäre das Bewußtsein, dass in der mit dem klassischen Subjekt verbundenen Vorstellung, das Schreiben nicht möglich ist, dass Kommunikation im allgemeinen und Schreiben im Besonderen gerade bedeutet, sich als Subjekt zu dekonstruieren und in den klassischen Subjekt auslöschenden Strukturen ausgedrückt zu werden. Die kurzen Momente, in denen es scheint, als könne das Subjekt ganz bei sich sein, bezeichnen im bitteren Erkennen, dass die Vorstellung nur eine Illusion ist, somit gerade noch stärker die Ausweglosigkeit, die mit dem Schreiben verbunden ist. Wenn Kafka im Bewußtsein des Einleitungsabsatzes, dass die ins Schreiben gesetzten Hoffnungen schlechterdings nicht erfüllbar sind, dennoch weiterschreibt, so kann das Schreiben nur mehr ein manisches sein, ohne Aussicht darauf, seiner Ausweglosigkeit zu entraten. Schreiben hieße somit in letzer Konsequenz geradezu: das Schreiben unmöglich machen.

[1] Franz Kafka, Brief an den Vater, Frankfurt/M, 1997, 5.

[2] Es ist eine besondere Merkwürdigkeit dieses Briefes, dass sich in ihm auch der Adressat kommentierend in den Diskurs einmengt. Die Kommunikationssituation ist aber dennoch als monologisch zu klassifizieren, weil ja der Sohn stellvertretend für den Vater spricht. Die Kommunikationsbedingungen sind vordergründig davon also nicht betroffen. Was den sich in den Diskurs einmengenden Vater betrifft, vgl. Kapitel 4 in dieser Untersuchung.

[3] vgl. Metzler-Philosophie-Lexikon: Begriffe und Definitionen, hrsg. v. Peter Prechtl und Franz-Peter-Burkard, Stuttgart; Weimar, 1996, 343.

[4] Theodor W. Adorno, Der Essay, In: ders., Noten zur Literatur. Frankfurt/M., 1994, 9-33, 14.

[5] Theodor W. Adorno, Der Essay, a.a.O., 14.

[6] vgl. Metzler-Philosophie-Lexikon: Begriffe und Definitionen, a.a.O., 498.

[7] vgl. Jean-François Lyotard: Kindheitslektüren. Wien. 1995, 11ff. Es handelt sich bei der 'infantia' vereinfacht gesprochen, um das Bewußtsein eines toten Winkels der Schreibweise, den die Schreibweise mit sich führt, den sie aber als Signifikat eines durch sie geführten Diskurses konstituieren kann: 'Keiner versteht es zu schreiben. Jeder, selbst und vor allem der ,,Größte'' schreibt, um durch den Text und im Text etwas einzufangen, das er nicht schreiben kann. Das sich nicht schreiben lässt, wie er weiß. [...] Taufen wir das, was sich nicht schreiben lässt, infantia. Eine Kindheit, die kein Lebensalter ist und die nicht vergeht. Sie lässt dem Diskurs keine Ruhe. Und dieser schiebt sie unaufhörlich beiseite. Aber er versteift sich gerade dadurch darauf, sie als Verlorenes zu konstituieren. Ohne sein Wissen schützt er sie somit. Sie ist sein Rest' (Lyotard, Kindheitslektüren,11).

zum Topos des 'Unsagbaren' vgl. auch: Jean-François Lyotard: Presenting the impresentable. In: Artforum 20. 1982, 64-69.

[8] Gilles Deleuze und Felix Guattari, Kafka. Für eine kleine Literatur, Frankfurt/M., 1976, 43.

[9] Walter Sokel, Zur Sprachauffassung und Poetik Franz Kafkas, In: Franz Kafka, Themen und Probleme, hrsg. v. Claude David. Göttingen, 1980, 26-47, 26ff.

Auch Roland Barthes bringt diesen Wunsch an einer Stelle im Semiologische[n] Abenteuer zum Ausdruck: 'Wie schön wäre diese Zeit, diese Ordnung, diese Welt, diese Sprache, in der ein Signifikant in alle Ewigkeit für sein Signifikat, in der der Lohn der>>gerechte<< Preis der Arbeit wäre, in der die Papierwährung immer ihrem Goldwert entspräche'. (Roland Barthes, Saussure, das Zeichen und die Demokratie, in: Roland Barthes, Das semiologische Abenteuer, Frankfurt/M., 1988, 159-164, 161)

[10] Walter Sokel, Zur Sprachauffassung und Poetik Franz Kafkas, a.a.O., 27. vgl. dazu auch: Jacques Derrida, Grammatologie, Frankfurt/M., 1996, 459ff. vgl. dazu auch: Jonathan Culler, Dekonstruktion. Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie, Reinbek bei Hamburg, 1994, 109ff.

