Die Leiden des jungen Werther

Gesellschaft in den Jahren 1767 bis 1785

Vor der Sturm-und-Drang-Bewegung

Das Verhalten der Gesellschaft in der Epoche des Sturm und Drang hat sich gegenüber der Zeit der Aufklärung stark verändert.

In der aufklärerischen Zeit ist das Denken und Handeln der Menschen von einem "optimistischen Glauben an die Macht der menschlichen Vernunft" des Menschen geprägt. Dieser Glaube umfasst alle geistigen Lebensbereiche. Man ist der Ansicht, alle Probleme und Schwierigkeiten, sowohl "gesellschaftlicher, wirtschaftlicher, naturwissenschaftlicher, als auch geistiger besonders aber religiöser Art", durch vernunftorientiertes Handeln lösen zu können. Durch dieses "Vernunftdenken" hat jeder Mensch eine sehr große Selbstverantwortung, der er gerecht werden muss.

Es gibt fertige, absolute Normen und Regeln, an die sich jeder halten muss, wenn er von der Gesellschaft anerkannt werden will. Durch diese einseitige Struktur gehen individuelle Charaktere und auch Menschen, die ihre Emotionen nicht verbergen können oder wollen, vollständig unter.

Eine Folge dieser "erstarrten Konventionen" ist, dass eine fast "lebensfeindliche Moral" vorherrscht. Das System der Gesellschaftsschichten mit ihren künstlichen Standesschranken bestärkt diese Denkweise noch besonders.

Jegliche Auflehnung gegen die bestehende Ordnung oder deren Infragestellung der bestehenden Ordnung wird strikt abgelehnt. Das der Moral der Gesellschaft entsprechende Handeln oder Verhalten ist also schon so weit vorbestimmt, dass ein von eigenständigen Entscheidungen geprägtes Leben innerhalb des Systems völlig unmöglich ist. Ein gutes Leben führt derjenige, der sich den vorgegebenen Maßstäben des Systems fügt.

Je höher die jeweilige Gesellschaftsschicht steht, in der man sich befindet, desto extremer tritt eine solche menschenfeindliche Haltung auf. Bei der Aristokratie ist dieses Verhalten besonders stark ausgeprägt.

Die Wende von der Aufklärung zur Sturm-und-Drang-Bewegung

Die Gesellschaft in der Epoche des Sturm und Drang hat sich gegenüber der Zeit der Aufklärung stark verändert.

Die Sturm-und-Drang-Bewegung entstand dadurch, dass sich es eine jugendliche Revolte gegen die Engstirnigkeit und Einseitigkeit der Aufklärer erhoben hatte. Sie bemängelte vor allem die "erstarrten Konventionen" und die künstliche Gesellschaftsordnung mit ihren klar voneinander abgetrennten Ständen.

Es herrschte ein reges Aufbegehren Man begehrte gegen die bestehende Gesellschaft auf, weil ihre soziale und politische Ordnung als unnatürlich und erdrückend wahrgenommen wurde. Diese Haltung wurde vor allem vom Bürgertum vertreten. Dies betraf allerdings nicht nur die Gesellschaftsformen, sondern auch die Kultur. Sie wurde als fremd und aufgesetzt erfahren. Die Menschen konnten sich nicht wirklich mit ihr identifizieren.

Allgemein lässt sich sagen: Nicht mehr die rationale, empirische Denkweise der Vernunft dominierte, sondern die Emotionen, die Sinnlichkeit und die Spontaneität eines jeden Einzelnen waren gefragt. Es galt nicht mehr als unschicklich, seine Gefühle zu zeigen. Aufgrund dieser neuen Lebensauffassung rückte das Individuum in den Vordergrund. Es wurde als das Kunstwerk der Natur angesehen. Aus der Natur geht das Genie hervor. Das Genie hat die Vollkommenheit der Natur, also das Göttliche, in sich verinnerlicht. Da sich das Göttliche in der Natur offenbart (Pantheismus), wird er auch durch den Menschen sichtbar. In einem Genie oder in dem, was es künstlerisch schafft, spiegelt sich also die Herrlichkeit Gottes wieder.

Die Leitidee von Sturm und Drang sind Selbsterfahrung, Selbstverwirklichung und die Befreiung des Individuums aus den vorgegebenen Normen. Das heißt, ein erwachendes Selbstbewusstsein, vor allem der bürgerlichen Gesellschaft, tritt zu Tage. Die Folge davon ist, dass der Lebenssinn sich veränderte. Es kommt eine völlig neue Lebensanschauung auf. Das Leben wird nicht mehr von den festgelegten Gesellschaftsregeln geprägt, sondern es herrscht ein "leidenschaftlich und spannungsgeladenes Lebensgefühl".

