Psychogene Essstörungen




PSYCHOGENE ESSSTÖRUNGEN

Die Zahl der Personen, die an extremem Übergewicht, extremem Untergewicht oder gestörtem Essverhalten leiden, steigt ständig. Immer mehr leiden an einem gestörten Verhältnis zum Essen und zu ihrem Körper. Die Beschäftigung mit dem Körper( Sport, Diät, Vollwertkost,... ) und der Ernährung zeigt sich unter anderem in den Massenmedien, in den Ratschlägen und Artikeln zum Idealgewicht, zum Schlankwerden und zur Diät. Man versucht uns einzureden, dass Erfolg und Glück vom Erreichen eines bestimmten Gewichtes abhängen. Von offensichtlichen Essstörungen sind meist Frauen betroffen. Jedoch werden die Beschwerden der Patientinnen allzu oft bagatellisiert : man versucht, solche Beschwerden als normal anzusehen und nicht zu übertreiben. Wird die Patientin nur kurz abgefertigt, so kann es passieren, dass wir die spezielle Intensität der Beschwerden übersehen und nicht bemerken, dass die Symptome den Beginn einer Magersucht ( anorexia nervosa ) oder einer Esssucht ( bulimia nervosa = mit Brechsucht, bulimie = ohne Brechsucht ) anzeigen. Wenn diese Symptome anhalten, so kann es bei der Patientin zu Isolation, sozialer Unsicherheit, Depression und Verzweiflung führen.

WANN HANDELT ES SICH UM SCHWERE ESSSTÖRUNGEN ?


Essstörungen werden dann schwerwiegend, wenn die Gedanken sich auf das Essen, den Körper und das Gewicht konzentrieren und die Aufmerksamkeit von anderen Bereichen des Lebens abziehen - dem Verhältnis zu Freunden und zur Familie, dem Beruf, der Schule und von Interessen. Der Schweregrad des Problems hängt nicht nur mit dem Gewicht zusammen, es sei denn, dass dieses extrem niedrig oder extrem hoch ist und der Wasserhaushalt durch Erbrechen gestört ist, somit also eine gesundheitliche Gefahr darstellt. Das Verhältnis zum eigenen Körper und zum Gewicht ist von entscheidender Bedeutung.

WER BEKOMMT SCHWERE ESSSTÖRUNGEN ?


Essstörungen können bei allen Altersgruppen auftreten. Magersucht und Esssucht mit Erbrechen lassen sich nach Alter und Schweregrad der Erkrankung einteilen:
1. von 9 - 15 Jahren : diese Patientinnen sind weniger krank ; bessere Heilungschancen ( bessere Prognose )
2. von 15 - 20 Jahren : Symptome können plötzlich auftreten; starke Gewichtsabnahme in wenigen Monaten; Aussetzen der Menstruation; schrittweise Vermehrung der Symptome: Abnehmen allmählich stärker und zwanghaft; Essverhalten auffällig; Patientinnen sind oft schwer krank ( eventuell Einweisung in psychiatrische Abteilung )
3. nach 25 Jahren : Symptome stellen sich nach und nach ein, können aber chronisch werden;

HAUPTFORMEN SCHWERER ESSSTÖRUNGEN


MAGERSUCHT ( ANOREXIA NERVOSA )


(ca. 85 % der Patienten sind Frauen )
Diese Patientin isst sehr wenig. Wenn sie etwas zu sich nimmt, handelt es sich um kalorienarme und gesunde Kost. Sie benutzt oft harntreibende Mittel und Abführmittel, trinkt viel Diabetikerlimonade,... Dies alles bewirkt, dass die Nahrung den Körper schnell passiert. Die magersüchtige Patientin überprüft oft ihr Gewicht und ob der Körper dünn genug ist. Wenn die Patientin ein skelettartiges Aussehen erreicht hat, wird es für sie zu einer Art Wettbewerb, am dünnsten zu sein.
Als Folge des Gewichtsverlustes und aus psychologischen Gründen setzt die Menstruation aus. Die Vitalität, die die magersüchtige Patientin zeigen kann, verführt manche Ärzte und Eltern dazu zu glauben, dass die Magerkeit gesunde und natürliche Ursachen hat.