[11] Aus methodischen Gründen unterscheide ich, auch um der besseren Darstellung willen, zwischen dem Einleitungsabsatz und dem 'eigentlichen Brief'. Der 'eigentliche Brief' beginnt erst mit dem zweiten Absatz ('Dir hat sich die Sache immer ....). Grundlage dieser Unterscheidung sind die völlig unterschiedlichen sprachlich-stilistischen Ebenen (vgl. Diskussion zuvor: Jargon der Eigentlichkeit, etc.) zwischen dem Einleitungsabsatz und dem Rest des Briefes, i.e. dem 'eigentlichen Brief'.

[12] Franz Kafka, Brief an den Vater, a.a.O., 74.

[13] stellvertretend für andere vgl. dazu: Ralph Lilienthal, Franz Kafkas 'Brief an den Vater' - der Schlüssel zu Kafka?, Freiburg, 1996 [= Seminararbeit aus dem Hauptseminar 'Franz Kafka' im Deutschen Seminar II an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Wintersemester 1995/96. online verfügbar unter: http://www.uni-freiburg.de/philfak3/germ/kafka/lilien.htm]

[14] was die konstitutive Rolle der einer Interpretation bzw. Wahrnehmung zugrundeliegenden Dekodierungssystems betrifft, vgl. Pierre Bourdieu, Elemente zu einer soziologischen Theorie der Kunstwahrnehmung, in ders., Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt/M., 1997, 159-201, 167ff.

[15] vgl. Umberto Eco, Lector in fabula: Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten, München, 1987.

[16] vgl. 5 ff. in dieser Untersuchung.

[17] In der Theorie des kommunikativen Handelns nennt Jürgen Habermas vier Geltungsansprüche, die erfüllt sein müssen, damit Kommunikation gelingen kann: G. der Verständigkeit, G. der Wahrheit, G. der Wahrhaftigkeit, G. der normativen Richtigkeit. Ist einer oder mehrere der Geltungsansprüche nicht erfüllt, ergeben sich kommunikative Probleme. Im Zusammenhang von Kafkas Furchtbehauptung scheinen insbesondere die Geltungsansprüche der Wahrheit und der normativen Richtigkeit (in Kafkas Brief: ad-absurdum-Führung des argumentativen Diskurses) in Zweifel gezogen. (vgl. Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/M, 1981, 25ff.)

[18] Franz Kafka, Brief an den Vater, a.a.O., 73.

[19] 'logisch-argumentativ' bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die Behauptung durch deduktive Schlüsse aus Aussagen, deren Geltungsansprüche zwischen beiden Kommunikationspartnern unbestritten sind, legitimiert werden müsste. Aus sich selbst heraus könnte eine Legitimation nicht erfolgen.

[20] auch hier ist von einer Behauptung auszugehen, weil die einzige Bürgschaft der Behinderung des Schreibens durch die Furcht das Sprechen von ihr ist.

[21] zur Frage der Ethnozentrik, die auf die Verabsolutierung des eigenen Dekodierungsschlüssel zurückzuführen ist, vgl. Pierre Bourdieu, Elemente zu einer soziologischen Theorie der Kunstwahrnehmung, a.a.O., 161ff.

[22] vgl. Jean-François Lyotard, Der Widerstreit, München, 1989, 9. Obgleich bei Kafka ein litige, den Beispielen in Lyotards Buch folgend, auszuschließen ist, würde ich als Alternative den Begriff der Aporie dem des différend vorziehen, weil eine wesentliche Bedingung für einen différend bei Kafka nicht erfüllt ist. Ein différend ist, so Lyotard, nämlich nur dann gegeben, wenn die Gültigkeit der einen Aussage nicht gleichzeitig die Gültigkeit der anderen ausschließt (vgl. Jean-François Lyotard, Der Widerstreit, a.a.O., 9.; vgl. dazu auch Dominique Burger, Die Genese des>>Widerstreits<<: Entwicklungen im Werk Jean-François Lyotards, Wien, 1996, 212ff.). Bei Kafka verhält es sich jedoch, anders als bei einem différend, so, dass die Gültigkeit einer der beiden Varianten nur unter dem kategorischen Ausschluß der anderen existieren kann.

