Bürgerliches Trauerspiel

Anfänge

Entstehungszeit

Das bürgerliche Trauerspiel ist ein Produkt der literaturgeschichtlich fruchtbaren Umbruchszeit Mitte des 18. Jh. In dieser Zeit konnte "bürgerlich" verschiedene Bedeutungen haben: Während der Bürger als verantwortliches Mitglied eines Gemeinwesens nicht bedeutsam wurde, blieben zwei Bedeutungen parallel bestehen: Bürgerlich in Bezug auf den 3. Stand und im Sinn von menschlich, privat und häuslich. Nach und nach erfolgte eine Klärung hin zu einem Privat-Trauerspiel, das nicht von ständischen Problemen oder vom Klassenkampf handelt sondern von häuslichen Leben und moralischen Verhalten.

"Bürgerlich" meint nicht den Stand, sondern die Lebensweise. Die Hauptpersonen sind Privatmenschen im Familienkreis, während es im heroischen Trauerspiel meist Könige großer Reiche oder Kriegshelden sind. Sie stammen aus dem Mittelstand, der nach oben von Fürsten und Königen und nach unten vom einfachen Volk begrenzt ist.

Geistes- und literaturgeschichtliche Bedeutung

Das Auftreten des bürgerlichen Trauerspieles stellt nicht nur eine bloße Verlagerung des Tragischen in das Bürgerliche dar, auch das Tragische selbst ändert sich. Während in der heroischen Tragödie der Mensch von Königen und Helden repräsentiert wird, deren Unglück unabwendbar ist, kommt bei der bürgerlichen Tragödie das Mitmenschliche, Private und der Mensch in seiner Bindung an die Gemeinschaft in den Mittelpunkt, der nicht von einem Schicksal aus dem Jenseits bestimmt wird. Die Hauptpersonen sind keine Märtyrer, die Ursache des Tragischen sind keine undurchschaubaren Verhältnisse, sondern die Menschen und die Welt selbst. Religiöse und theologische Horizonte sind zwar nicht ausgeschlossen, kommen aber als Grund für Verwicklungen jeglicher Art nicht in Frage.

Vorgeschichte in Deutschland

Das erste echte bürgerliche Trauerspiel, Gotthold Ephraim Lessings "Miß Sara Sampson" (1755), wurde schon lange vorbereitet, vor allem durch die Entwicklung des deutschen Dramas selbst. Auch in der normalen Tragödie fand eine Verbürgerlichung der Helden statt. Sie wurden menschlicher und befaßten sich nicht mehr ausschließlich mit Staatsproblemen. Erleichtert wurde der Übergang durch anti-französische Stücke, die an den Deutschen die bürgerlichen Tugenden verherrlichten. Eine frühe Annäherung an das bürgerliche Drama ist "Cardenio und Celinde" von Andreas Gryphius (1657). Der Autor schrieb selbst, dass die Personen fast zu niedrig für ein Trauerspiel seien und dass die Sprache auch einfach sei. Jedoch fehlt die bürgerliche Ideologie vollständig. Bei Johann Elias Schlegels "Canut" (1746) ist diese durch die Verurteilung des Heroismus zugunsten der Menschlichkeit, die im Konflikt zwischen dem rücksichtslosen und egozentrischen Feldherren Ulfo und dem humanen und aufgeklärten König Canut auftritt, bereits vorhanden, doch das Drama spielt nicht unter Bürgern. Bei "Rhynsolt und Sapphira" von Christian Leberecht Martini (1755) sind einige Personen bereits bürgerlich und es wird Kritik am höfischen Leben angedeutet, es ist jedoch mehr barock als bürgerlich.

Ausländische Anregungen

Den größten ausländischen Einfluß hat England, obwohl nur zwei bedeutende Stücke vorhanden sind: "The London Merchant" von George Lillo (1731) und "The Gamester" von Edward Moore (1753), die in England und Deutschland sehr erfolgreich waren. Die Bedeutung für das deutsche bürgerliche Trauerspiel ist jedoch nicht ein konkreter Einfluß auf bestimmte Stücke, die englischen Werke machten eher Mut zu eigenen Leistungen. Das einzige direkt beeinflußte Stück ist Joachim Wilhelm von Brawes "Freigeist" (1759).

