Besuch der alten Dame

Sein werdegang zum Autor

Friedrich Dürrenmatt wurde am 5. Januar 1921 in dem Emmentaller Dorf Konolfingen (Kanton Bern) als Sohn von Vater Reinhold Dürrenmatt, Pfarrer, und seiner Frau Hulda Dürrenmatt-Zimmermann geboren. Großvater Ulrich Dürrenmatt aus dem Dorf Herzogenbuchsee war ein militant-konservativer Berner Nationalrat, der mit satirischen Versen Krämergeist und Bürokratismus bekämpfte. Er gab eine Zeitung heraus und schrieb für jede Ausgabe ein Gedicht. Für eines verbüßte er eine zehntägige Gefängnisstrafe. Diese Bestätigung seiner aggressiven Poesie machte ihn glücklich: "Zehn Tage für Zehn Strophen, ich segne jeden Tag." Der Enkel wolte es im gleichtun, doch trotz seiner massiven Gesellschaftskritik, wurde ihm diese Ehre niemals zuteil. Ganz im Gegenteil, er erhielt stattdessen Anerkennung ,Medillen und Ehrentitel, Doktorwürden und Preise.

Friedrichs Vater, Reinhold Dürrenmatt, war ein Gelehrter, gleichwohl predigte er einfach, volksnah, jedermann verständlich. Er galt als guter Seelsorger und besuchte die Kranken bis ins hohe Alter. Mit den Interessen seines Sohnes war er niemals einverstanden, und Fritz, wie Friedrich Dürrenmatt von den Eltern und Spielkameraden genannt wurde, respektierte den Alten, von einer innigen Beziehungen aber konnte keine Rede sein. Als Fritz Schriftsteller wurde, besuchte der Vater nur die ersten Premieren, die moderne Literatur blieb ihm fremd.

In der Familie führte die Mutter das Regiment. Auch im Dorf und dessen Umgebung gab sie den Ton an. Sie organisirte Pfarrfrauentagungen und Mütterabende, hielt Vorträge, kümmerte sich um Notleidende, zwischen ihr und Fritz aber unentwegtes leidenschaftliches Beten: Für Hulda Dürrenmatt verdankte der Mensch alles nur dem lieben Gott, auch Fritz später seine Erfolge.

Von einem Pfarrerssohn wurde ein exzellent gutes Benehmen erwartet, und wenn er dem nicht entsprach, wurde ihm das besonders angekreidet. Viele gingen ihm aus dem Weg, die Bauernjungen suchten ihn zum verprügeln. Der Knabe Dürrenmatt musste ihnen auf Schleichwegen entkommen. So wurde er zum Einzelgänger, was ihm die nötige Stärke verlieh gegen den Strom zu schwimmen. Dadurch hatte er Zeit, seinen eigenen Gedanken und Träumen nachzugehen.

Im Dorf lebten drei Maler. Allen dreien schaute der Knabe über die Schulter, war aber enttäuscht, dass der Jüngste von ihnen, einer mit Künstlermähne, lediglich brave Landschaften malte. Ein anderer portratirte ihn und schenkte ihm fürs Stillsitzen Malkartons. Auf sie hat Dürrenmatt seine ersten Schlachten gemalt und einmal auch eine Sintflut.

Einer seiner Lehrer machte ihn mit der Sternenwelt bekannt. Schon als Achtjähriger konnte er sämtliche Sternbilder mit Namen nennen und bei günstigem Wetter mit bloßem Auge den Andromedanebel erkennen. Das Dorf lag auf einer Hochebene, umgeben von bewaldeten Hügeln. Er bastelte sich selbst ein Fehrnrohr, und um den Sternen noch näher zu sein, kletterte er auf die Bäume. Die Liebe zur Wissenschaft ist ihm geblieben. Neben seinem Arbeitstisch steht ein leistungsstarkes Teleskop.

