In der Strafkolonie

Erzählung, geschrieben im Oktober 1914, erschienen 1919

Ein Forschungsreisender besucht die auf einer entlegenen Insel eingerichtete Strafkolonie einer europäischen Großmacht, wo ihm stolz eine Exekution mittels einer Maschine vorgeführt wird, den - wie dem Reisenden erzählt wird - der verstorbene Kommandant, "Soldat, Richter, Konstrukteur, Chemiker, Zeichner" in einer Person.

Der "eigentümliche Apparat", dessen Erklärung und Bedienung ein jüngerer Offizier übernommen hat, besteht aus drei Hauptteilen: einem vibrierenden "Bett", auf das der Verurteilte bäuchlings geschnallt wird, dem darüber an vier Stangen befestigten "Zeichner", der das Antriebsräderwerk enthält, und einem dazwischen schwebenden, mit einem komplizierten Nadelsystem befestigten Stahlband, womit dem Opfer das übertretene Gebot in den Rücken geritzt wird. Erst durch seine Wunden erfährt der Verurteilte, dass er verurteilt worden ist: "Es wäre sinnlos, es ihm zu verkünden. Er erfährt es ja auf seinem Leib. Seine Schuld ist "immer zweifellos". Möglichkeit der Verteidigung gibt es keine; eine Milderung Urteils ist ausgeschlossen.

Die Dauer einer Hinrichtung beträgt gewöhnlich zwölf Stunden, mit einem "Wendepunkt ungefähr in der Mitte", wenn der Verurteilte beginnt, die Schrift seiner Wunden zu entziffern: "Wie still wird aber dann der Mann! Verstand geht dem Blödesten auf." In früheren Zeiten, als das Strafverfahren noch in Blüte stand, bestaunten alle Zuschauer, vor allem aber die Kinder, den "Ausdruck der Verklärung" und den "Schein dieser endlich erreichten und schon vergehenden Gerechtigkeit" im Angesicht des Sterbenden, dessen Leiche nach vollzogener Hinrichtung vollends aufspießt und in die Grube wirft, wo er eingescharrt wird.

Der Reisende bekennt sich bestürzt als Anhänger der "neuen milden Richtung", wie sie auch der neue Kommandant vertritt: "Die Ungerechtigkeit des Verfahrens und die Unmenschlichkeit der Exekution waren zweifellos."

Daraufhin schenkt der Offizier, unfähig, in einer Zeit zu leben, die ihn der Schande des Hilfesuchens überlässt, dem Verurteilten die Freiheit, ordnet das Räderwerk neu an, um die Maschine das Gebot "Sei gerecht!" schreiben zu lassen, und befiehlt dem wachhabenden Soldaten, ihn auf das Bett zu fesseln.

Doch der Apparat scheint die Opferung seines Betreuers abzulehnen: Während die Zahnräder wie unter ungeheurem Druck aus dem Zeichner gepresst werden, zerstört sich die Maschine selbst und hebt, wie sonst erst in der zwölften Stunde, den blutüberströmten Körper über die Grube, ohne ihn freizugeben und auf dem Gesicht des Toten lässt sich kein "Zeichen der versprochenen Erlösung" ablesen: "die Lippen waren fest zusammengedrückt, die Augen waren offen,(...) der Blick war ruhig und überzeugt, durch die Stirn ging die Spitze des großen Stachels."

Zunächst besucht der Reisende noch das Grab des alten Kommandanten, dessen Grabinschrift seine baldige Wiederauferstehung ankündigt ("Es besteht eine Prophezeiung, dass der Kommandant ... auferstehen und aus diesem Hause seine Anhänger zur Wiedereroberung der Kolonie führen wird. Glaubet und wartet!"), entschließt sich aber dann zu einer überstürzten Abreise.

Die Erzählung entstand sofort nach Kafkas Roman "Der Prozeß" und steht in unmittelbaren Zusammenhang damit: K.s Ahnung, dass "ein einziger Henker" genüge, um das ganze Gericht zu ersetzen, scheint "In der Strafkolonie" wahr geworden zu sein: der Kommandant ist Polizist, Richter und Henker zugleich, die Schuld ist immer zweifellos.

QUELLEN:

Eine Quelle Kafkas war der Aufsatz "Der Beamte" von Alfred Weber, der sich gegen die Auffassung von Beamten als funktionierende Rädchen in einer irrationalen Maschinerie wendet und darin das Wortfeld um "Maschine" und "Apparat" benutzt, um das Phänomen Bürokratie zu beschreiben. Kafka nimmt die Maschinenmetaphorik wörtlich, denkt sie konsequent zu Ende und entlarvt sie.

Andere Quellen bildeten wahrscheinlich:

* der Fall Otto Groß 1913, der die Diskussion um ein liberales Strafrecht am Schicksal einer Einzelperson anschaulich machte und der schon den "Prozeß" beeinflußte

* "Meine Reise nach den Strafkolonien", ein Reisebericht über Neukaledonien als Strafkolonie des Kriminalisten Robert Heindl, der 1912 in Prager Tageszeitungen vorabgedruckt wurde

* Schopenhauer: "Um allezeit einen sicheren Kompaß, zur Orientierung, bei der Hand zu haben .... ist nichts tauglicher, als dass man sich angewöhne, diese Welt zu betrachten, als einen Ort der Buße, also gleichsam eine Strafanstalt, a penal colony."

* Octave Mirbeaus "Der Garten der Qualen" : Dieser 1899 entstandene Roman handelt von einem französischen Forschungsreisenden, der unterwegs ist, um die verschiedenen Systeme der Verwaltung von Strafkolonien zu studieren. In China begegnet er einer Freundin wieder, die ihn zu einem Besuch in den "Garten der Qualen" auf der anderen Seite des Flusses einlädt, der einmal pro Woche für Fremde geöffnet wird.

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