Dieser Gefühlsüberschwang wird vor allem in der Literatur deutlich. Die Autoren der Sturm -und -Drang -Zeit sehen sich als schöpferische Künstler, und damit als Genies. Sie können nun ihre ganz persönlichen Gefühle, Eindrücke und Erfahrungen in ihre Werke mit einbringen. Dadurch entsteht ein großes Mitteilungsbedürfnis. Es kommt zu einer regelrechten Schreibwut unter den Künstlern. Sie bringen alles, was sie innerlich bewegt, was sie bisher aber nicht ausdrücken konnten, zu Papier. Die Konsequenz ist eine bedeutend größere Vielfalt in der Literatur.

Goethes Sicht der Gesellschaft

Motivation, das Werk "Die Leiden des jungen Werther" zu schreiben

Johann Wolfgang Goethes Verhältnis zur Gesellschaft wird erstaunlich genau in dem Bild des jungen Werther aus seinem Werk "Die Leiden des jungen Werther", reflektiert. Er selber ist ein starker Befürworter der Sturm-und-Drang-Bewegung. Ihm ist es ein Anliegen, auf die Fehlerhaftigkeit der gesellschaftlichen Ordnung gegen Ende des 18. Jahrhunderts aufmerksam zu machen. Denn diese ist noch weitgehend von der Zeit der Aufklärung geprägt.

Um diesem Anliegen gerecht zu werden, schreibt er den Roman "Die Leiden des jungen Werther". Für ihn hat das Buch in erster Linie eine persönliche Bedeutung: Es ist für ihn die Verarbeitung seiner überwiegend negativen Erlebnisse mit der Gesellschaft und ihren starren Richtlinien. Um sich von diesen Erfahrungen zu befreien, aber auch um sie anderen mitzuteilen, schreibt er dieses Werk.

Parallelen zwischen Goethes Leben und seinem Werk

Die zahlreichen Übereinstimmungen, die es zwischen den Personen, Orten und Ereignissen in seinem Werk und seiner eigenen Lebensgeschichte gibt, sind unübersehbar.

Vor allem im ersten Buch, teilweise aber auch im zweiten, stellt Goethe sich und seine Erlebnisse in der Person des Werther dar. Beide Personen weisen hier die gleichen Vorlieben, Ansichten, Eigenschaften und Charakterzüge auf.

Ihre Lebensgeschichte weist erstaunlich viele Parallelen auf.

Die wichtigste Gemeinsamkeit ist wahrscheinlich, dass sie sich beide als schöpferische Genies ansehen. Diese hohe Selbsteinschätzung ist ein wesentlicher Grund für die Konflikte der beiden mit der Gesellschaft.

Ein anderes Beispiel: Die junge Lotte wird in Goethes Werk als gute und liebevolle Mutter vieler Kinder dargestellt. In diese verliebt sich Werther unsterblich und nimmt sich wegen ihr letztendlich auch das Leben.

Goethe machte ebenfalls die Bekanntschaft einer "Lotte" und verliebt sich in sie. Es war Charlotte Buff, eine sehr nette und liebevolle Frau und die Ersatzmutter von zwölf Kindern. Da ihre Mutter gestorben ist, führt sie nun den Haushalt und kümmert sich um ihre Geschwister. Goethe lernt sie 1772 anlässlich während eines Balles in Volpertshausen kennen. Von dieser Begegnung da an verbindet ihn eine enge Freundschaft mit ihr, ihrem Gatten Christian Kestner und ihren Geschwistern. Allerdings hat Goethe mit der Liebe zu Charlotte große Schwierigkeiten, da sie bereits mit Christian Kestner verlobt ist, und sie diese Verlobung angesichts der Moralvorstellung der Gesellschaft nicht mehr lösen kann.

Im zweiten Buch seines Werks dient ihm hauptsächlich Karl Wilhelm Jerusalem als Vorbild für Werther. Er ist ein Studienkollege während seiner Studienzeit in Leipzig.

Drei Gründe, ebenso wie bei Werther, sind es vor allem, aus denen er Jerusalem sich erschießt: Zum einen wegen der Liebe zu einer bereits versprochenen Frau, zum anderen wegen der herablassenden Behandlungsweise der Aristokratie.

Er ist auf eine ziemlich kränkende Art und Weise von der höheren Gesellschaft ausgeschlossen worden. Ihm wurde die Teilnahme an einer großen adeligen Gesellschaftsversammlung versagt.

Der letzte Grund dafür ist, dass er Schwierigkeiten mit seinem Vorgesetzten, einem Gesandtem hatte, wegen dem er auch seine Stellung aufgab.

Die Gemeinsamkeiten zwischen den Gewohnheiten von Werther und Jerusalem sind hier unübersehbar. Denn auch Werther erschoss sich letztlich aus den gleichen Gründen. Zum einen wegen der unglücklichen Liebesbeziehung zu Lotte. Zum anderen wurde er ebenfalls von einer aristokratischen Gesellschaftsversammlung ausgeschlossen und letztlich scheiterte er mit seiner Stellung am Hof, da er wegen eines überaus bürokratischen Sekretärs die Stellung aufgibt.