[23] vgl. Walter Reese-Schäfer, Lyotard zur Einführung, Hamburg, 1995, 31: 'Die postmoderne Wissenschaft ist diskontinuierlich, katastrophisch, nicht nachprüfbar im klassischen Sinne, paradox'.

[24] im Original nicht kursiv; Die Kursivsetzung dient der Emphase der Adverbiale.

[25] Franz Kafka, Brief an den Vater, a.a.O., 19.

[26] vgl. Franz Kafka, Brief an den Vater, a.a.O., 19.

[27] Franz Kafka, Brief an den Vater, a.a.O., 19.

[28] vgl. Walter Sokel, Zur Sprachauffassung und Poetik Franz Kafkas, a.a.O., 32.

[29] Franz Kafka, Brief an den Vater, a.a.O., 20.

[30] der Begriff der Widerrede ist hier in seiner Bedeutung nicht bloß als 'Widerspruch' sondern auch als 'Gegenrede' zu fassen. zu den möglichen Begriffsbedeutungen vgl. Gerhard Wahrig (Hg.), dtv-Wörterbuch der deutschen Sprache, München, 1994, 889.

[31] Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus -- Tagebücher 1914 - 1916 -- Philosophische Untersuchungen, Frankfurt/M., 1969, § 5.6.

[32] Franz Kafka, Brief an den Vater, a.a.O., 21.

[33] Helga Gallas charaktersiert den 'imaginären Vater' bei Lacan folgendermaßen: 'Der imaginäre Vater wäre das Bild des allmächtigen allwissenden, allwissenden, brutalen, kastrierenden Vaters, das sich das Kind macht; zu ihm entwickelt es eine rivalisierende Beziehung der Haßliebe, ihn sucht es zu beseitigen oder zu ersetzen'. (Helga Gallas, Psychoanalytische Positionen, in: Helmut Brackert und Jörn Stückrath [Hg.], Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs, Reinbek bei Hamburg, 1995, 296-309, 593-606, 600.)

[34] Helga Gallas charaktersiert den 'symbolischen Vater' bei Lacan folgendermaßen: 'Der symbolische Vater ist Funktionsträger des Gesetzes, er steht symbolisch für die Ordnung, der das KInd sich unterwerfen soll. Lacan spricht daher auch von der Instanz <<Name-des-Vaters>> (nom-du-pére).' (Helga Gallas, Psychoanalytische Positionen, in: Helmut Brackert und Jörn Stückrath [Hg.], Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs, a.a.O., 600.)

[35] Auf den unmittelbaren Zusammenhang zwischen Reden und Denken verweist Husserl in den Logischen Untersuchungen: 'Alles Denken [...] vollzieht sich in gewissen ,Acten', die im Zusammenhange der ausdrückenden Rede auftreten. In diesen Acten liegt die Quelle all der Geltungseinheiten, die als Denk- und Erkenntnisobjecte oder als deren Theorien und Wissenschaften dem Denkenden gegenüberstehen' (Edmund Husserl, Logische Untersuchungen II, 472).

[36] Auslöser dieser Episode ist ein nächtlicher Vorfall in der frühen Kindheit: 'Ich winselte einmal in der Nacht immerfort um Wasser, gewiß nicht aus Durst, sondern wahrscheinlich teils um zu ärgern, teils um mich zu unterhalten' (Fanz Kafka, Brief an den Vater, a.a.O., 10).

[37] Franz Kafka, Brief an den Vater, a.a.O., 10ff.

[38] Franz Kafka, Brief an den Vater, a.a.O., 22.

[39] Franz Kafka, Brief an den Vater, a.a.O., 28.

[40] Franz Kafka, Brief an den Vater, a.a.O., 12ff.

