Das Urteil

Georg Bendemann, ein junger Kaufmann, schreibt eines Sonntagvormittags seinem Freund in Rußland.Er teilt ihm seine Verlobung mit und lĂ€dt ihn, nicht allzu nachdrĂŒcklich, zur Hochzeit ein.Dann sucht er, nach Monaten wieder einmal, den Vater in seiner Kammer auf und teilt ihm sein Vorhaben mit.Der Vater antwortet mit Vorbehaltungen.Es gelingt Georg jedoch, den Alten seiner schmutzigen WĂ€sche zu entkleiden, ins Bett zu tragen und zuzudecken.Kaum ist der Vater "zugedeckt", richtet er sich auf, erhebt sich im Bett zur voller GrĂ¶ĂŸe.Dem Sohn gegenĂŒber behauptet er, er habe schon immer mit dem fernen Freund in komplottartiger Verbindung gestanden.Und Georgs VerhĂ€lnis zu Frieda - er imitiert es mit greisenhaft obszöner Gestik - sei Verrat am Freund, an der toten Mutter und an ihm, dem Vater.Er verurteilt den Sohn zum Tod des Ertrinkens.Georg stĂŒrzt aus dem Zimmer, hört den Vater aufs Bett stĂŒrzen, jagt aus dem Haus und stĂŒrzt sich in den Fluß.