ESSSUCHT MIT ERBRECHEN ( BULIMIA NERVOSA )


Esssucht ist eine "verborgene" Krankheit. Der gewaltige Appetit, das Erbrechen und die Depression, die sie begleiten, werden vor der Umwelt geheim gehalten. Ein ungünstiges Zusammenspiel der Patientin mit ihrer Umwelt trägt dazu bei, dass die Esssucht zu einem festen Muster wird und die gefühlsmäßigen Probleme schwer zu lösen sind.

ESSSUCHT OHNE ERBRECHEN - MIT ÃœBERGEWICHT ( BULIMIE )


Eine gestörte Kontrolle über das Essverhalten führt zu einer großen Nahrungsaufnahme ohne nachfolgendes Erbrechen. Diese Gruppe leidet folglich an Fettleibigkeit und Übergewicht. Diese Patientinnen führen sich mehr Kalorien zu, als sie verbrauchen können.
Der Mensch mit Übergewicht, der regelmäßig etwas zu viel bei den Mahlzeiten zu sich nimmt, ist nicht esssüchtig. Viele Menschen, besonders in schwierigen Lebensphasen, kennen kürzere Perioden, in denen sie zu viel essen oder sich mit Essen trösten, ohne dass sich ihr Leben und Essverhalten negativ entwickeln und sie esssüchtig sind.
Um beurteilen zu können, ob jemand esssüchtig ist, muss man sein gesamtes Umfeld ( Essverhalten, Kontaktfähigkeit,... ) kennen. In der Gruppe der Esssüchtigen mit Übergewicht gibt es etwa gleich viele Frauen und Männer.

ÄUßERE UND INNERE GEMEINSAMKEITEN BEI ESSSTÖRUNGEN


Patientinnen mit Essstörungen ist gemeinsam :
* Kontaktschwierigkeiten,
* Starkes Einsamkeitsgefühl,
* Konzentrationsschwierigkeiten,
* Störungen des Gefühls, hungrig oder satt zu sein
* Aussetzen der Menstruation
* Depressionen und innere Leere

Die Patienten führen einen verzweifelten und endlosen Kampf, um eine totale Kontrolle über Gefühle und Verhalten, den Körper und ihre Umwelt zu erlangen. Geht die Kontrolle nur einen Augenblick verloren, empfinden die Patienten dies als bedrohliches Chaos.
Der Zwang nach Kontrolle hängt mit dem Gefühl zusammen, überwältigt zu werden. Im Körper passiert etwas Unbekanntes - er zeigt heftige Reaktionen. Bei Patienten mit schweren Essstörungen hat eine Falschprogrammierung im Verhältnis zum Körper stattgefunden. Durch Unruhe und Enttäuschung sind zentrale Signale, wie Hunger und Sattheit, undeutlich geworden.
Die Patienten mit Essstörungen fühlen, dass sie ihr Leben nicht meistern. Das Gefühl der Unzulänglichkeit führt zu Passivität, mangelnder Selbstachtung und Depression. Sie werden von anderen psychisch abhängig, die ihr sagen, was sie tun soll.

DIE STÖRUNG DES BILDES VOM EIGENEN KÖRPER


Das Bild vom eigenen Körper entspricht dem Gefühl, das wir von unserem Körper haben. Viele Magersüchtige empfinden, dass Bauch, Schenkel und Hüften stark überdimensioniert sind. Auch Unbeweglichkeit hängt mit einem schlecht entwickelten Bild vom eigenen Körper zusammen. Es wirkt so, als ob die Patienten Angst davor haben, die Gefühle und den Kontakt mit dem Körper zu erleben. Unbeweglichkeit und Isolation gehören zu einem Teufelskreis, der die Patienten daran hindert, ihren eigenen Körper besser kennen zu lernen und ein realistischeres Körpergefühl zu entwickeln.