Dürrenmatt war ein miserabler Schüler. Er konnte sich nicht auf den Lernstoff konzentrieren. Lieber zeichnete er und saß in Kinos und Cafes, las Karl May, Swifts 'Gullivers Reisen',auch Jules Verne und Gotthelfs 'Schwarze Spinne', später Wieland, Lessings 'Laokoon', Schopenhauer, Nitzsche. Schlieslich trat die Berufswahl an den jungen Mann heran. Natürlich hätte es der Vater gerne gesehen, wenn sein Sohn Theologie studiert hätte. Es kam zu einer Aussprache. Der Sohn aber, zeigte allem Kirchlichen eine ablehnende Haltung. Der Vater äußerte danach nie mehr seinen Wunsch. Friedrich Dürrenmatt wollte Maler werden, ein anderer Beruf kam nicht im Betracht. Sein Vater war überzeugt, dass Kunstmaler ein anständiger Beruf sei, darum war einverstanden, vorausgesetzt, dass er das Abitur bestand. Da aber lag der Schüler schier hoffnungslos zurück. Zwei Monate vor dem Prüfungstermin setzte er sich mit einem Feund zusammen, der in der gleichen Notlage war, und büffelte Tag und Nacht, mit Erfolg.

Noch in späteren Jahren bedauerte er, nun nicht wirklich auf der Kunstakademie Zeichnen und Maltechniken gelernt zu haben, Schuld daran war das Fehlurteil einiger professioneller Maler, die Frau Dürrenmatt herbeigerufen hatte, Die Koryphäen fanden, der junge Mann male und zeichne weitab von gängigen Stil, der damals eine Art impressionistisch aufgeweichter Realismus war. Die Herren waren den Phantastischen Blättern nicht gewachsen und rieten ab. Entmutigt entschloß sich Dürrenmatt für das Studium der Philosophie. nicht zuletzt, um seinem Vater etwas entgegensetzen zu können.

So wie er ein nachlässiger Schüler gewesen war, wurde er nun ein ziemlich verbummelter Student. Vom Herbst 1941 bis zum Herbst 1942 studierte er in Bern Germanistik und Philosophie, dann zwei Semester Philosophie und Naturwissenschaften in Zürich, jedenfalls war er als Student dort eingeschrieben. Mehr als auf der Universität glaubte er in Kneipen und im Atelier des Malers Walter Jonas zu lernen. Der expressionistische Künstler, der vom Unterrichten lebte, malte nur nachts und in der Gesellschaft von Freunden, zu denen auch Friedrich Dürrenmatt gehörte. Während Jonas malte oder radierte, unterhielt er sich mit ihnen über Politik und Philosophie, Durch Jonas lernte Dürrenmatt die deutschen Expressionisten kennen, größten Eindruck machte auf ihn Georg Heym, auch den Namen Kafka hörte er hier zum ersten mal. Dürrenmatt begann zu schreiben. An die Tür seiner Studentenbude heftete er einen Zettel: Friedrich Dürrenmatt, nihilistischer Dichter. Im Züricher Germanistischen Seminar entstand seine lebenslange Aversion gegen die Literaturwissenschaft. Zurück in Bern, studierte er ohne besonderes Ziel bis 1946, im ganzen also 5 Jahre oder 10 Semester Philosophie, vor allem Kierkegaard und Platon. Hegel und Heidegger blieben ihm fremd. Die geplante Dissertation 'Kierkegaard und das Tragische' wurde erst gar nicht begonnen. Während des letzten Semesters reifte sein Entschluß, Schriftsteller zu werden.

Von Daniel Wulf, Sifi

Die Handlung: "Der Besuch der alten Dame"