Diese ErzĂ€hlung ist Felice Bauer gewidmet.Die Anfangsbuchstaben ihres Namens stimmen mit Frieda Branden feld ĂŒberein.Es gibt auch Analogien zwischen Georg Bende mann und Kafka.
Kafka hat hier den wirksamen Mechanismus klar durchschaut und ausgesprochen: Um sich vom Vater zu emanzipieren, mĂŒsse er selber Vater werden, d.h. Familienoberhaupt.Das wĂŒrde aber eine bĂŒrgerliche Ehe bedeuten und damit die Ă€ußerste GefĂ€hrdung seines Refugiums seiner Autonomie, des Schreibens.Die Heirat in dieser ErzĂ€hlung geschieht aus der Angst vor dem Vatermord.Das erste Werk des Dichters verarbeitet weiters die Todessehnsucht, aber auch das Motiv der Lebensmacht, die ĂŒber sich selbst und dem Leben entfremdete Ich die Todesstrafe verhĂ€ngt:
Der Freund ist die grĂ¶ĂŸte Verbindung und Gemeinsamkeit zwischen Sohn und Vater.Aber im Laufe der ErzĂ€hlung steigt aus dem Freund immer mehr der Vater heraus.Dies kommt besonders hervor als der Vater Georg nach der vollen Wahrheit frĂ€gt.Die Wahrheit um diesen Freund wird so der SchlĂŒssel zur ErzĂ€hlung.Und von der Wahrheit betrachtet sehen wir den Sohn nicht mehr als freundlichen Menschen.Die Welt in der Georg lebt, entpuppt sich als Welt der TĂ€uschung - sowohl der Welt, des Vaters, als auch sich selbst.So mĂŒnden die LebensumstĂ€nde Georgs in das unwirklich wirkende Gericht des Vaters.
Georg berichtet seinen Freund ĂŒber belanglose Dinge und verschweigt ihm, was er ihm anvertrauen sollte, nicht um ihn nicht zu beunruhigen, vielmehr um sich selbst nicht zu stören.Er ist zwar Ă€ußerlich erfolgreich, innerlich aber leer und kann daher seinen nach innen gewandten Freund nicht vergessen.Wenn Georg aber nun seinen Freund zu der bevorstehenden Hochzeit einlĂ€dt, so ist das nicht um ihn die "volle Wahrheit zu sagen" sondern um seiner Braut gefĂ€llig zu sein, die das Recht in Anspruch nimmt, alle seine Freunde kennenzulernen, und diesen Entschluß in einem Wechselspiel von Trotz und Hingabe ihm ablistet.Er erkennt gleichzeitig in einem SelbstgesprĂ€ch, dass die Menschen (hier sein Freund) ihn so hinzunehmen haben wie er wirklich ist - er will sich nicht anpassen. Dieses SelbstgesprĂ€ch könnte als Einsicht in sein Unvermögen gelten sich zu wandeln.Im Zusammenhang des Ganzen ist es aber ein schwĂ€chlicher Versuch, sich zu rechtfertigen. Indessen erliegt Georg seiner grĂ¶ĂŸten SelbsttĂ€uschung; denn der Entschluß, "dem Freund alles zu schreiben" liefert ihm ja letztendlich ganz dem Gericht des Vaters und damit der Welt der Wahrheit aus.Der Brief ist nun Anlass seinen Vater aufzusuchen.Seine abwesende Haltung die er einnimmt als er zu ihm geht lĂ€sst erkennen, dass er, ohne dass es ihm freilich bewußt wĂŒrde, sich anschickt, die Welt des Ă€ußeren Scheins zu verlassen, um den Gang in die innere Welt der Wahrheit anzutreten, die nach außen so absurd erscheint.Dabei fĂ€llt auf, dass er dem Fluß einen trĂ€umerischen Blick widmet, so als trĂ€ume er jetzt schon von der einzigen Selbstverwirklichung die er noch erreichen kann.Die Begegnung mit seinem Vater ist eine Innenschau Georgs und ist der groteske und gespenstische Hauptteil der ErzĂ€hlung. Das Zimmer des Vaters liegt in einem dunklen Bereich, von der Außenwelt verschlossen.Das Fenster ist verschlossen, der Raum ist mit Andenken an seine verstorbene Mutter ausgeschmĂŒckt - in der Mitte sitzt sein Vater - abgemagert liest er eine alte Zeitung.Man kann in ihm einen alten Mann erkennen der in Askese lebt um spĂ€ter seiner Aufgabe als Richter gerecht zu werden.Der Sohn - jetzt wird die GegensĂ€tzlichkeit deutlich - war nur auf das Ausweiten seiner materiellen Existenz aus, er hat sich in der Welt des Erfolges eingerichtet und so mit der Sohnschaft die Freundschaft, mit der Wahrheit zugleich die Liebe verspielt. Georg ist ganz erstaunt ĂŒber die "riesenhafte" Welt seines Vaters (sein Innenleben).Er kann sich aber Angesichts seines Vaters nicht aus seiner Welt der TĂ€uschung und Selbstbetrugs lösen.Georg glaubt nun seinen Freund mit dem Brief auf die Probe zu stellen, merkt aber immer noch nicht, dass er diesen Freund lĂ€ngst verloren hat.Die Frage des Vaters nach der Wahrheit macht ihn verlegen - er will den Vater ins Bett legen, gibt ihm RatschlĂ€ge zur Änderung seiner Lebensweise.Doch die Wahrheit dringt weiter auf ihn ein, der entkleidete Vater zeigt auf, wie ihn sein Sohn vernachlĂ€ssigt hat.Er glaubt aber als er den Vater zudeckt ihn zum Schweigen gebracht zu haben.TatsĂ€chlich ist das Bett weil es aus der Welt der TĂ€tigkeit hinausweist, eine Vorstufe zum Grab - doch der Vater steht plötzlich, in einer ungeahnten GrĂ¶ĂŸe, vor dem Sohn auf und lĂ€sst die Maske der Unwissenheit fallen.Er kennt nicht nur den Freund - er erkennt in dem Freund einen geistigen Sohn seiner selbst.WĂ€hren er nun den Freund zu seinen Sohn erhebt, klagt er seinen Sohn der Falschheit an.Die Anklage weitet sich aber auf die jetzige LebensfĂŒhrung des Sohnes auf.(Georg rĂŒhmt sich der Wohlhabenheit seiner Freundin - somit schĂ€ndete er das Andenken seiner Mutter. Er hat den Vater ins Bett gebracht um ihn zum Schweigen zu bringen.) Der Sohn hat keine Chance seinen Vater zu entgegenen, da seine Macht sich auf die natĂŒrliche Macht der Vaterschaft begrĂŒndet, die durch Erinnerung an Herkunft und AbhĂ€ngigkeit jeden Anspruch auf eigene IdentitĂ€t zunichte macht.Der Vater verkĂŒndet nun seinen Urteilsspruch: "Jetzt also weißt du also, was es außer dir gab, bisher wußtest du nur von dir! Ein unschuldiges Kind warst du ja eigentlich, aber noch eigentlicher warts du ein teuflischer Mensch ... Ich verurteile dich jetzt zum Tode des Ertrinkens!"
Der erste Satz enthĂ€lt den Vorwurf der Ichbezogenheit, des Sicheinschließens in die eigene Welt des Ich, eine Haltung die dem Kinde gemĂ€ĂŸ ist, aber ein dem Erwachsenen schuldhaftes Versagen bedeutet.Die Reife erweist sich also, dem Vater nach, in der FĂ€higkeit den Bannkreis des eigenen Ichs zu sprengen und sich dem zu öffnen was außer ihm noch da ist.
Das ist fĂŒr Georg sein Vater, sein Freund, und das Gericht welches Georg weder erkannt noch anerkannt hat.Der Vater zeigt auch Georgs unschuldige Fassade "unschuldiges Kind", wohinter sich der pure Egoismus verbirgt.Das Todesurteil ist aber erst durch die "UrsĂŒnde" des Verrats und der Lieblosigkeit, gleichnishaft fĂŒr den SĂŒndenfall im Paradies, und vor allem durch die Unkenntnis des Gesetzes gerechtfertigt.Auch die Todesart hat eine parabolische Bedeutung: Georg soll eingehen in eine fließende Urkraft.Im Tode des Ertrinkens soll sich die Starre des in sich selbst Gefangenen lösen.Zu dieser Auflösung seiner selbst drĂ€ngt es ihn nun - die Preisgabe der Existenz im Tode lĂ€sst das Ich, das durch Selbstsucht sich selbst entfremdet war, wieder zur Übereinstimmung mit sich selbst gelangen.Der ĂŒber die BrĂŒcke strömende "geradezu undendliche Verkehr" ist ein Bild fĂŒr die Versöhnung im Tod, weniger ein Verweis auf das alltĂ€gliche Leben, das ĂŒber Georg hinweggeht.
Kafkas "Urteil" ist eine Art moderne Variante des Gleichnisses vom verlorenen Sohn, der den Geist der Wahrheit und Liebe verraten, und damit sich selbst und seinem Ursprung entfremdet hat. Er wird eines Tages von diesem Geist unvermittelt angerufen und gerichtet.

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