Toleranz

Was heißt Toleranz? Was heißt es nicht?

Tolerant sein heißt ganz allgemein, den anderen in seinem Denken, Handeln und Leben die gleichen Rechte einzuräumen, die man für sich selber in Anspruch nimmt. Es heißt: Achtung vor der ehrlichen Überzeugung, vor dem Glauben und dem Gewissen des anderen zu haben.

Es gibt eine religiöse, eine politische und eine rassische Toleranz. Sie beruht auf der Überzeugung, dass alle Menschen gleich vor Gott sind und setzt das Vertrauen voraus, dass der andere in seiner Überzeugung von dem gleichen Gefühl der Verantwortlichkeit durchdrungen ist wie ich selbst. Nur sittlich denkende Menschen können darum Toleranz üben und fordern.

Tolerant sein heißt aber nicht zu allem ja und amen sagen, die eigene Überzeugung aufgeben oder gar verleugnen, nur um bei dem anderen nicht anzustoßen oder einen Vorteil daraus zu ziehen.

Noch viel weniger heißt es, Irrtümer gut heißen, Fehler dulden, falsche Ansichten unwidersprochen zu lassen. Dies würde nur ein Schwächling oder Feigling tun. Wenn die Wahrheit nicht zugelassen oder Gewissen und sittliches Bewusstsein ausgeschaltet werden, dann hört die Toleranz auf. Für einen charaktervollen Menschen ist es dann Pflicht, den Irrtum zu berichtigen, die Lüge zu bekämpfen und charakterloses Benehmen bloßzustellen.

Auch Gleichgültigkeit Andersdenkenden gegenüber kann kaum als Toleranz angenommen werden. Sie lässt zwar dem anderen seine Überzeugung, aber nur, weil es bequem ist. Dieser Art von Duldung fehlt der sittliche Ernst.

Religiöse, politische, rassische Toleranz.

"Nicht eine Einheitsreligion ist vonnöten, sondern gegenseitige Achtung und Toleranz der Gläubigen unterschiedlicher Religionen. Was wir erstreben, ist nicht öde Gleichschaltung, sondern Einheit in Verschiedenheit."

(Mahatma Gandhi, Young India, 25.09.1924)

Wir Menschen stellen unsere eigene Religion über andere und dulden Andersgläubige neben uns nicht in der Meinung, nur unser Glaube, unser Gott ist die einzige Wahrheit.

Dieser einsichtslose und intolerante Fanatismus hat zu allen Zeiten, seit Menschengedenken, unermeßlichen Schaden angerichtet, selbst zwischen den Konfessionen, die letzten Endes doch der gemeinsamen Wurzel des Christentums entstammten, also eines Glaubens der Nächstenliebe und Barmherzigkeit.

Es mag als ein lohnendes Ziel erscheinen, alle Menschen durch ein gemeinsames Band des Gottesglaubens zu verbinden. Jedoch darf dies keinesfalls unter äußerem Druck mit Drohungen irgendwelcher Art geschehen.

Wahrscheinlich wird der Wunsch zu einem Zusammenschluß einer allumfassenden Weltkirche kaum jemals in Erfüllung gehen, da die meisten die Überzeugung Andersgläubiger nicht näher kennen und sich auch nicht bemühen, sie wirklich kennenzulernen, sondern sie schon von vornherein verdammen.

Im Falle einer Weltkirche bedeutet Toleranz theoretisch die äußere und innere Gleichstellung sämtlicher Religionen und die gleiche ethische Weltanschauung für alle, unabhängig von der Konfession. Praktisch ist es eine Forderung nach Duldsamkeit und brüderlicher Liebe zu allen Menschen. Das heißt, den Andersgläubigen vorurteilsfrei rein nach seinen menschlichen Eigenschaften zu beurteilen und zu behandeln.

Jede Religion verlangt von ihren Gläubigen eine bestimmte Lebenseinstellung und Lebensweise, die sich nicht nur auf ihren Gott bzw. ihre Götter beschränkt. Die Politik eines Staates, sein politisches System sind seit den Anfängen, den ersten Versuchen, einen "Staat" zu bilden, eng mit der jeweiligen Religion des Volkes verbunden. Die Sultane, Fürsten und Könige waren nicht nur politisches, sondern auch religiöses Oberhaupt ihres Reiches.