Starke Einwirkungen erfolgten durch die häuslich-empfinsamen Mittelstandsromane von Samuel Richardson, die auch schon auf "Miß Sara Sampson" einwirkten. Vor allem der Roman "Clarissa", der von Johann Heinrich Steffens in ein bürgerliches Trauerspiel umgestaltet wurde, hinterließ starke Spuren. Frankreich hatte nur sehr wenig Einfluß auf die Entwicklung, Italien gar keinen.

Das bürgerliche Trauerspiel ist also weder eine Deutsche Gattung noch ein Import. Die Entwicklung erfolgte in England und Deutschland im Zusammenhang mit einer Besinnung auf neue Möglichkeiten des Dramas.

"Miß Sara Sampson" und die Folgen

Empfindsamkeit und Bürgerlichkeit

In der ersten Phase des deutschen bürgerlichen Trauerspiels erscheint der Privatmensch in seiner mitmenschlichen Beziehung. Er ist an seine Gemeinschaft gebunden, bemüht um Tugend, gefühlsfreudig und empfindsam.

Im 18. Jh. war das Bürgertum Hauptträger der Empfindsamkeit. Das ist kein Widerspruch dazu, dass die bürgerliche Gesinnung aufklärerisch und rationalistisch war, denn spätestens seit den vierziger Jahren standen Aufklärung und Empfindsamkeit nicht gegeneinander. Die Gemeinsamkeit ist die Autonomie des Ich. Das Gefühl der Empfindsamkeit ist ja nicht Leidenschaft, sondern eine maßvolle Rührung, die auch eine Idee der Aufklärung ist.

Die Gründe für diese Empfindsamkeit des Bürgertums liegt in der zerklüfteten politischen Situation, die keinen Nationalgeist aufkommen ließ. So war es eigentlich funktionslos und suchte Selbstbetätigung und Selbstbewußtsein auf moralisch-privatem Gebiet. Der Bürger verstand sich vor allem als Mensch und als standesloses Gefühlswesen. Da Standesunterschiede als belanglos dargestellt und die Darsteller aus Adel und Bürgertum gemischt waren, eroberte die Geistigkeit des Bürgertums auch andere Stände. Das Bürgertum suchte Gleichheit zu erlangen, indem es seine Moral als überlegen darstellte.

So ist der Standesunterschied anfangs kein Thema und Motiv in den Stücken, sowohl Adelige als auch Bürger sind gut und böse. Dies ändert sich erst nach 1770, z.B. bei "Emilia Galotti" (1772) und "Kabale und Liebe" (1784).

Die Theorie des "Privat-Trauerspiels"

Die Entfaltung des bürgerlichen Trauerspiels in den 50er und 60er Jahren ist auch von Bemühungen um die theoretische Rechtfertigung begleitet. Die Theorie des bürgerlichen Trauerspiels ist oft nicht trennbar von der Theorie des Trauerspiels überhaupt. Obwohl Abhandlungen häufig logisch unklar und gegensätzlich sind, weisen alle Theorien einige Gemeinsamkeiten auf: Das bürgerliche Trauerspiel ist der heroischen Tragödie überlegen, weil es größeren Nutzen stiftet. Damit ist vor allem sittliche Besserung gemeint. Erzielt wird sie nicht durch die Einsicht des Zuschauers oder die Bewunderung standhafter Übermenschen, sondern durch die Wirkung auf das Gemüt, d.h. durch Rührung. Angesprochen wird vor allem die Fähigkeit, Mitleid zu fühlen. Die moralisch bessernde Wirkung ist daher die Erziehung zu einer optimalen Mitleidsfähigkeit.

Dies ist am leichtesten zu erreichen, wenn die dargestellte Welt möglichst wirklichkeitsgetreu ist. Der Zuseher nimmt dann mehr Anteil, weil das Unglück auch selbst erleben könnte. Dadurch kann er sich mit den Schauspielern identifizieren und bedauert in den unglücklichen Personen eigentlich sich selbst.

