Carmen LXXII











C. Valerii Catulli carmen LXXII

( unter spezieller Berücksichtigung von
carmen VIII und carmen LXXXV)



























Inhaltsverzeichnis






I. Einleitung


Die Auswahl der Gedichte, die mit carmen LXXII in Zusammenhang stehen, ist eine zugleich leichte und doch schwierige Aufgabe. Da fast alle Gedichte Catulls von seiner Beziehung zu Lesbia, viele vom Ende der Beziehung handeln, lassen sich ebenso viele mit dem Gedicht LXXII in Zusammenhang bringen. Als Beispiele seien hier nur die carmina LI, LXXV und LXXVI genannt. Mir erschienen die Gedichte VIII und LXXXV angemessen, da sie meiner Meinung nach den Wandel innerhalb der Gefühle Catulls zu Lesbia deutlich darstellen. Diesen Wandel darzustellen und zu untersuchen, soll insbesondere im letzten Abschnitt, dem Vergleich der drei Gedichte, Ziel dieser Arbeit sein. Besonders will ich das carmen LXXII in den Vordergrund stellen, da ich denke, dass es den entscheidenden Punkt innerhalb dieser Entwicklung markiert.
Eine nähere Betrachtung des Synonyms Lesbia und der Frage, welche Gedichte auf Lesbia bezogen sind, soll hier nicht erfolgen. In den drei vorliegenden Gedichten gehe ich aufgrund der bewegten und bewegenden Schilderung Catulls, wie auch die Sekundärliteratur allgemein, davon aus, dass Lesbia angesprochen ist.