In der Kleinstadt Güllen, nahe der deutsch-schweizerischen Grenze, erwartet man den Besuch einer reichen alten Dame, der Multimillionärin Claire Zachanassian, die als Klara Wäscher in Güllen geboren und aufgewachsen ist. Ihr Vermögen, das sie von ihrem ersten Mann, einem armenischen Ölscheich, geerbt hat, ist gewaltig, auch die Zahl der Ehemänner kann sich sehen lassen. Zur Zeit ist sie mit ihrem siebenten Ehemann unterwegs. Der Bürgermeister und die Notabilitäten des einst wohlhabenden, nun aber völlig verarmten und heruntergekommenen Städtchens versammeln sich vor dem verwahrlosten Bahnhof, um Claire Zachanassian einen großen Empfang in der Heimat zu bereiten. Sie hoffen natürlich darauf, dass sie eine ansehnliche Stiftung machen wird, die die Finanzen des kleinen Städtchens verbessern und den Lebensstandard der Bürger heben könnte. Währenddessen erzählt der Kaufmann Ill, ein Mann Mitte Sechzig, was die Kläri Wäscher für ein bildhübsches, wildes und leidenschaftliches Mädchen gewesen sei und dass leider das Leben sie nach einer stürmischen Liebe von ihm getrennt habe. Noch ehe er damit zu Ende ist, erscheint Frau Zachanassian mit ihrem Gatten und ihrem Gefolge,ein Butler, zwei kaugummikauenden ehemaligen Gängstern und zwei blinden Eunuchen. Die Dankesreden, die ihr dargebracht werden, unterbricht sie kurz und bündig mit der Ankündigung, sie werde der Stadt die Summe von einer Milliarde stiften, Fünfhundertmillionen für die Stadt und Fünfhundertmillionen aufgeteilt auf alle Bürger, aber nur unter der Bedingung, dass sie sich dafür "Gerechtigkeit" kaufen könne. Sie will die Leiche von Ill. Er habe sie nämlich seinerzeit mit einem Kind sitzenlassen und in dem darauffolgenden Vaterschaftsprozeß zwei Zeugen bestochen, die beschworen, ebenfalls ein Verhältnis mit Kläri Wäscher gehabt zu haben. Es sind die beiden Eunuchen, die sie, als sie reich geworden war, aufspüren, entmannen und blenden ließ und dann in ihr Gefolge aufnahm. Ihr Butler aber ist der Oberrichter, der damals den Vorsitz in dem Prozeß gegen Ill führte. Der Bürgermeister lehnt das Angebot energisch ab: "Frau Zachanassian, noch sind wir in Europa, noch sind wir keine Heiden. Ich lehne im Namen der Stadt Güllen das Angebot ab. Im Namen der Menschlichkeit. Lieber bleiben wir arm denn blutbefleckt". Nun geht eine seltsame Veränderung in Güllen vor. Obwohl sich der Bürgermeister natürlich weigerte, die Milliardenstiftung unter diesen Bedingungen anzunehmen, fangen auf einmal alle Einwohner an, auf großen Fuß zu leben, Anschaffungen zu machen, besser zu essen und zu trinken, kurz alle leben so, als ob sie sicher mit einem beträchtlichen Vermögenszuwachs rechnen könnten. Sie lassen überall anschreiben, und die Kaufleute gewähren ihnen ebenso sorglos Kredit, wie jene ihn in Anspruch nehmen. Ill wird es unbehaglich. Zwar gewährt er auch seinen Kunden jeden Kredit, aber er fühlt, dass sich etwas gegen ihn zusammenbraut. Claire Zachanassian aber sitzt ruhig im Hotel "Zum Goldenen Apostel" und beobachtet die Entwicklung der Dinge. Als ein schwarzer Panther, den sie als Haustier bei sich hat, ausbricht und die männlichen Bewohner von Güllen infolgedessen alle mit Schußwaffen herumlaufen, fühlt Ill sich zum ersten Mal wirklich bedroht. Er will die aufblühende Stadt verlassen, ist aber innerlich bereits so im Netz seiner Angst verstrickt, dass er es nicht mehr vermag. Eines Tages ist er jedoch bereit, sich dem Gericht seiner Mitbürger zu stellen. Er selbst und alle wissen, wie es ausgeht: "Die Stiftung der Claire Zachanassian ist angenommen. Einstimmig. Nicht des Geldes sondern der Gerechtigkeit wegen und aus Gewissensnot. Denn wir können nicht leben, wenn wir ein Verbrechen unter uns dulden, welches wir ausrotten müssen, damit unsere Seelen keinen Schaden erleiden und unsere heiligsten Güter". Der Bürgermeister aber findet einen genialen Dreh, den moralisch verurteilten Ill nach außen hin zu rehabilitieren: Die Presse wird informiert, dass die Milliardenstiftung von Frau Zachanassian durch Vermittlung des Herrn Ill, ihres Jugendfreundes, zustande gekommen ist. Nachdem die Presse gegangen ist bilden die Bürger eine Gasse, in die sich Ill hineinbegibt. Die Gasse schließt sich. Als sie sich wieder öffnet, liegt Ill am Boden, tot. "Herzschlag", stellt der Stadtarzt fest. Claire Zachanassian lässt Ill in den Sarg legen, den sie mit ihrem Reisegepäck mitgebracht hat, überreicht dem Bürgermeister den Scheck über eine Milliarde und reist mit ihrem ehmaligen Geliebten ab, um ihn bei sich in Capri, Italien, auf dem Rasen einer Villa beizusetzen.