Die dargestellten Privatpersonen sollen einen moralischen Durchschnitt darstellen und keine Extreme sein. Auch wenn eine Person gut ist, soll sie keine kalte, intellektuelle Bewunderung hervorrufen. Die Personen befinden sich in Gemeinschaften, die auf seelischen Bindungen beruhen und treten als Vater, Mutter, Tochter oder Freund auf. Selbst hochgestellte Personen können mitspielen, wenn sie diese Voraussetzungen erfüllen, z.B. Ernst Karl Ludwig Ysenburg von Buris Trauerspiel über die letzten Tage von König Ludwig XVI von Frankreich (1793).

Das empfindsame bürgerliche Trauerspiel

Das erste bürgerliche Trauerspiel ist "Miß Sara Sampson" von Gotthold Ephraim Lessing (1755). Es ist Lessings einziges empfindsames bürgerliches Trauerspiel, alle anderen Versuche kamen über den ersten Akt nicht hinaus. "Miß Sara Sampson" war sehr erfolgreich und fand viele Nachahmer, die aber weit nicht so bedeutend sind. Es erfüllt seine Bestimmung, indem es den tugendhaften Menschen im Unglück zeigt. Sara ist die Trägerin höchster Moral, ihr Gegenspieler Marwood dagegen ist vorbürgerlich gewissenlos und egoistisch. Die innere Handlung ist eine sittliche Läuterung, in der Vergebungsszene am Schluß bezeugen alle ihre bürgerliche Moralgesinnung.

Das Modell Lessings bot seinen Zeitgenossen viele Möglichkeiten für empfindsame Prägungen. Dazu gehören die Möglichkeit zum Weinen als Ausdruck eines gerührten Herzens, wortreiche Analysen von verfeinerten moralischen Gefühlen und zarten Gewissenskonflikten und breit ausgemalte emotionale Situationen. Dadurch sind auch die Hauptpersonen meist weiblich.

Dieses Modell bewährte sich, so dass die nächsten Jahrzehnte kein Grund zu groben Änderungen bestand, vor allem, weil alles sehr variabel ist, z.B. das Maß der Schuld und das Gewicht der mildernden Umstände, die man den leidenden Hauptpersonen zubilligt. Orientierungspunkte bleiben die ganze Zeit über Tugend und Laster, oft zieht ein lehrhaftes Schlußwort Bilanz. Gewarnt wird vor der Ausartung empfindsamer Liebe zu maßloser Leidenschaftlichkeit.

Durch diese grundsätzlichen Gemeinsamkeiten sind auch Figuren, Situationen und Motive, selbst Handlungsort - häufig England - und Handlungszeit - kurz vor der von den Eltern bestimmten Heirat - meist ähnlich. Die Stücke spielen immer in der Gegenwart - Mitte und Ende des 18. Jh. - im Familienkreis, die Sprache ist bis auf wenige Ausnahmen Prosa. Absichtliche Komik, um die tragische Stimmung zu steigern, gibt es nur selten.

Das tugendhafte, aber schwache junge Mädchen im Mittelpunkt kommt in Konflikt mit den Eltern, wenn es statt dem ausgesuchten Mann einen anderen liebt. Der Vater kann dabei zwischen autoritär und zärtlich vom Autor gewählt werden, die Mutter tritt oft kaum auf. Die Konflikte sind rein materiell und nicht ständisch. Pflicht und Liebe, Gewissen und Herz geraten in Widerspruch. Es folgen Entführung, Flucht, Verstoßung, Eifersucht, Verfolgung, Rückkehr und Reue, auch Mord ist häufig. Der Liebhaber ist meist empfindsam und tugendhaft, jedoch charakterlich schwach und schwankend, manchmal auch reumütig, aber nie wirklich böse. Die Gegenspieler - Vater, Rivale oder falscher Freund - sind gefühllos, egoistisch oder tyrannisch und triumphieren nicht. Meistens wird ihnen die Chance zu Sündenbekenntnis oder Reue gegeben, auch Selbstmord ist nicht selten. Breit ausgemalte Sterbeszenen sind überhaupt sehr beliebt.

Oft bezeugt gerade im größten Unglück am Schluß ein allseitiges Verzeihen und Verstehen die bürgerliche Tugend, die gefühlvolle Familiengemeinschaft stellt sich, wenn auch dezimiert, wieder her.