Dass die Religion im politischen Alltag eine wichtige Rolle spielt, dafür ist der Islam ein gutes Beispiel. Die Kriege im Namen des Glaubens dienten jedoch nicht nur der Ausbreitung einer Ideologie. Dem jeweiligen Herrscher dienten sie unter anderem der Erweiterung der Herrschaft und wirtschaftlichen und politischen Interessen.

Der Krieg gilt als Folge individueller Aggressivität, in dem den Vorurteilen eine wichtige Funktion zukommt.

Seit 1945, d. h. seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, hat es in aller Welt zahlreiche neue Kriege gegeben. Einige davon erfüllen zur Zeit täglich die Welt mit Nachrichten und Bildern über das Elend, das sie anrichten. Auch sie werden, wenn das neue Blutvergießen zum Stillstand kommt, wenig oder nichts von den Fragen gelöst haben, derentwegen sie begonnen worden sind.

Jeder sucht den anderen durch physische Gewalt zur Erfüllung seines Willens zu zwingen. Zweck ist es, den Gegner niederzuwerfen und dadurch zu jedem Widerstand unfähig zu machen.

Der Krieg ist nicht bloß ein politischer Akt, sondern ein politisches Instrument.

"Si vis pacem, para bellum!"

("Wenn Du den Frieden willst, bereite den Krieg vor.")

Nach diesem Grundsatz versuchten die Weltmächte in der Nachkriegszeit durch Vorbereitung des Krieges und durch ständig verbesserte Kriegsmittel den Krieg zu verhindern. Dieser Rüstungswettlauf hat nicht nur dazu geführt, dass die Supermächte über mehr Waffen verfügen als zur Vernichtung der gesamten Menschheit notwendig wären, sondern es zeichnen sich auch schwerwiegende Folgen für die Wirtschaft und den politischen Entscheidungsprozeß in den betreffenden Staaten ab.

"Der Krieg" hat sich gewandelt vom Konflikt souveräner Nationalstaaten zum politisch - ideologischen Konflikt zwischen Gesellschaftsformen und Staatensystemen und den von ihnen vertretenen Wirtschafts- und Kultureinheiten.

Es wäre utopisch anzunehmen, dass die gegensätzlichen gesellschaftlichen und politischen Systeme freiwillig auf ihre sozialen Positionen und Ziele verzichten. Notwendig aber ist, die Politik des Friedens und der friedlichen Koexistenz zu vertreten, weil sie dazu beiträgt, die aggressivsten Kräfte zu isolieren und zugleich die Kräfte der Demokratie zu sichern.

Friedliche Koexistenz setzt voraus: Verzicht auf Krieg als Mittel zur Lösung von Streitfragen zwischen den Staaten; Gleichberechtigung, gegenseitiges Verständnis und Vertrauen und die gegenseitige Berücksichtigung ihrer Interessen; die Anerkennung des Rechts eines jeden Volkes, selbständig alle Angelegenheiten seines Landes zu entscheiden; die Entwicklung der ökonomischen und kulturellen Zusammenarbeit auf Grundlage völliger Gleichheit und des gegenseitigen Vorteils.

"Wir haben heute nur noch die eine Wahl: Gewaltlose Koexistenz oder gewaltsame totale Selbstvernichtung. Es kann durchaus die letzte Chance der Menschheit sein, zwischen Chaos und der Gemeinschaft zu leben."

(M. L. King, Frieden ist kein Geschenk, Herder & Co, Wien 1984, S.30)

Damit möchte ich nicht nur zur Toleranz gegenüber anderen Staaten und Ländern appellieren, auch innerstaatlich kommt es häufig zu Konflikten, vor allem wenn sich eine andere Rasse, die sich lange unterdrückt fühlte, gegen diese sozialen Mißstände auflehnte.

Gerade im biologistischen Denken, in der naheliegenden Verführung zum Denken in "ehern waltenden Naturgesetzen", liegt meist der zähe Widerstand gegen rationale Argumentation und faktische Gegenbeweise begründet.