Von Daniel Wulf, Sifi

Die Interpretationspunkte

1. Die Stadt Güllen, die irgedwo zu finden ist, ist ruinirt und zerfallen. (Gülle - ein anderes Wort für Jauche!)

(Zerfall der alten Ordnugen und überkommenen Werte unserer Zeit; Güllen ist überall: Symbolismus.)

2. Außer Alfred Ill hat niemand in Güllen einen Namen. Die anderen sind nur "Der Bürgermeister", "Der Lehrer", "Der Pfarrer" oder gar nur "Der Erste", "Der Zweite" usw.

(Anonymität der Masse, Verlust der Individualität, Typen.)

3. Der Fahrplan auf dem Bahnhof Güllen ist zerrissen, das Stellwerk verrostet, Schnellzüge halten nicht mehr in Güllen.

(Ausdruck der Unwichtigkeit, der Isolation, unmöglich zu entkommen. Der Bahnhof ist die Endstation Sehnsucht. Hier versammeln sich die Güllener mit einem letzten Rest von Hoffnung im Herzen.)

4. Die "Plaz-an-der-Sonnehütte ist eingegangen.

(Zusammenbruch der Wertewelt; Ironie der Namensgebung.)

5. Die Inschriften auf dem Empfangsplakat für Claire Zachanassian werden nach Bedarf ausgewechselt.

(Ohne Rückrad, Wendigkeit und Charakterlosigkeit unserer Zeit; Anpassung an die jeweillige Lage.)

6. Niemand in Güllen hat eine Uhr.

(Preisgegebenheit an das Schicksal, Stillstand der Zeit, zeitlose Dauer eines hoffnungslosen, vegitativen, Zustandes.)

7. Beim Einzug der Frau Zachanassian in Güllen ertönt die Feuerglocke. (Gefahr ist im Verzug.)

8. Die beiden ehemaligen Zeugen Ills, die einst Meineide schworen, befinden sich als Eunuchen Koby und Loby im Gefolge der Claire Zachanassian. Sie sind kastriert und blind. Sie plappern mechanisch. Diskrepanz zwischen der frölichen Äuserungsform und dem Inhalt der Aussage: "Wir sind blind".

(Falsche Aussage, Verschweigen der Wahrheit, Stafe für Lügen.)

9. Der schwarze Sarg im Gefolge der Milliardärin.

(Gefährdung und Bedrohtheit des Daseins, Vorausdeutung auf das Vorhaben der Milliardärin und auf kommendes Unheil.)

10. Im Goldenen Apostel zerfällt die Einrichtung, der Gips bröckelt ab. (Ironie der Namensgebung; Verfall der Stadt Güllen und der menschlichen Ordnung; Zusammensturz der äußeren Fassade.)

11. Bürger markieren die Bäume, Fliegenpilze und Rehe im Konradsweilerwald.

(Ausschltung der Natur; Verfremdung.)

12. Ills scheinbare Freunde und Gier wird grausam gedämpft: Ill hat in der Absicht, auf Claire Zachanassians Schenkel zu schlagen und ihre Hand zu küssen, sich am Scharnier ihrer Prothese weh getan und sich über eine Elfenbeinhand gebeugt.

(Markabere Ironie, Absurdität des Daseins.)

13. Das von Slaires Vater errichtete "stark beachtete" "Gebaude", ist nur eine Bedürfnisanstalt.

(Wichtigmacherrei, Schleimerrei, falsche Bewunderrung.)

14. Der Bürgermeister betont in seiner Rede, das Claire unvergessen geblieben sei. Aber ein Notizbüchlein muss seinem Gedächtnis nachhelgen.)