DIE MAGERSÃœCHTIGE ( ANOREKTISCHE ) PATIENTIN


Hier sind vor allem das geringe Gewicht und ein ständiges Streben nach Gewichtsreduktion charakteristisch. Auch Konzentrationsschwierigkeiten, sowie Schlafstörungen, eine auffallend niedrige Körpertemperatur und ein schwacher Puls sind auffällig. Viele leiden nach längerem Fasten an Haarausfall, und auf dem Körper zeigen sich Haare und Flaum. Die anorektische Frau verwirrt oft ihre Umgebung durch vorgetäuschte Energie. Sie wirkt nicht müde und erschöpft - im Gegenteil. Sie tritt wie eine durchtrainierte Sportlerin auf.
Die Magersüchtige leugnet in den meisten Fällen, Probleme zu haben. Sie bemüht sich gleichzeitig, sowohl offen als auch heimlich, diese aufrecht zu erhalten. Das macht natürlich die Behandlung um einiges schwieriger. Die Patientin leugnet nicht nur Essstörungen, sondern auch Gefühle wie Kälte, Müdigkeit und Sorgen. Alle Gefühle, die mit Sexualität zusammenhängen, müssen verleugnet werden. Die wenigsten magersüchtigen Patientinnen erleben einen Orgasmus oder haben Freude an sexuellen Kontakten.

Bei der esssüchtigen Patientin ohne Brechsucht unterscheiden wir zwei Formen des Essverhaltens :
* das nächtliche und
* das zeitweise ungehemmte Essen (binge eating = süchtige Essanfälle)

Die nächtliche Esserin wird am Abend und in der Nacht von Heißhunger und von Rastlosigkeit geplagt. Oft gehört Schlaflosigkeit dazu. Manche Patientinnen wachen nach ein paar Stunden auf und essen dann allein in einem Zimmer große Mengen, um danach weiterschlafen zu können. Süchtige Essanfälle können jeden Tag und zu jeder Zeit vorkommen. Während die Patientin mit Essanfällen im Krankenhaus mehrere Kilo abnehmen kann, ohne ernste psychische Reaktionen zu zeigen, bekommt die nächtliche Esserin oft schwere gefühlsmäßige Störungen, wenn sie an ihren nächtlichen Mahlzeiten gehindert wird.


BESSERUNG



Essstörungen werden mit der Zeit immer stärker. Das Ziel der Behandlung muss sein, den Teufelskreis zu durchbrechen und das unfreiwillig selbstzerstörerische Verhalten zu stoppen, ob es nun um Fasten, Erbrechen oder Heißhunger geht. Die Besserung muss dauerhaft sein. Die Patienten brauchen einige Jahre, um ihr Leben selbstständig einrichten zu können und Übung darin zu bekommen, nicht den früheren Teufelskreisen wieder zu verfallen. Besserung bedeutet, eine relativ flexible Kontrolle zu besitzen, die eine Niederlage verträgt. ( z.B.: Der Patient, die früher Übergewicht hatte, wird es ertragen, sich gedemütigt und verlassen zu fühlen, ohne dieses unbehagliche Gefühl mit Essen verdrängen zu müssen. )
Ein Zeichen der Besserung ist, wenn der Patient erlebt, dass das innere Bild, das er sich von seinem Körper gemacht hat, anders ist, als der Körper, den er vor sich sieht. Ein anderes Zeichen der Besserung ist, wenn der Körper als stabil erlebt wird und die körperlichen Empfindungen so definiert werden können wie sie sind. Ein weiteres wichtiges Zeichen der Besserung ist es, wenn sich der Patient weniger intensiv mit seinem Körper beschäftigt und andere Interessen bekommt - Freunde, Schule, Beruf, Hobbys,...Außerdem muss er seinen Wunsch nach Nähe und Zärtlichkeit empfinden und ertragen können, auch wenn dieser nicht immer zufrieden gestellt werden kann. Das endgültige Ziel der Besserung ist es, Hunger oder Sattheit empfinden zu können.
Die Behandlung soll darauf abzielen dem Patienten zu helfen, sich seiner Gefühle bewusst zu werden, die inneren Signale aufzufassen und deuten zu lernen. Es ist wichtig, dass er Kontakt mit anderen Menschen hat, arbeitet oder zur Schule geht und sich mit Alltagsproblemen beschäftigt, wie die Finanzen in Ordnung bringen, einzukaufen, zu kochen und seine Zeit einzuteilen. Zu große Nähe jedoch ( auch wenn sie gut gemeint ist ) engt die selbst gezogenen Grenzen und die Bewegungsfreiheit des Patienten ein. Zu großer Abstand bestärkt ihn in seinem Gefühl der Einsamkeit und Untauglichkeit.