Zwischen Eigengruppe und Fremdgruppe kann extreme Polarität bestehen, wobei Sympathiegefühle nach innen und Haßgefühle nach außen wirken.

Es gibt zahlreiche Beispiele in der Geschichte, dass Menschen aufgrund irgendeiner Groteske, sei es die Hautfarbe, das südländische Aussehen, etc., von ihren Mitmenschen nicht toleriert werden. Die beiden erschütterndsten Beispiele dafür sind wohl die Rassenpolitik des Nationalsozialismus und die Rassentrennung von Schwarzen und Weißen in Amerika.

Während das Problem der Juden im Dritten Reich als der "Sündenbock der Nation" ohne besondere Gründe abgestempelt zu werden war - einfach "Jude sein", das genügte, um sich den Haß der Deutschen zuzuziehen -, war das Problem der Schwarzen ein universelles Problem. Es drückte sich ebenso im Verhältnis der reichen Nation zu den armen Völkern wie auch in vielen zwischenmenschlichen Beziehungen aus. Schließlich lassen sich Haß, Verbitterung und Enttäuschung nicht dadurch aus der Welt schaffen, indem man unterdrückten Minderheiten lediglich in Abkommen, Gesetzen und Paragraphen gleiches Recht zugesteht, wenn man nicht gleichzeitig mit ganzer Kraft bemüht ist, die unterdrückten Ursachen, die wirtschaftlichen, sozialen und inhumanen Mißstände zu beseitigen.

Dieser Rassenhaß ist auch heute noch ein schlimmes Übel in den USA, in einem Land, das sich so gerne als Garant der Freiheit, der Menschenrechte, als mächtigste und reichste Nation der Erde und als Weltpolizist verstand und dennoch auf seinem Boden menschenverachtende Mißstände duldet.

Was die Juden im nationalsozialistischen Staat waren, das sind die Asylanten und Emigranten heute in unserem Staat. Ausländerfeindlichkeit und Rechtsextremismus nehmen in erschreckend hohem Maße zu. Wir machen sie für unsere sozialen und wirtschaftlichen Probleme verantwortlich.

So kommen jene Menschen, die gerade geflohen waren, weil sie wegen ihrer Religion, ihrer politischen Zugehörigkeit oder ihrer Stammeszugehörigkeit nicht geduldet wurden, erneut in eine Umgebung, wo sie wegen genau der gleichen Umstände nicht toleriert werden.

Was stört uns am Schleier der Mohammedanerinnen, am Sari der Inderinnen? Was lässt uns verstohlen schauen und flüstern, wenn Schwarze beispielsweise in der Straßenbahn vor uns Platz nehmen?

Es ist doch nur richtig, ihnen dasselbe Recht einzuräumen, das wir verlangen, wenn wir in ihr Land reisen, nämlich so bleiben zu dürfen wie wir sind: mit unseren Meinungen, Weltanschauungen und unserem Glaubensbekenntnis.

Es gibt noch weitere Randgruppen in unserer Gesellschaft, die nur schwer akzeptiert werden. Wir erwarten überall von unseren Mitmenschen "normgerechtes Verhalten", Abweichen befremdet, und damit meine ich in erster Linie die Behinderten in unserer Gesellschaft.

Wir haben Angst vor dem Fremden, das führt häufig zu aggressiven Verhaltensweisen.

Die Eingliederung der Behinderten in die Gesellschaft sollte übergreifendes Ziel sein. Sie muss bewirken, dass der behinderte Mitbürger auf der Grundlage der Chancengleichheit in das gesellschaftliche Leben, einschließlich das berufliche, einbezogen wird und sich selbstverantwortlich und aktiv daran beteiligen kann.

Solange der Wert eines Menschen an seinem Nutzen für den Staat gemessen wird, ist es nicht gegeben, dass der funktionseingeschränkte, behinderte Mitmensch ein gleichberechtigtes Mitglied unserer Gesellschaft ist.

Menschen, die unserem gängigen Schönheitsideal nicht entsprechen, leiden unter der Nichtakzeptanz. Nicht erfüllte Leistungsnormen führen zu sozialer Isolation als Arbeitslose. Die übersteigerte Konsumtion der Persönlichkeitsentfaltung schadet der inneren Ruhe und Ausgeglichenheit.