Von "Emilia Galotti" bis "Kabale und Liebe"

Standesbewußtsein und Gesellschaftskritik

Das empfindsame bürgerliche Trauerspiel ist bis ca. 1780 populär, bis 1800 gibt es noch vereinzelte Nachzügler. Mit Gotthold Ephraim Lessings "Emilia Galotti" erschien 1772 ein anderer Typus des bürgerlichen Trauerspiels, der sich bis Friedrich Schillers "Kabale und Liebe" (1784) behauptete und dann ein jähes Ende fand. Einiges blieb unverändert: Die Gegenwartsnähe des Stoffes, realistische Wiedergabe des Alltages und Konzentration auf die Probleme des Familienlebens. Der Unterschied ist jedoch wesentlicher: Außer leisen Andeutungen bei den Frauen- und Mädchengestalten gibt es keine Empfindsamkeit mehr, die durch durch die Leidenschaftlichkeit des subjektiven Menschen ersetzt wird. Der Mensch erscheint jetzt primär als Vertreter eines genau fixierten Standes- und Berufsmilieus und ist nicht mehr der moralische Privatmensch in seiner abstrakten Allgemeinheit. Er ist kleinbürgerlicher Handwerker, großbürgerlicher Kaufmann oder Beamter, Landedelmann oder aristokratischer Offizier. Seiner sozialen Lage entspricht jeweils eine kennzeichnende ständisch bedingte Mentalität. Die Charaktere der Menschen resultieren nun aus ihrem Stand, Tugend und Laster werden in ihrem gesellschaftlichen Zusammenhang erfaßt. Aber obwohl die gesellschaftliche Lage bis zu einem gewissen Grad Schicksal wird, ist der Mensch noch nicht vollständig durch seinen Stand und sein Umfeld vorherbestimmt.

Während im bürgerlichen Trauerspiel der Empfindsamkeit bürgerliche und nicht bürgerliche Gesinnung gegenübergestellt wurde, wird nun der Standesgegensatz ausschlaggebend. Dies ist historisch gesehen eine enttäuschte Absage an den sozialpolitischen Utopismus der Empfindsamkeit, der die moralische Überwindung gesellschaftlicher Gegensätze für möglich hielt. Dabei handelt es sich nicht nur um den Gegensatz Mittelstand - Obrigkeit, auch der Mittelstand ist in Adel, hohes und niedriges Bürgertum gespalten. Der Gegensatz der sozialen Schichten ist nun mindestens ein Mitgrund für den tragischen Konflikt. Das Adjektiv bürgerlich ist in diesen Jahren vor allem ständisch zu sehen, wenn auch die ältere Bedeutung noch nachwirkt. Gesellschaftskritisch behandelt wird vor allem die Aristokratie, erst in zweiter Linie das Bürgertum, aus dem ja die Verfasser stammen.

Bei diesen Dramen, die "Emilia Galotti" zum Vorbild haben, ist die Bezeichnung "bürgerliches Trauerspiel" selten, vielleicht, um sie nicht mit den empfindsamen bürgerlichen Trauerspielen zu verwechseln, vielleicht auch, weil die Autoren des Sturm und Drang nicht um definitorische Exaktheiten bemüht waren.

Spielarten des bürgerlichen Trauerspiels im Sturm und Drang

In "Emilia Galotti" sind zwei Problemkreise verschränkt, ein politischer - Die Obrigkeit im absolutistischen Staat - und ein sozialer - die ständische Gesellschaftsordnung. In den Tragödien der Stürmer und Dränger sind diese getrennt oder berühren sich nur leicht. Erst am Schluß, bei "Kabale und Liebe", nähern sie sich wieder an.

Tyrannenhaß und Kritik an der Trennung der Stände stehen im Gegensatz zu einem subjektivistischen Kult der Individualität. Politische und soziale Gesichtspunkte, die von der damaligen Gesellschaftskritik entwickelt wurden, wirken nicht nur auf die Literaturkritik, sondern auch auf die Literatur selbst. Wohl erliegt der Sturm und Drang in seiner Reaktion auf die bestehende Gesellschaft nicht selten der Versuchung, im Namen der Entwicklung des Individuums gesellschaftliches Dasein als Hemmnis zu verwerfen und nur den Tatmenschen zu bewundern, ohne Rücksicht auf die Richtung seines Strebens. Dennoch nimmt die konkrete Kritik an spezifischen politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen der Zeit einen breiten Raum im Sturm-und-Drang-Drama ein.