[41] eine ähnliche Verabsolutierung des Vaters als unfaßbare Größe ist auch in Erzählung der Pawlatsche-Episode zu finden: 'dass der riesige Mann, mein Vater, die letzte Instanz' (Franz Kafka, Brief an den vater, a.a.O., 11). vgl. die Anmerkungen zu dieser Episoden (in anderem Zusammenhang wurde auf sie bereits kurz eingegangen) oben. Besonders schön charakterisiert Wilhelm Emrich in seinem ansonsten doch eher etwas verblasen wirkenden Nachwort in in der Fischer-Taschenbuch-Ausgabe [1997] (Textausgabe, aus der in dieser Untersuchung zitiert wird; Anm.) diesen Aspekt: 'Konsequent wird für Kafka sein eigener Vater zur>>letzten Instanz<<, zum>>Maß aller Dinge<<, zur>>Welt<< selbst, seine Gestalt überspannt - wörtlich - den gesamten Erdkreis, alles was er sagt, ist für den Sohn>>Himmelsgebot<<,>>das wichtigste Mittel zur Beurteilung der Welt<<, ja, der Vater lebt für ihn in absoluter unirdischer>>Reinheit<<.>>Fast kein Restchen irdischen Schmutzes<< klebt an ihm, während der Sohn sich in den>>Schmutz hinunter<< gezogen fühlt.' (Wilhelm Emrich, Nachwort, in: Franz Kafka, Brief an den Vater, a.a.O., 75-85, 81)

[42] vgl. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Köln, 1995, §23. vgl. auch: Rudolf Eisler, Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Erster Band, Berlin, 1904, 281-283. vgl. auch: Josef Früchtl, Kategorien der literarischen Ästhetik, in: Helmut Brackert und Jörn Stückrath (Hg.), Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs, a.a.O., 296-309, 306ff.

[43] Franz Kafka, Brief an den Vater, a.a.O., 8. Es gibt zwar einige wenige Punkte, in denen der Vater weniger 'Kafka' ist als etwa der Onkel, in seiner Strenge und Unerbittlichkeit übersteigt er diese jedoch bei weitem. Er ist somit der absolute Kafka, das Kafkasche Prinzip an sich.

[44] Franz Kafka, Brief an den Vater, a.a.O., 8.

[45] Franz Kafka, Brief an den Vater, a.a.O., 13ff.

[46] was die hochinteressante Frage nach der Stellung des Judentums in der Vater-Sohn-Beziehung betrifft, vgl. Franz Kafka, Brief an den Vater, a.a.O., 49ff.

[47] Franz Kafka, Brief an den Vater, a.a.O., 14.

[48] Franz Kafka, Brief an den Vater, a.a.O., 8.

[49] vgl. Franz Kafka, Brief an den Vater, a.a.O., 13.

[50] Jonathan Culler, Dekonstruktion. Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie, a.a.O., 112. Ich möchte, wenn hier von der Unmittelbarkeit des Körpers im Medium der Schrift die Rede ist, keinesfalls den Eindruck erwecken, dass damit auch der Sinn unmittelbar gegenwärtig wäre. Ich möchte also keinesfalls jenen Logozentrismus vom Primat der Rede gegenüber der Schrift wiederbeleben, mit dem Jacques Derrida in seiner Grammatologie gehörig aufgeräumt hat. (vgl. dazu: Dekonstruktion. Derrida und die poststrukturalistische Literaturtheorie, a.a.O., 111ff.). Mir geht es ausschließlich um die unterschiedlichen physischen Bedingungen in bezug auf die Ausdrucksebenen der beiden Medien.

[51] Der Antagonismus von Schrift und Körper ist für eine poetologische Bestimmung des Schreibens bei Kafka von integraler Bedeutung. In seinem Aufsatz Die unendliche Schrift. Franz Kafka und Robert Musil hält Detlef Kremer fest: 'Kafka hat Schreiben wiederholt als materiellen und gleichzeitig imaginativen Akt beschrieben, der mit konkreter Körperlichkeit in dauerndem Kampf liegt. Die literarische Schrift bezeichnet dasjenige>>reine<< Produkt, das dem>>schmutzigen<< Körper abgerungen ist, mehr noch: dem der ekelhafte Körper geopfert wird. Sie etabliert sich in der abgründigen Spaltung von>>hoher<< Kultur und>>niederer<< Leiblichkeit, die in der zeitgenössischen Literatur von Otto Weininger bis hin zu Karl Kraus tiefe Spuren hinterlassen hat' (Detlef Kremer, Die unendliche Schrift. Franz Kafka und Robert Musil, in: Rolf Grimminger, Jurij Murasov und Jörn Stückrath (Hg.), Literische Moderne. Europäische Literatur im 19. und 20. Jahrhundert, Reinbek bei Hamburg, 1995, 425-452, 433.