15. Die früheren schlechten schulischen Leistungen der Claire Zachanassian werden jetzt als vorbildlich hingestellt.

(Verlogenheit aus Konjunkturpolitik und Gewinnsucht.)

16. Jugenlichen Vergehen der Claire Zachanassian werden jetzt edele Motive, wie Gerechtigkeitsliebe und Wohltätigkeitssinn, zugeordnet.

(Verlogenheit aus Konjunkturpolitik und Gewinnsucht.)

17. Alle Güllener tragen neue gelbe Schuhe.

(Zeichen der Gier, des Neides, der Eifersucht und des unlauteren Wohlstandes.)

18. Geld für einen Mord, Konjunktur für eine Leiche.

(Gewissenlose Versuchung, die mit der Anfälligkeit und Verführbarkeit der Menschen spekuliert.)

19. Mit den Schulden steigt der Wohlstand.

(Wiederspruch: Scheinblüte.)

20. Man jagt Claire Zachanassians "Schoshündchen", den schwarzen Panther - man jagt Ill. Claire nannte ihn früher: "mein schwarzer Panther". Der schwarze Panther wird erschossen und liegt tot vor Ills Ladentür; Ill wird ebenfalls getötet.

(Grotesk-symbolische Parralehandlung; der Panther - Ills "Sympathietier"; die Jagd auf das Tier - Gleichnis für die Jagd auf Ill.)

21. "In Güllen hat Goethe übernachtet, Brahms ein Quartett komponiert. "Diese Werte verpflichten."

("Humanistische Tradition", nur Schein; trotzdem Fortschrittsgläubigkeit, Sensationslust, Gier nach materiellen Gütern und Wohlstand, Gewissenlosigkeit; geistige Werte verpflichten nicht:

Groteske.)

22. Den Zug, mit dem Ill Güllen verlassen will, kann er nicht besteigen, obwohl ihn niemand daran hindert.

(Ausgeliefertsein an das eigene Schicksal, Lähmung durch Angst.)

23. Claire Zachanassian im Braudkleid in einer verfallenen Scheune mit modernem Gerümpel. Brautschleier und Spinnweben.

(Kontrastwirkung, paradoxe Situation, Groteske.)

24. Ãœber den Tod Ills soll so verhnadelt weden. dass nur die Wingeweihten den Sinn der Worte verstehen.

(Scheinbare Humanität, hinter der sich aber die absulute Grausamkeit der Menschen verbirgt. Wir leben in einer Welt der Lüge und des Scheins. Groteske: Man spielt Komödie mit dem Tod eines Menschen.)

25. Die Presse sol dahin unterrichtet werden, das Frau Zachanassian eine Stiftung errichten werde und Ill als ihr alter Jugendfreund diese Siftunge "vermittelt" habe.

(Lüge, um den Schein zu wahren; Pharisähertum; Tarnung eines fürchterlichen Verbrechens vor der Weltöffendlichkeit aus persönlichen Eigennutz.)

26. Der Bürgermeister will Ill dazu verleiten, sich selbst zu erschießen. Ill bietet dem Bürgermeister "Feuer" für seine Zigarette an.

(Makabere Ironie.)

27. Die Autofahrt Ills mit seiner Familie.

(Ills letzte Fahrt!)

28. Claire Zachanassian wechselt ihre Gatten wie Kleidung.

(Die Ehe ist kein heiliges Sakrament mehr)

29. Claire Zachanassian fordert ihren letzten Gatten auf nicht zu denken. Als er das tat, sah er aus wie ein Diplomat. Er geht "forschen".

(Verspottung der gedankenlosen Menschen unserer Zeit, besonderst der Diplomaten. Archäologie als Modewissenschaft unserer Zeit.)

30. Unter dem Vorwand, das Böse nicht mehr aushalten zu können und keine ungerechten Taten mehr begehen zu wollen, verfällt man gerade - sich selbst belügend - dem Bösen der Ungerechtigkeit.

(Selbstbetrug der Menschen, Pharisähertum der Zeit.)

31. Verkennung der tatsächlichen Gegebenheiten durch den Radioreporter, der alles so berichtet, wie er es sieht und der doch alles falsch sieht.

(Anprangerung eines oberflächigen Jornalistentums.)