Wichtige sozialpolitische Themengruppen sind: Die Familie als soziales Problem, Ständeprobleme und der Kampf gegen die korrupte Staatsgewalt. Die Themenbehandlung erfolgt im Allgemeinen aggressiv, grell pointierend und tendenziös. Die verschwommene Gegenwärtigkeit des bisherigen bürgerlichen Trauerspiels wandelt sich zu einer krassen Aktualität. Dem entspricht auch die Theorie des Dramas, soweit sie im Sturm und Drang überhaupt vorhanden ist.

Der Standesgegensatz als gesellschaftlicher Defekt und die Kritik am Verhalten von Adel und Bürgertum sind die Hauptthemen des bürgerlichen Trauerspiels, während die Probleme der mangelhaft verwalteten absolutistischen Obrigkeit eher im normalen Drama behandelt wird. Die einzige Ausnahme davon ist "Kabale und Liebe". Ein Sonderfall in jeder Hinsicht ist Joseph August Graf Törrings "vaterländisches Trauerspiel" "Agnes Bernauerin" (1780). Das Motiv der heimlichen Eheschließung zwischen Adel und Bürgertum stellt sowohl das Thema der Standesschranken als auch das der absolutistischen Obrigkeit dar. Der Hauptgesichtspunkt ist hier aber die Erhaltung des Staatswesens in seiner bestehenden Form.

Spuren des bürgerlichen Trauerspiels findet man auch in Sturm-und-Drang-Dramen, die nicht als bürgerliche Trauerspiele zu behandeln sind, z.B. Friedrich Schillers "Die Räuber" und Johann Wolfgang von Goethes "Götz von Berlichingen". Auch im "Egmont" wird die Unfähigkeit der Bürger zum politischen Handeln und ihre Unentschlossenheit in der Verteidigung der politischen Freiheit gezeigt.

Eine interessante Variation des bürgerlichen Trauerspiels ist Goethes "Clavigio" (1774). Der sonst nur äußerlich dargestellte Standeskonflikt wird hier ins seelische verschoben. Clavigio, ein Emporkömmling aus einem niedrigen Stand, hat es geschafft, an den spanischen Hof zu kommen und schwankt nun zwischen der Heirat einer Bürgerlichen und dem Bleiben am Hof.

Das beliebteste Motiv des bürgerlichen Trauerspiels im Sturm und Drang ist die Liebesbeziehung über die Standesgrenzen hinweg, hauptsächlich zwischen Adel und Bürgertum, aber auch zwischen den verschiedenen Schichten innerhalb des Bürgertums. Ein Beispiel dafür ist Heinrich Leopold Wagners tragisches Schauspiel "Die Reue nach der Tat" (1775). Das Tragische ist das gesellschaftliche Vorurteil der bürgerlichen Justizrätin Langen gegen die kleinbürgerliche Geliebte ihres Sohnes. Ihre Machenschaften führen schließlich zum Tod beider Liebenden, ihre Einsicht kommt zu spät.

Im Gegensatz dazu wählt Wagner in der "Kindesmörderin" (1776) die Liebe des adeligen Offiziers zu einem kelinbürgerlichen Mädchen. Damit verbunden ist das Motiv des Kindsmords der Mutter. Die Schuld der verhängnisvollen Ereignisse wird einerseits dem standestypischen Verhalten zugeschrieben, andererseits wird die Katastrophe aber durch die Krankheit des längst reuigen Verführers herbeigeführt. Damit zeigt Wagner aber auch, dass man sich ideologisch über die Klassenschranken hinwegsetzen kann.