VERSCHIEDENE BEHANDLUNGSFORMEN



SYMPTOMBEHANDLUNG - SOMATISCHE BEHANDLUNG


Eine Behandlung, die auf das Gewicht des Patienten abzielt, kann sowohl innerhalb, als auch außerhalb des Krankenhauses vorgenommen werden. Es werden Mastkuren, hormonelle Behandlung, chirurgische Eingriffe, Insulinbehandlung und Fastenkuren eingesetzt, sowie physische Aktivitäten angeregt. Forscher und Therapeuten warnen vor einer einseitigen Symptombehandlung, die in einigen Fällen zu einer ernsten Verschlimmerung und Selbstmordversuchen führen kann.

GESPRÄCHSBEHANDLUNG UND PSYCHOTHERAPIE


Diese Behandlung zielt darauf ab, die Fähigkeit zur Kontrolle und zum Meistern von Situationen, das Bewusstwerden eigener Gefühle und die Fähigkeit zum Kontakt mit anderen Menschen zu bearbeiten und zu entwickeln.


GRUPPENBEHANDLUNG


Diese Gruppen benutzen oft eine Kombination von konkreten Maßnahmen, wie Wiegen, Diätinformation, Diskussionen, verschiedene Formen der Belohnung und Strafe, und geben allgemeine Unterstützung. Solche Selbsthilfegruppen haben eine Symptomänderung zum Ziel, das heißt eine Änderung des Essverhaltens und Gewichtsverlust. Eine der Schwierigkeiten der Therapie ist das komplizierte Verhältnis, das Patienten mit Essstörungen zu anderen Menschen haben. Die Furcht abhängig zu werden steht im Mittelpunkt.


FAMILIENBEHANDLUNG


Sämtliche Behandlungsgespräche finden mit der gesamten Familie statt. Weil viele Personen versammelt sind und bei den unterschiedlichen Mitgliedern verschiedene Gedanken und Gefühle geäußert werden, ist es oft nötig, wenn man zwischen den regelmäßigen Gesprächen einen längeren zeitlichen Abstand lässt ( zwei bis drei Wochen ). Die Essschwierigkeiten sind Ausdruck für die Konflikte, die in der Familie existieren, und eine Art, Spannung und Stress abzureagieren.


SECHS KRITERIEN FÃœR EINE BESSERUNG


1. Fast normales und stabiles Gewicht
2. Regelmäßige Menstruation
3. Patient muss eine übliche soziale Anpassung zeigen
4. Fähigkeit zu intimem sexuellem Kontakt
5. Keine anderen schweren psychischen Beschwerden oder Symptome
6. Die Besserung muss mindestens vier Jahre stabil sein, bevor man sagen kann, dass sie von Dauer ist.


Wenn man sieht, wie verwickelt und vielschichtig das Verhältnis zwischen Patient, Essstörungen und der nächsten Umgebung und zwischen Gefühlen und Körper sind, scheint es klar, dass der Hinweis auf einen Spezialisten für Psychologie oder Psychiatrie oder auf eine Familientherapie in den meisten Fällen das zweckmäßigste ist.

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