II. Das carmen LXXII


Carmen LXXII, das mit zu den Abschiedsgedichten Catulls gezählt wird, drückt den Gefühlskonflikt aus, in dem sich Catull befindet. So ist auch das Gedicht voller Widersprüche: Catull unterscheidet zwischen dicebas und dilexi, also der bloßen Beteuerung und dem wirklichen Gefühl, zwischen tenere und dilexi, dem körperlichen und dem emotionellen Aspekt der Liebe, zwischen uror und es vilior, der Leidenschaft und der Vernunft, zwischen amare und bene velle, der Liebe und der Hochachtung. Diese Gegensätze werden schon zu Anfang des Gedichts deutlich, das zweite Wort quondam weist schon das Thema des Gedichtes aus, wobei dieses quondam nicht direkt als "einst", also als ein Hinweis auf ein weit in der Vergangenheit liegendes Ereignis, zu verstehen ist, sondern vielmehr die deutliche Trennung zwischen dem, was gewesen ist, und dem, was Catull nun schmerzlich erfahren muss, symbolisieren soll. Das dem so ist, wird in Zeile 5 durch das nunc te cognovi deutlich. Durch diesen Ausdruck wird klar, dass es Catull nicht nur auf die Beteuerungen Lesbias ankommt, sondern vor allem auf seine damit verbundenen Gefühle.
Zu sehen ist dies auch in dem dilexi, wobei Catull selber dieser Ausdruck nicht exakt genug ist. Dies ist insbesondere im damaligen Zusammenhang zu verstehen, dass der romantische Aspekt der Liebe nicht in dem Maße betont wurde, wie in der heutigen Zeit, in der das Wort "lieben" den emotionellen Gesichtspunkt sehr viel stärker beinhaltet. Die antiken Leser konnten den Text und die Probleme Catulls somit nicht ausreichend verstehen. "Am Ende erweist sich der Ausdruck als Mißgriff. Es stand kaum zu erwarten, dass Catulls Zeitgenossen die richtigen Gedankenverbindungen herstellen würden. ... Man darf füglich daran zweifeln, dass Catull verstanden wurde - vielleicht deshalb, weil er selbst seine eigenen Gefühle nicht klar verstand."[1]. So ist auch die folgende Erklärung zu verstehen, in der Catull dieses dilexi näher beschreibt, er würde Lesbia nicht nur wie der vulgus lieben, sondern wie ein Vater seinen Sohn oder seinen Schwiegersohn. Bei der Übersetzung von vulgus tritt ein besonderes Problem auf. Eisenhut übersetzt es mit Pöbel, "Damals liebte ich dich, nicht so wie der Pöbel ein Liebchen ..."[2]. Dieses Wort ist in der heutigen Zeit mit Herablassung behaftet, Catull geht es jedoch darum, seine Liebe klarer darzustellen, ohne die Liebe der anderen abzuwerten. Passend empfinde ich dagegen die Übersetzung von amica mit "Liebchen", da es den Unterschied zwischen Catulls tiefer, inzwischen leidender, Liebe zu der allgemeinen, doch eher oberflächlichen Liebe gut ausdrückt.
Besonderes Augenmerk verdient auch die Beschreibung des dilexi als einer Liebe wie der eines Vaters zum Sohn oder eines Vaters zum Schwiegersohn, wobei ich besonders letzteres hervorheben möchte. Meiner Meinung nach irrt Kroll, wenn er vermutet, dass Catull "ohne Verszwang wohl nur die Kinder erwähnt hätte"[3]. Vielmehr vermute ich, dass Catull seine Liebe auf eine vollkommen emotionale Stufe stellen wollte, er wollte sie von jeglichem physischen Aspekt lösen. Und während die Liebe des Vaters zu seinem Sohn ja noch durch die Blutsverwandtschaft erklärt ist, kann der Liebe zum Schwiegersohn wohl kaum ein körperlicher Aspekt zugesprochen werden. Die Vermutung, Catull habe es quasi als Lückenfüller eingesetzt, halte ich für unhaltbar, da die Gedichte Catulls überflüssiges Schmuckwerk nicht enthalten und stets eine sehr genaue und einerseits emotionelle, andererseits doch immer auch überlegte Darstellung seiner Gefühle sind.