Darin unterscheidet er sich von Jakob Michael Reinhold Lenz, der die geistig-moralische Vorherbestimmung des Menschen durch seinen Stand am eindringlichsten vorführt. Bei ihm wird auch jeder in Erscheinung tretende Kreis, hauptsächlich der Mittelstand, kritisch beleuchtet und die Gesellschaft kritisch dargestellt. Da bei ihm aber auch der Charakter den Menschen bestimmt, gibt es positive und negative Adelige und Bürger. Trotz dieser Objektivität werden die Schattenseiten der Gesellschaft überbetont. Auch die Sozialkritik selbst ist nur negativ und nicht konstruktiv. Die konkreten Verbesserungsvorschläge wirken eher wie Ironie.

Die zwei wichtigsten bürgerlichen Trauerspiele von ihm sind "Der Hofmeister" (1774) und "Die Soldaten" (1776). Im ersten versucht ein bürgerlicher Privatlehrer in einem adeligen Haus die Konflikte, im zweiten eine Liebesbeziehung zwischen Adel und 3. Stand. Die Welt ist jedoch in der Komödie "Der Hofmeister" so ins lächerliche verzerrt, dass man nicht mehr von einem Trauerspiel sprechen kann. Dazu kommt auch noch die gewaltsame, fast parodistische Herbeiführung eines glücklichen Endes. Die ebenfalls als Komödie bezeichneten "Soldaten" dagegen sind viel ernster, sodass die Bezeichnung Tragödie zutrifft.

"Kabale und Liebe" von Friedrich Schiller (1784) übersteigt alle andern bürgerlichen Trauerspiele. Die Ständetrennung ist nur noch eine stoffliche Veranschaulichung einer letztlich ins religiöse verweisenden Thematik. Außerdem lenkt Schiller vom Drama des Ständekonfliktes zur Tragödie der unbedingten Liebe ab. Neben der Deutung als politisches Stück, einerseits wegen des Protestes gegen die korrupte Obrigkeit, andererseits wegen der Verurteilung der Ständegesellschaft, ist es auch eine theologisch orientierte Tragödie des endlichen Menschen. Auch die Gesellschaftskritik ist religiös fundiert. Eine Modernisierung der Romeo-und-Julia-Thematik ist das Scheitern der Liebe in der Welt, zusätzlich verdeutlicht durch den Standesgegensatz. Die Erfahrung der Liebe bedeutet für die Hauptpersonen das religiöse Erleben des Paradieses, die Standesschranken zeigen die Kluft zwischen Paradies und Wirklichkeit.

Verfall, Wandlung und Nachspiele

Schwundformen in der Goethezeit

"Kabale und Liebe" wurde vielfach nachgeahmt, der Stoff wurde jedoch nicht tragisch gefaßt. Bereits in den 50er Jahren näherten sich bürgerliches Trauerspiel und ernsthaftes Lustspiel einander an, in den letzten Jahrzehnten wurde daraus das rührende Familienschauspiel. Das Tragische wurde dabei abgeschwächt, was im Vermeiden des unglücklichen Ende deutlich wird. Statt der gesellschaftskritischen Schärfe des Sturm und Drang wird nun die Welt des Mittelstandes nicht ohne Selbstgefälligkeit dargestellt. Vor allem ihr Wert soll gezeigt werden. Der Ständestaat wird nicht mehr angetastet, man fühlt sich an seinen gesellschaftlichen Ort gebunden und ist der Obrigkeit treu ergeben. Die Rührungsfreudigkeit hält der Lehrhaftigkeit die Waage, Heroik gibt es überhaupt keine mehr.

Die Hauptautoren dieser Zeit sind Otto Heinrich von Gemmingen, August Wilhelm Iffland, Friedrich Ludwig Schröder und August Friedrich Ferdinand von Kotzebue. Unter ihnen erreicht das bürgerliche Drama, das nur mehr selten ein Trauerspiel ist, seine größten Publikumserfolge. Die Klassiker und Romantiker dagegen lehnen das bürgerliche Trauerspiel als zu unpoetisch und zu lebenspraktisch ab.

Wiederbelebt wird das bürgerliche Trauerspiel erst in den 40er Jahren des 19. Jh. durch die Jungdeutschen. In den vier Jahrzehnten davor gibt es nur ein echtes bürgerliches Trauerspiel, Ludwig Roberts "Die Macht der Verhältnisse" (1819) und zwei Annäherungen an die Gattung, Michael Beers "Schwert und Hand" (1835) und Karl von Holteis "Ein Trauerspiel in Berlin" (1832).