32. Die Stiftung der Claire Zachanassian wird angeblich nicht des Geldes wegen, sondern der Gerechtigkeit wegen und aus Gewissensnot angenommen.

(Selbsbetrug)

33. Ills Tod wird als Tod aus Freude, durch Herzschlag ausgegeben.

(Selbst vor dem Tod macht die Verlogenheit und Gewinnsucht keinen Halt.)

Von Daniel Wulf, Sifi

Dürrenmatt und die Komödie

Dürrenmatt ist ein schonungsloser Moralist und Satiriker, zu dessen literarischen Ahnen Aristophanes, Plautus, Moliere, Nestroy, G. Kaiser, Wedekind, Sternheim, Giraudoux, Pirandello, Wilder zählen. Er erkennt keine dramatischen Gesetze an; in dem Vortrag "Theaterprobleme" (1955) erklärt er die Komödie zur einzigen heute möglichen Bühnenform, aus der heraus sich das Tragische wie bei Shakespeare noch erzielen lasse. Die Tragödie im Sinne Schillers setze eine überschaubare Welt voraus, die im Atomzeitalter nicht mehr gegeben sei.

Er will nicht "allzu billig" Trost geben, vielmehr mit dem "Abenteuer die Wahrheit sagen", sein Publikum "ärgern", will "grotesk sein aus der Notwendigkeit heraus, tendenziös und künstlerisch zugleich aufzutreten". Er weiß "um das Absurde dieser Welt", verzweifelt aber nicht, "denn wenn wir auch wenig Chancen haben, sie zu retten - es sei denn, Gott sei uns gnädig -, bestehen können wir sie immer noch". So hält er in einfallsreichen Farcen und parodistischen Fabeln, stofflich der Moritat und Räuberpistole verwandt, formal vom Lyrischen bis zum Kabarettistischen gespannt, dem Zeitgenossen mit heizendem Humor, Witz und Zynismus den Weltspiegel vor, dass dessen Gewissen geweckt werde.

Schon der umstrittene Erstling "Es steht geschrieben" (Tragikomödie, 1947) mit 41 Rollen, ein ironisch skeptischer Bilderbogen aus der münsterischen Schreckensherrschaft der Wiedertäufer, brachte Dürrenmatt in den Ruf eines "unbequemen Zeitgenossen". In der leichteren "ungeschichtlichen historischen Komödie" bzw. späteren "komischen Tragödie" "Romulus der Große" (1949; zweite Fassung 1957) verulkt Dürrenmatt sarkastisch die Staatsraison im Beispiel des letzten römischen Kaisers, der hühnerzüchtend das Imperium liquidiert, weil man "das Vaterland weniger lieben soll als den Menschen" .

Unmittelbar die Zeitgenossen trifft die "leichenreiche" Komödie "Die Ehe des Herrn Mississippi" (1952; Neufassung 1957), Mischung aus Moritat, Panoptikum, moralischem Überbrettl und dramatischem Pamphlet, die Dürrenmatts Weltruf begründete. Drei Weltverbesserer, ein Staatsanwalt, der im Sinne einer Wiedereinführung des Gesetzes Mosis seine ungetreue Ehefrau vergiftet hat, ferner ein Edelkommunist und ein heruntergekommener Tropenarzt, letzterer ein idealistischer Liebender, gehen darin zugrunde, auch eine Witwe, die lügenhafte Geliebte ähnlich der Lulu Wedekinds, die ihren Mann vergiftet hat und darum vom Staatsanwalt zu gemeinsamer "Sühne" zur Ehefrau genommen wird; lediglich ein brutaler Machtmensch überlebt, davon überzeugt, dass man "alles ändern" könne, "nur den Menschen nicht".

Weniger moralisierende Zeitsatire als parodistische Phantasmagorie, ein Märchen und zugleich kabarettistisches Gleichnis ist die "Komödie" "Ein Engel kommt nach Babylon" (1953; Neufassung 1957), ausgezeichnet mit einem Anerkennungspreis der Stadt Bern; der tyrannische König Nebukadnezar, unfähig, der Macht zu entsagen und arm zu werden, verliert darum ein reines Mädchen, das von einem Engel auf die Welt gebracht worden war, an einen Bettler und attackiert mit einem Turmbau frevelhaft den Himmel.