Die Verwirklichung der Menschenrechte ist auch in "hochzivilisierten" Gesellschaften noch nicht geleistet. Doch gerade bei den genannten Phänomenen muss man ansetzten, wenn man in Partnerschaft leben will.

Jeder Dritte von uns ist einmal in seinem Leben mit psychologischen oder psychiatrischen Problemen in Berührung gekommen. Zählt man Drogenabhängige und Obdachlose, Homosexuelle und andere Außenseiter dazu, so bleibt nicht mehr viel übrig, auf das wir alle und vor allem die "Normalbürger" stolz sein können.

Toleranz ist schwer, aber notwendig.

"[...] Es eifre jeder seiner unbestochenen

Von Vorurteilen freien Liebe nach!

Es strebe von euch jeder um die Wette,

Die Kraft des Steins in seinem Ring' an Tag

Zu legen! komme dieser Kraft mit Sanftmut,

Mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun,

Mit innigster Ergebenheit in Gott

Zu Hilf'! Und wenn sich dann der Steine Kräfte

Bei euern Kindes-Kindeskindern äußern:

So lad ich über tausend tausend Jahre

Sie wiederum vor diesen Stuhl. [...]"

(G. E. Lessing; Nathan der Weise; Philipp Reclam, Ditsingen, 1993; S.75)

Toleranz ist die Vorurteilslosigkeit gegenüber Andersdenkenden, Andersgläubigen, Andersrassigen.

Sich in Toleranz üben ist eine schwere, aber notwendige Aufgabe. Es ist schwer, denn es verlangt Urteilskraft und Einfühlungsgabe, um den Standpunkt des anderen zu verstehen und Toleranz nicht mit Indifferenz gleichzusetzen. Ein jeder Mensch wird in eine bestimmte Rasse, Religion und soziale Schicht seines Volkes hinein geboren. Dies verlangt Achtung vor der Überzeugung und dem Gewissen des anderen.

Es verlangt Selbstbeherrschung, um den anderen ruhig anzuhören, ihn nicht zu beleidigen, zu verletzen, zu unterdrücken und gerecht zu behandeln. Auch Nächstenliebe ist wichtig, um über dem Trennenden das Verbindende und Gemeinsame zu sehen nach dem Vorbild und Gebot des Christentums, eingedenk des Wortes, dass wir all Kinder eines Vaters sind.

Toleranz ist notwendig, um den Frieden zu sichern. Notwendig, einerseits um innerhalb des eigenen Volkes gegen Familien-, Klassen- und Parteiegoismus zu kämpfen, denn erst sozialer Friede verbürgt wahre Demokratie. Andererseits um innerhalb der Völker Chauvinismus, Wirtschaftsegoismus und ungerechtfertigte Eroberungspolitik zu unterbinden. Den Frieden zu sichern, bedeutet auch, innerhalb der Konfessionen Glaubensstreitigkeiten und Gehässigkeiten zu verhindern.

Toleranz ist ein Gebot der Höflichkeit, der Lebensklugheit und der Sittlichkeit. Doch hat sie ihre Grenzen, sobald die eigene Selbsterhaltung gefährdet ist. Sie heißt nicht, wie anfangs bereits betont, alles gelten lassen und seine eigenen Überzeugungen aufzugeben, um den anderen nicht zu verletzten.

Andere Meinungen und Handlungen tolerieren heißt, sich mit ihnen auseinanderzusetzen und letzten Endes verstehen, warum jemand dieser Ansicht ist.

"Mehr als jemals zuvor werden wir

heute von den alten Worten herausgefordert.

Gleicht euch nicht dieser Welt an,

sondern wandelt euch und erneuert euer Denken."

(Röm. 12.2.)

• Martin Luther King jr.: Kraft zum Lieben; Christliche Verlagsanstalt Konstanz, 1964

• Mahatma Gandhi: Worte des Friedens; Verlag Herder Freiburg im Breisgau, 1984, S.24

• Hrsg. Paul Ackermann: Frieden - Friedensstrategien; Philipp Reclam jun., Stuttgart, 1976

• Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise; Philipp Reclam jun., Stuttgart, 1990

• Salzburger Nachrichten, Wochenendbeilage, 24.06.1995

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