Wie schon erwähnt, wird der scharfe Gegensatz zwischen dem quondam und dem nunc te cognovi in Zeile 5 deutlich. Gerade die Kürze dieser Einleitung zeigt die extreme Gefühlslage Catulls. Verbittert und ernüchtert erkennt er, wie sehr er sich in Lesbias Gefühlen geirrt hat. Auch der Chiasmus zwischen dilexi tum und nunc cognovi drückt diese Erkenntnis deutlich aus. Und in dem gleichen Maße, wie in der ersten Hälfte des Gedichts der Unterschied zwischen Lesbias und Catulls Gefühlen ausgedrückt wird, so zeigt sich in der zweiten Hälfte der Zwiespalt, in den Catull geraten ist. Dieser Zweispalt wird gleich durch impensius und vilior et levior angedeutet, bevor er zwei Zeilen später klar und deutlich durch amare und bene velle das Gedicht zum Abschluß bringt. Die Gegenüberstellung von zwei Begriffen gegen impensius ist durchaus gewollt und aussagekräftig. Impensius mag gewöhnlich mit "in größerem Maße" übersetzt werden, hat jedoch eine zweifache Bedeutung, einerseits "schwerer", andererseits "mit größeren Kosten, teurer". Und genau diesen beiden Aspekten entsprechen levior (leichter) und vilior (billiger). "Vilior et levior ist dann nicht etwa ein vager Ausdruck der Mißbilligung ..., sondern eine genaue, wenn auch paradoxe, Paraphrase zu impensius"[4].
Diese erste Darstellung jedoch muss den Leser eher verwirren, als dass sie ihm Klarheit verschafft. Was meint Catull damit, dass er einerseits entflammt ist, andererseits aber Lesbia ihm weniger bedeutet? Wie kann dieser Widerspruch erklärt werden? Qui potis es? (Die feminine bzw. maskuline Form von potis muss uns hier nicht weiter verwundern, Catull benutzt wohl aus metrischen Gründen eine alte Neutrum - Form, die auf die Dauer durch Entfallen des s und Wandel des i zu pote wurde.) Catull nimmt diese Frage auf, wobei er die Frage scheinbar Lesbia stellt, zu der er ja die ganze Zeit spricht. Es darf allerdings angenommen werden, dass er die Frage auch sich selber stellt, und auch die folgende Erklärung liefert zwar einen ersten Schritt zur Antwort, doch vollständig kann Catull es weder sich noch seinem Leser erklären. Er fühlt nur, dass diese iniuria ihn zu solch gemischten Gefühlen zwingt. Auch am Ende des Gedichts taucht wieder der Unterschied zwischen der leidenschaftlichen, jedoch physischen Liebe und der emotionalen Zuneigung auf, wie schon zu Anfang des Gedichts der Unterschied durch tenere und dilexi, so wird dieser Konflikt nun noch einmal durch amare und bene velle dargestellt. "Die Flamme der Leidenschaft, die die physische Seite seiner Liebe ausmacht, ist immer heißer geworden, während seine geistige Achtung, die nicht - physische Seite, tiefer und tiefer gesunken ist."[5]. Somit bringt Catull am Ende seines Gedichtes seine Gedanken noch einmal klar zum Ausdruck, während er zugleich das Leiden, das damit verbunden ist, dem Leser deutlich vor Augen führt. Die iniuria zwingt ihn, so zu fühlen, ohne dass er sich dagegen wehren kann. So wie Catull das Gedicht angefangen hat, indem er auf die frühere schöne Zeit verweist, so beendet er das Gedicht mit dem negativen bene velle minus, das noch einmal die Folgen des dicebas und der damit verbundenen Heuchelei herausstellt. Zuletzt zeigt die Häufung der Komparative, von impensius über vilior, levior und magis bis zu minus, einerseits den Unterschied zum ersten Teil, doch noch viel mehr die Emotionen Catulls. "Auch die Häufung der Komparative schließlich verrät, wie sehr der Dichter Ausgewogenheit und Maß im Jetzt verloren hat; denn der Bezugspunkt, der Positiv all der Steigerungen ... liegt nicht in der zweiten Hälfte, sondern in dem entschwundenen glücklichen Einst der ersten Hälfte."[6]