International erfolgreich war die tragische Komödie "Der Besuch der alten Dame" (1956; Uraufführung 1956 im Schauspielhaus Zürich), in der eine amerikanische Milliardärin in ihren verschuldeten Heimatort kommt und von den Einwohnern gegen ein Milliardenangebot ihren Jugendgeliebten, der sie schändete und verstieß, als Leiche fordert - und bekommt, nachdem die zunächst entrüstet ablehnenden Bürger Kredit auf das lebende Opfer aufgenommen haben und dieses schließlich aus "moralischen Beweggründen" töten.

In der Komödie "Die Physiker" (1962) brandmarkt Dürrenmatt den Griff der Großmächte nach atomaren Vernichtungsmitteln und kennzeichnet die Last der Verantwortung, die auf Forschern und Erfindern ruht; aber nicht einmal in der Abgeschiedenheit eines Irrenhauses sind sie vor einer heimtückischen Auswertung ihrer Forschungen durch eine vom Wahnsinn besessene, machtgierige Welt sicher.

Ein großer Bühnenerfolg war die 1966 im Züricher Schauspielhaus uraufgeführte, sich an die klassischen Regeln der drei Einheiten haltende, äußerst konzentrierte Komödie "Der Meteor", in der Dürrenmatt die Thematik des Wunders der Auferstehung behandelt.

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Das Weltgefühl, das aus Friedrich Dürrenmatts Werken spricht, liegt vor aller rationalen Erfahrung, es ist ursprünglich und unauflöslich: das Gefühl der Kleinheit und Ohnmacht des Menschen vor einer chaotischen, nicht zu bewältigenden Welt, die ein Ungeheures ist, ein Rätsel an Unheil, das hingenommen werden muss, vor dem es jedoch kein Kapitulieren geben darf. In seinen theoretischen Äußerungen leitet Dürrenmatt dieses Gefühl immer wieder aus dem heutigen Zustand der Welt ab, aus dem Terror der Apparate und Organisationen, aus der Bürokratisierung und Technisierung aller Gesellschaftsformen, die das entmachtete Individuum unter sich begraben - im Grunde aber sind das nur Erscheinungen, in denen ein ursprüngliches Gefühl der Ohnmacht sich bestätigt findet, eine Verlorenheit, die nicht durch eine veränderte Gesellschaft aufgehoben werden könnte, sondern durch den Glauben an eine allseits gerechte göttliche Ordnung der Welt.

Obwohl Dürrenmatts Werke immer wieder Erscheinungen unserer Zivilisationsgesellschaft aufgreifen, obwohl er selbst immer wieder Art und Stil dieser Werke nicht nur zu unserer Zeit in Beziehung setzt, sondern sogar theoretisch aus ihr ableitet, sind sie im wesentlichen nicht Auseinandersetzung oder gar Antworten auf diese Zeit. Sie stellen im Kostüm unserer Welt Ursituationen dar, tragen unter den Bedingungen unserer Zeit Urkonflikte aus.

Es geht in Ihnen nicht um den Wohlfahrtsstaat, das kapitalistische System oder den Atomkrieg, sondern um Verrat, Schuld, Sühne, Treue, Freiheit und Gerechtigkeit -

nicht um Psychologie, Soziologie, Politik, sondern zuerst und zuletzt, im absolutesten Sinne des Wortes, um Moral.

Ein Drama soll - das ist für Dürrenmatt die Möglichkeit und Pflicht des Theaters - den Zuschauer aufstören, soll in ihm Fragen provozieren, aber nicht Fragen an das Stück, sondern an ihn selbst, an seine eigene Moral. Dürrenmatts Geschichten bringen in einer unmoralischen (untragischen) Weit Menschen in Konfliktsituationen, die sie zu moralischen (tragischen) Entscheidungen zwingen. Das heißt für Dürrenmatt: Theater ist eine Sache sinnvoller Übertreibung, es wirkt nicht durch Nuancen, sondern durch möglichst starke Kontraste, Wendungen müssen nicht subtil vorbereitet werden, sondern möglichst direkt und frappant zustande kommen, die Konturen dürfen nicht durch psychologische Verästelung verwischt werden, vielmehr müssen die Personen schon durch Habitus und Redeweise drastisch typisiert sein, die Distanz zwischen den Gegenspielern soll möglichst extrem sein: der erste und der letzte, König und Bettler, Richter und Henker, Mörder und Opfer. Die Theatralik dieser Weit der Superlative ist enorm, so enorm, dass es manchmal unmöglich scheint, der Auseinandersetzung zwischen Treue und Verrat, zwischen Schuld und Sühne, die in ihr ausgetragen wird, ähnliche Dimensionen zu geben.