[52] Franz Kafka, Brief an den Vater, a.a.O., 51. Viele der nun folgenden Textzitate, wie auch dieses, entstammen ein und demselben Absatz. Ich werde sie jedoch nicht in ihrer ursprünglichen Chronologie besprechen, sondern in eine andere Reihenfolge bringen, um die poetologischen Implikationen dieses Absatzes (50-51) besser darstellen zu können. Dazu werden auch Verweise auf andere Stellen im Brief wie auf die Erzählung Die Verwandlung nötig sein.

[53] Franz Kafka, Brief an den Vater, a.a.O., 51.

[54] Franz Kafka, Brief an den Vater, a.a.O., 51. Walter Sokel deutet diese Passage als ein Beklagen des Sohnes über den Verlust des Vaters: 'Im Schreiben verewigt sich für Kafka also eine zweifache Abwesenheit: erstens der Entzug der väterlichen Liebe, der sich der Sohn hätte anvertrauen können und deren Fehlen die Ursache seines Kummers war, und dann noch das Fehlen des Zuhörers, des Vaters als Publikum der Klage des Sohnes'. (Walter Sokel, Zur Sprachauffassung und Poetik Franz Kafkas, a.a.O., 33). Diese Interpretation erscheint ein wenig fragwürdig, zumal die väterliche Brust ja nicht nur als Ort der Geborgenheit sondern genauso als Ausdruck der körperlichen Übermacht des Vaters, als unüberwindlicher Wall, geradezu als Zurückweisung aufgefaßt werden kann. In Kafkas Buch Die Verwandlung wird an einer Stelle im Text die Brust als Zeichen der väterlichen Macht angedeutet: 'Der Vater ballte mit feindseligem Ausdruck die Faust, als wolle er Gregor in sein Zimmer zurückstoßen, sah sich dann unsicher im Wohnzimmer um, beschattete dann mit den Händen die Augen weinte, dass sich seine mächtige Brust schüttelte.' (Franz Kafka, Die Verwandlung, Frankfurt/M., 1994, 20)

[55] Franz Kafka, Brief an den Vater, a.a.O., 51.

[56] Gilles Deleuze und Felix Guattari, Kafka. Für eine kleine Literatur, a.a.O., 16.

[57] vgl. dazu die Anmerkungen zu Momenten des Erhabenen in Kafkas Brief im vorigen.

[58] vgl. Ernst Mach, Antimetaphysische Vorbemerkungen, in: Gotthart Wunberg (Hg.), Die Wiener Moderne. Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910, Stuttgart, 1994, 137-145, 137ff. vgl. zu Machs Formel des 'unrettbaren Ichs' auch: Hermann Bahr, Das unrettbare Ich, in: Gotthart Wunberg (Hg.), Die Wiener Moderne. Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910, a.a.O., 147, 147.

[59] Franz Kafka, Brief an den Vater, a.a.O., 72.

[60] Franz Kafka, Brief an den Vater, a.a.O., 72.

[61] Franz Kafka, Brief an den Vater, a.a.O., 72.

[62] Franz Kafka, Brief an den Vater, a.a.O., 73.

[63] vgl. dazu die Stelle in der Verwandlung, wo die Schwester mit folgender Begründung darauf drängt, Gregor loszuwerden: 'Ich will vor diesem Untier nicht den Namen meines Bruders aussprechen, und sage daher bloß, wir müssen versuchen, es loszuwerden. [...]>>Sie hat tausendmal recht<<, sagte der Vater für sich. [...]>>Weg muss er<<, rief die Schwester das ist das einzige Mittel, Vater. Du musst bloß den Gedanken loszuwerden suchen, dass es Gregor ist. Dass wir es solange geglaubt haben, ist ja unser eigentliches Unglück. Aber wie kann es denn Gregor sein ? Wenn es Gregor wäre, er hätte längst eingesehen, dass ein Zusammenleben von Menschen mit einem solchen Tier nicht möglich ist, und wäre freiwillig fortgegangen. Wir hätten dann keinen Bruder und könnten weiter leben und sein Andenken in Ehren halten". (Franz Kafka, Die Verwandlung, a.a.O., 53ff.)

[64] Franz Kafka, Brief an den Vater, a.a.O., 73.

[65] im Original nicht Kursiv. Die Textstelle ist kursiv gesetzt, um das Argument, dass die Vorstellung des Vaters in das Medium des Schrift konstitutiv eingeschrieben ist, hervorzuheben.

[66] Franz Kafka, Brief an den Vater, a.a.O., 51.

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