III. Die carmina VIII und LXXXV


1. Das carmen VIII


Im carmen VIII schreibt Catull über das Ende seiner Beziehung zu Lesbia, die allerdings auch in diesem Gedicht nicht namentlich erwähnt wird. Auch hier ist seine geteilte Gefühlslage zu erkennen. Catull spricht zu sich selbst, er solle aufhören, an Lesbia zu denken, sie sei für ihn verloren. Mit Wehmut erinnert er sich an die Zeit, als er mit Lesbia Scherze trieb, eine Zeit, in der ihm soles candidi fulserunt.Doch wie auch der Tag mit seinem Sonnenschein vergehen muss, so musste auch die Liebe vergehen. Wie schon in carmen LXXII, so ist auch hier wieder eine klare Trennung zu sehen. In den ersten acht Zeilen beschreibt Catull die schöne Zeit, um dann wiederum, man vergleiche carmen LXXII, mit einer kurzen, prägnanten Einleitung - nunc iam illa non volt - im zweiten Teil die Gegenwart darzustellen. Er spricht sich selbst an, er solle doch diese Gedanken vergessen, nun solle auch er nicht wollen. Er solle standhaft sein, obdurare, das in der letzten Zeile als Quintessenz des Gedichts nochmals wiederholt wird.
Um dieses obdura nun gleich zu befolgen, sagt er Lebewohl. Dass dieses Lebewohl aber doch kein Abschied ist, dass Catull immer noch emotionell viel zu sehr berührt ist, zeigen die anschließenden Zeilen, in denen er darstellt, wie sehr doch das Ende der Beziehung auch Lesbia schmerzen muss. So fragt er, welches Leben ihr denn noch bleibt ohne ihn, wer ihr all die Vorteile bieten kann, die er ihr geboten hat. In den folgenden Fragen zeigt Catull gleich, was die Liebe zwischen ihm und Lesbia ausgezeichnet hat: Die Bewunderung Catulls - cui videberis bella, die gegenseitige Zuneigung - quem amabis, cuius esse diceris, aber auch die körperliche Zuneigung - quem basiabis, cui labella mordebis.
Abschließend wiederholt er die an sich gerichtete Aufforderung, er solle standhaft bleiben, womit er die Aussage des Gedichtes gleich in doppelter Hinsicht zusammenfaßt - die Notwendigkeit aber auch die Schwierigkeit, standhaft zu bleiben.
Ãœber die Intention des Gedichtes gibt es drei verschiedene Ansätze : Eine Deutung als ernstes Gedicht, eine als komisches Gedicht und eine, die es sowohl komische als auch ernste Aspekte erkennt. Für eine nicht vollkommen ernste Deutung spricht außer dem bloßen Vergleich mit anderen Gedichten, besonders den beiden hier behandelten, das Versmaß, ein Choliambus, auch Hinkiambus genannt. "Auch dem Metrum kommt diese Deutung entgegen, denn der Hinkiambus gerät durch sie wieder in eine gewisse Nähe zu seiner alten Spott - und Schimpftradition, während für die Vertreter der ausschließlich ernsten Auffassung seine ‘Anwendung auf einen solchen Stoff der Tradition zuwiderlief (Kroll)"[7] Gerade den Hinkiambus sieht Tyrrell in einer ganz anderen Funktion: "(Catull) lässt in flammenden Hinkiamben, die wie Würfe einer Handvoll Erde auf einen Sarg klingen, seiner seelischen Todesqual freien Lauf."[8] Doch die Art, in der Catull sich selbst anredet, das inpotens, die Schilderung der Scherze, die er einst machte, das mordere labella, all dies deutet auf einen scherzhaften Charakter des Gedichts hin. Auf der anderen Seite sind die Vorwürfe an Lesbia, insbesondere die Anrede als scelesta, durchaus ernst. Insofern sind wohl die beiden extremen Deutungen nicht zu halten, es ist wohl ein scherzhaftes Gedicht, das aber einen von Catull durchaus als ernst empfundenen Hintergrund hat.
Das scherzhafte Umgehen mit dem ernsten Thema, lässt vermuten, dass das Gedicht aus einer Phase stammt, in der Catull entweder das Ende der Beziehung noch nicht als endgültig ansieht, oder den Verlust als nicht allzu schlimm bewertet. Ebenso spricht die Tatsache, dass Catull einen Nebenbuhler mit keinem Wort erwähnt, sondern sogar Lesbia prophezeit, sie würde nun keinen anderen finden - quem nunc amabis, cuius esse diceris ? - dafür, dass das Gedicht aus einer Phase stammt, in der Catull entweder noch keinen Nebenbuhler hatte oder noch nichts von ihm wußte. Die Annahme, Catull wußte schon etwas von einem Nebenbuhler, ließe ihn hier aber unerwähnt, halte ich für nicht haltbar, insbesondere, wenn man bedenkt, dass die Anklage und Verhöhnung seiner Nebenbuhler ein wichtiges Thema seiner Gedichte sind. Beide Punkte sprechen also für eine relativ frühe Entstehung des Gedichts.