Das bürgerliche Tendenzdrama des Jungen Deutschland

Die Größte Bedeutung des Jungen Deutschland besteht in der Erneuerung des deutschen Drams in Richtung eines aktuellen sozialkritischen Bühnenstückes, das den bürgerlichen Menschen im Kampf mit der Gesellschaft zeigt. Da aber ein sozialpolitischer Optimismus vorherrschte, gibt es nur wenige Trauerspiele, statt dessen entstehen Schauspiele und satirische Zeitstücke. Der einzige wichtige Autor bürgerlicher Trauerspiele ist Karl Gutzkow, der von 1839 bis in die 50er Jahre Bühnenstücke schrieb. Wie die Stürmer und Dränger behandelt er die aktuellen Gesellschaftsprobleme, v.a. die Ständetrennung, seine bürgerliche Ideologie hat jedoch eine fortschrittsgläubige Tendenz. Gutzkow hatte bei seinen Dramen zwar gewichtige Ideen, aber sein poetisches Talent war ihnen nicht gewachsen. So neigte er zu Zerreden, sentimentaler Überdeutlichkeit und zum theatralischen Effekt. Nach Aufführungen änderte er die Dramen, hauptsächlich den Schluß, nach den Wünschen des Publikums.

Der Grund des Tragischen sind immer die gesellschaftlichen Konventionen der Zeit, aber verbunden mit der Darstellung eines allgemeinen Themas menschlichen Miteinanderlebens. So handeln "Werner" (1840) und "Ottfried" (1849) von einem Mann zwischen 2 Frauen. Am Schluß triumphiert immer die bürgerliche standesbewußte Gesinnung. Weitere wichtige Stücke von ihm sind "Richard Savage" (1859) und "Ein weißes Blatt" (1842).

Hebbel und die "Tragödie des Bürgertums"

In der Schlußphase des bürgerlichen Trauerspiels steht Friedrich Hebbels "Maria Magdalena" (1844). Hebbel trennte sich von den Dramen des jungen Deutschland und versuchte, ein tendenzfreies, philosphisch allgemeines Stück zu schreiben und damit Gutzkow am Theater zu übertrumpfen.

Auch der Bezeichnung bürgerliches Trauerspiel gab er einen neuem Sinn: Statt des gesellschaftlichen Dasein und dem Klassenkonflikt ist nun ein Stand und sein typisches Verhalten Gegenstand der Anklage und Ursache des Tragischen. Mit der "Maria Magdalena" wendet sich das bürgerliche Drama gegen das Bürgertum selbst, das sich mittlerweile politisch und sozial durchgesetzt hat. Die verurteilte Moralanschauung ist jedoch im Stück nie direkt ausgedrückt, das es nur durch das einfache Lebensbild wirken soll und alle gedanklichen Seitenblicke vermeidet. Diese darstellerische Objektivität tritt an die Stelle der jungdeutschen Tendenz.

Ausblick

Hebbel blieb ohne Nachfolger, der seinen hohen Anforderungen entsprochen hätte. Schon in der ersten Hälfte der 40er Jahre mehrten sich die Stimmen, die das bürgerliche Trauerspiel als unzeitgemäß abtaten. Speziell die tragischen bürgerlichen Dramen seien ein Produkt der Vergangenheit ohne Nationalgefühl. Franz Grillparzer nannte 1859/60 das bürgerliche Trauerspiel "eine der zwei schlechtesten Gattungen, die es gibt".

Der Hauptgrund für das Aussterben ist, dass der Standesunterschied nicht mehr aktuell genug ist, das bürgerliche Trauerspiel wich dem sozialen Drama. Soweit das Bürgertum als gesellschaftliches Phänomen noch erscheint, wird es zu einem Gegenstand einer satirischen Feindseligkeit: das Bürgertum als Unterdrücker des vierten Standes. Wenn heute der Untertitel bürgerliches Trauerspiel verwendet wird, so ist der Abstand selbst von Hebbel so groß, dass es nicht sinnvoll ist, vom Weiterwirken einer Tradition zu sprechen.

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