Dürrenmatts Einfälle, seine Anfänge sind immer unanfechtbar zwingend, ihre dramaturgische Entwicklung aber kann die Gegenspieler in so extreme Positionen treiben, dass alle moralischen Kategorien gesprengt werden, sie nähern sich Punkten jenseits der Dialektik von Gerechtigkeit und Gnade, wo nur noch rhetorische Rückzüge möglich sind, weil dramaturgisch notwendiges und moralisch zwingendes Handeln nicht mehr übereinstimmen. So ist zu erklären, dass Dürrenmatts Geschichten oft in verschiedenen Fassungen verschiedene Schlüsse haben. Viel später erst als mit der Notwendigkeit, vom Einfall auszugehen und ins Blaue hinein zu schreiben, hat Dürrenmatt sich mit der Schwierigkeit auseinandergesetzt, seine sich eigenmächtig entwickelnden Fabeln zu einem zwingenden Schluß zu führen, und postuliert: "Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat."

Von Daniel Wulf, Sifi

Weitere Werke

Dürrenmatt schrieb Romane und Hörspiele, als Zentrum seines Schaffens ist jedoch die Dramatik anzusehen. Entscheidend wurde für ihn die Konfrontation mit der Dramatik Thornton Wilders und Berthold Brechts.

Die frühen Dramen "ES STEHT GESCHRIEBEN" und "DER BLINDE" widmen sich noch ganz der Problematik einer religiösen Haltung in einer umstürzlerischen Zeit. Sein erstes Drama "Es steht geschrieben" (1947) rief in Zürich einen Theaterskandal hervor. "Der Blinde" wurde gelassen aufgenommen. Dürrenmatt wurde zum unbequemen, zeitkritischen Autor. Den durchschlagenden Welterfolg aber, brachte "DER BESUCH DER ALTEN DAME", welches auch verfilmt wurde.

Auch mit seinem Komödien, in denen er sich als Moralist mit ausgeprägten Hang zur Groteske und schockierender Verfremdung erweist, fand er eine begeisterte Aufnahme in der Öffentlichkeit, z.B. mit den Werken "DIE EHE DES HERRN MISSISSIPI", "EIN ENGEL KOMMT NACH BABYLON", "ROMULUS DER GROßE", "DER METEOR", "DIE PHYSIKER" oder "DIE FRIST".

Die meisten seiner Stücke liegen in mehreren Fassungen vor. Wie in seinem Bühnenstücken, deren jüngstes ("ACHTERLOO") 1983 uraufgeführt wurde, hielt er auch in seinen Erzählungen "DIE PANNE", "DER STURZ", "DER RICHTER UND SEIN HENKER", "DER VERDACHT", "GRIECHE SUCHT GRIECHIN" und in jüngster Zeit "JUSTIZ" unserer Zeit den Spiegel ihrer Selbsttäuschung und Doppelzüngigkeit vor.

Weitere Werke: "WEIL NOCH DAS LÄMPCHEN GLÜHT"

"DER DOPPELGÄNGER"

"DER TUNNEL"

"SÄTZE AUS AMERIKA"

"ALBERT EINSTEIN"

"DAS PROSAWERK"

"ES STEHT GESCHRIEBEN"

"HERKULES UND DER STALL DES AUGIAS"

"NÄCHTLICHES GESPRÄCH MIT EINEM

"VERACHTETEN MENSCHEN"

"HERR KORBES EMPFÄNGT"

"OPER EINER PRIVATBANK"

"DER NIHILIST"

"DIE STADT"

"THEATERSCHRIFTEN UND REDEN"

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