2. Das carmen LXXXV


Eine passende Übersetzung des wohl berühmtesten Gedichts Catulls ins Deutsche wurde von vielen Dichtern und Philologen versucht, unter ihnen so bekannte wie Mörike, Weinreich, und Vulpius. Doch stets zeigt sich, dass die kurze und prägnante Form des Originals im Deutschen bei Beibehaltung des Versmaßes nicht beizubehalten ist.
Schon der Anfang des Gedichts birgt für die Übersetzer ein Problem : Das lateinische odi et amo ist im Deutschen kaum wiederzugeben. Abgesehen von der Tatsache, dass die deutsche Übersetzung mit "ich" anfangen müsste und damit nicht in den Hexameter passen würde, ist schon eine kurze, aber adäquate Übersetzung des odi nicht möglich. Viele Übersetzer haben dafür hassen gewählt, jedoch gibt diese Übersetzung nicht die genaue Aussage Catulls wieder. Hier irrt meiner Meinung nach Ellis, wenn er sagt: "This Epigram is a brief but pointed expression of the connexion between violent love and violent hate."[9]. Dieses odi ist wohl als Gegensatz zu bene velle zu verstehen, nicht als Gegensatz zu amare, da Catull ja selber die beiden Gefühle auf eine Stufe stellt. Es ist ihm möglich, gleichzeitig amor und odium zu empfinden, während er, aufgrund seines odiums, nicht mehr bene velle potest. "Es ist deshalb nicht das Gegenteil von amare, was für Catull sinnliches Verlangen ausdrückt, sondern von bene velle und dessen Synonymen, mit denen er das Wesen der nicht - physischen Seite seiner Liebe zu umschreiben versuchte."[10] Eine passende Übersetzung zu odi ist schwer zu finden, zumal Catull selbst Probleme hat, diesen Zustand begreiflich zu machen.
Die Unbegreiflichkeit dieser beiden Gefühle drückt sich dann auch wieder in der folgenden Frage aus : quare id faciam fortasse requiris? Diese Frage ist nicht nur an den Leser gestellt, Catull stellt sie sich selber. Hier stimme ich weniger mit Syndikus überein: "Das Du, das der Dichter hier einführt, ist der normale Zeitgenosse, der vom Standpunkt des ‘gesunden Menschenverstandes’ aus urteilt und angesichts der seltsamen Aussage Catulls nur den Kopf schütteln kann."[11]. Das Du nimmt hier eben beide Positionen an: Die des normalen Zeitgenossen, aber auch die des Catull im Dialog mit sich selbst. Nicht nur der normale Zeitgenosse, dem, wie schon oben erwähnt, eine solche romantische Empfindung von Liebe weitgehendst fremd war, konnte diese nicht verstehen, sondern auch Catull steht diesem Phänomen ratlos gegenüber. So ist das Gedicht nicht als eine Schilderung an einen Unbeteiligten zu verstehen, Catull setzt sich hier nochmals mit seinem Problem auseinander, sein Streben nach Selbstinformation ist unverkennbar. "Wenn er nicht seine Mitmenschen verachtet, wird er ihnen nicht das Vergnügen versagen zu lesen, was er geschrieben hat, während er von der Muse inspiriert wurde, nachdem es einmal dem Zweck der Selbstinformation gedient hat."[12] Diese Selbstinformation besteht allerdings allein in der klaren Darstellung des Problems, eine Lösung kann Catull nicht finden.
So ist auch die, erst recht in Anbetracht der langen Frage, kurze Antwort zu verstehen: nescio ist der Ausdruck der Ratlosigkeit Catulls. Diese Frage ist wie "ein ermattendes Zurücksinken des Tons, ein Ritardando ausgeprägtester Art, das den Eintritt des neuen, qualvollen Ausrufs: ‘nescio’ wirkungsvoll kontrastierend vorbereitet."[13] Und auch die folgenden Worte sind kein Versuch einer Erklärung, sondern beschreiben nur den Seelenzustand noch einmal genauer.
Im fieri der zweiten Zeile benutzt Catull sehr geschickt das facere aus der ersten Zeile und zeigt durch den Wechsel vom Aktiv ins Passiv an, dass nicht er der Handelnde ist. Der Leser mag zu Anfang des Gedichts noch den Eindruck gehabt haben, dass Catull der Handelnde ist, doch nun begreift er, dass Catull gegen diesen Gefühlskonflikt keine Handhabe hat, er hat ihn nicht gewollt. "Nicht er handelt, sondern etwas geschieht mit ihm."[14]
Hier nun begegnet dem Ãœbersetzer wieder ein neues Problem. Die wortverwandte, aber doch sinnumkehrende Wendung facere - fieri ist im Deutschen kaum nachzubilden. Dem Original sehr nahe, jedoch im Deutschen etwas gezwungen, ist die Ãœbersetzung von Norden : "Du fragst wohl, warum ich’s so treibe. Weiß nicht. Dass es micht treibt, fühl ich und martre mich ab." Hier ist die unterschwellige Aussage Catulls sehr gut wiedergegeben.
So, wie der Grund gleich zu Anfang des Gedichts genannt wird, so wird die Folge am Ende aufgeführt. Mit dem hart klingenden, die seelischen Leiden vergegenwärtigenden excrucior wird dem Leser noch ein letztes Mal die prekäre Situation Catulls klargemacht.
Catull hat es mit seinem carmen LXXXV verstanden, eine komplizierte und schwer zu durchschauende Gefühlslage innerhalb von nur zwei Zeilen mit einer kaum zu überbietenden Klarheit auszudrücken. Hierbei nutzt er in hervorragendem Maße die Möglichkeit, mittels der lateinischen Sprache Zusammenhänge kurz und prägnant darzustellen.

IV. Vergleich der drei carmina


Die Gedichte zeitlich in eine Reihenfolge zu stellen, ist kaum möglich, auch wenn Heinze vermutet: "Aus all diesen Gründen dürfte c. 8 nicht der Zeit des Leids und der Trennung angehören, sondern einer früheren."[15]. Solch eine Einordnung ist jedoch hier auch nicht nötig, viel mehr spiegeln die Gedichte eine Entwicklung in Catull und in seinen Gefühlen wieder.
In carmen VIII ist Catull noch recht heiter und erkennt die Tragweite der Beziehung zu Lesbia noch nicht. Er prophezeit Lesbia, sie werde aufgrund der Trennung nun traurige Zeiten erleben, alleine, ohne Bewunderung oder gar Liebe eines Mannes. Seine eigenen Probleme erkennt er nicht. Zwar spürt er, dass der Verlust ihn quält, doch meint er, diesen vergessen zu können. Wie ein Tag, der notwendig auch vergehen muss, so muss wohl auch seine Liebe vergehen. So ist das carmen VIII zwar ein wehmütiges Gedicht, doch das scheinbare Paradoxon des odi et amo tritt in diesem Gedicht noch nicht in Erscheinung.
Anders dagegen das carmen LXXII, in dem schon viel deutlicher wird, wie es um Catull bestellt ist. Hier tritt erstmals der Konflikt auf, doch nicht, ohne die glückliche Zeit zuvor zu erwähnen. So ist das Gedicht zwar eine traurige, jedoch immer noch mit positiven Erinnerungen verwebte Schilderung. Die positive Erinnerung wird von Catull jedoch andererseits genutzt, um den Unterschied zwischen ihm und Lesbia herauszustellen. Während sie nur vorgab, ihn zu lieben, liebte er sie von ganzem Herzen, nicht so "wie der Pöbel sein Liebchen".
Im carmen LXXXV wird nun die ganze Tragweite der Trennung deutlich. Keine positiven Erinnerungen hellen die negative Darstellung auf. Catull versucht nun nicht mehr, das Geschehen logisch zu durchdringen, er liefert keine Begründung oder Erklärung, sondern verfaßt ein Klagegedicht in einer bei aller Schlichtheit doch vollkommenen dichterischen Form.
Interessant sind auch die Versmaße und äußeren Formen der drei Gedichte. Eine Veränderung dieser Mittel ist deutlich zu sehen, von dem, wie oben schon erwähnt, im Hinkiambus leicht scherzhaft verfaßten carmen VIII, über das in seiner äußeren Form neutrale carmen LXXII, bis hin zum carmen LXXXV, das Commager gar in die Nähe von Grabepigrammen stellt: "Catull scheint eine der früheren Anwendungen des Distichons, die des Grabepigrammes, seinen Zwecken anzupassen. Auch die Apostrophe requiris legt den Gedanken der Anrede an einen Passanten nahe, wie sie in Grabinschriften üblich ist."[16].
In der oben dargestellten Weise kann der Leser allein über die Schilderung der Trennung nachvollziehen, in welchem Grade und in welcher für seine Zeit ungewöhnlichen Art Catull Lesbia geliebt hat. Mit diesen drei Gedichten hat Catull eine Entwicklung dargelegt, die mit dem carmen LXXXV einen nicht zu übertreffenden Höhepunkt vorzuweisen hat.

V. Bibliographie



1.)
Mynors, R. A. B., C. Valerii Catulli / Carmina, Oxford 1958


2.)
Eisenhut, W., Catull / Gedichte, München, Zürich 1986


3.)
Kroll, W., C. Valerius Catullus, Stuttgart 1989


4.)
Heine, R., Catull, Darmstadt 1975


5.)
Heinze, R., Auswahl aus den Carmina / Catull, Band : Interpretationen, 1970


6.)
Syndikus, H. P., Catull : Eine Interpretation, Bd. 3 : Die Epigramme, Darmstadt 1987


7.)
Weinreich, O., Die Distichen des Catull, Darmstadt 1964.


8.)
Graves, R., The crowning privilege, New York 1956


9.)
Tyrell, R.Y., Latin poetry, Boston 1895

[1] Copley, F.O. in : Heine, R., Catull, Seite 292
[2] Eisenhut, W., Catull Gedichte, Seite 157
[3] Kroll, W., C. Valerius Catullus, Seite 245
[4] Commager, S., in : Heine, R., Catull, Seite 223
[5] Copley, F.O., in : Heine, R., Catull, Seite 293
[6] Heinze, R., Auswahl aus den Carmina / Catull, Band: Interpretationen, Seite 83
[7] Heinze, R., Auswahl aus den Carmina / Catull, Band: Interpretationen, Seite 28
[8] Tyrell, R. Y., Latin Poetry, Seite 103
[9] Ellis, Seite 461
[10] Copley, F.O., in : Heine, R., Catull, Seite 300
[11] Syndikus, H.P., Catull : Eine Interpretation, Band 3, Seite 58
[12] Graves, R., The crowning privilege, Seite 192
[13] Weinreich, O., Die Distichen des Catull, Seite 39
[14] Syndikus, H.P., Catull: Eine Interpretation, Bd. 3 : Die Epigramme, Seite 58
[15] Heinze, R., Auswahl aus den Carmina / Catull, Band: Interpretationen, Seite 29
[16] Commager, S., in : Heine, R., Catull, Seite 220

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