Eine weitere Gemeinsamkeit ist die Zurückgezogenheit und Absonderung von jeglicher Gesellschaft, in der Jerusalem und Werther vor ihrem Freitod lebten. Beide machen vor ihrem Tod einen langen Spaziergang durch die Natur, zu der sie beide eine so enge Beziehung haben.

Auch die Eigenschaft des schöpferischen Genies ist sowohl bei Jerusalem als auch bei Werther stark ausgeprägt. Sie sind beide begeisterte Zeichner.

Werther stellt hier das genaue Spiegelbild zu Jerusalem dar. Aber nicht nur von der inneren Einstellung lassen sich Gemeinsamkeiten feststellen, auch äußerlich gleichen sie sich sehr. Sie tragen sogar beide genau die gleiche Kleidung: Blauer blauer Frack, ledergelbe Weste, Unterkleider und Stiefel.

Alle Parallelen zwischen Goethe, seinem Leben, seinem Umfeld und seinem Werk "Die Leiden des jungen Werther" darzustellen, wäre fast unmöglich. Aber schon dieser Beispiele machen deutlich, wie viele autobiographische Züge Goethe in seinen Roman mit einbindet, und wie sehr er sich mit Werther identifiziert und wie sehr auch er unter den bestehenden Gesellschaftsnormen litt.

3.3 Goethes Werk als Befreiung aus einer persönlichen Lebenskrise

Goethe selber stand auch einmal wie Werther kurz vor einem Selbstmord. Er half sich aus dieser Situation heraus, indem er schöpferisch tätig wurde.

Er befreite sich aus einer Lebenskrise, indem er sie literarisch gestaltete.

Nachdem er dieses Werk geschrieben hatte, fühlte er sich "gelöst und befreit". Wenn Goethe, angesichts der gesellschaftlichen Umstände, dieses Werk hätte nicht schreiben können, hätte ihn wahrscheinlich ein ähnliches Schicksal wie das von "Werther" getroffen.

In dem folgenden Auszug aus einem Brief Goethes an einen Freund (Karl Friedrich Zelter am 03.12.1812), dessen Sohn Selbstmord begangen hatte, wird deutlich, dass Goethe einen direkten Bezug zu seinem Roman, besonders zu Werthers Schicksal hat.

"[...] Ich weiß recht gut was es mich für Entschlüsse und Anstrengungen kostete, damals den Wellen des Todes zu entkommen [...]."

Goethe benutzt in seinem Roman die Sprache des Herzens, der Leidenschaft, statt die der der Vernunft. Damit zeigt er, wie nahe ihm selber diese Thematik geht.

In den Briefen wird die Erregung Werthers vor allem durch ungleichmäßige Satzstruktur, durch halbe Sätze und durch die Häufung der Aposiopesen dargestellt. In dem Brief Werthers an Lotte kurz vor seinem Tod ist diese Beobachtung besonders ausgeprägt.

"[...] Jetzt noch mein, dein! dein o Geliebte! Und einen Augenblick - getrennt - geschieden vielleicht auf ewig?- Nein, Lotte, nein- Wie kann ich vergehen? wie kannst du vergehen? Wir sind ja!- Vergehen!- Was heißt das? Das ist wieder ein Wort! ein leerer Schall! ohne Gefühl für mein Herz.-- Tod, Lotte! eingescharrt in der kalten Erde, so eng! so finster!- [...]"

Die persönlichen Einflüsse des Autors treten doch immer wieder deutlich hervor.

Goethe möchte gleichzeitig aber die Distanz zu seinem Werk waren. Daher lässt er die Handlung von einem fiktiven Herausgeber erzählen. Dieser übernimmt zum Teil die Ereignisschilderung, während es Werther so schlecht geht, dass er nicht mehr fähig ist, etwas zu schreiben.

Auch wenn in seinem Werk autobiographische Züge deutlich zu erkennen sind und Goethe klar zeigt, dass die Handlung durchaus etwas mit der Realität zu tun hat, weist er dennoch einen persönlichen Bezug zu seinem Roman von sich.

"[...]Durch diese literarische zweigleisige Erzähltechnik wird die Geschichte immer in der Schwebe zwischen tiefer Anteilnahme an einem problematischen Menschen und kühler Diagnostik gehalten,[...]" der

Goethes Intention in Bezug auf die Gesellschaft

Durch die ganze Handlung ziehen sich wie ein roter Faden die persönlichen Einflüsse und Erfahrungen des Autors. Zwar wird durch die Erzählform des fiktiven Herausgebers ein direkter Bezug von Goethes Leben zu seinem Werk vermieden, aber die Intention des Autors wird dennoch absolut klar:

Goethe stellt sich hier gegen die bestehende Einseitigkeit der Aufklärung. Er versucht anhand dieses Werkes zu neuem, selbständigem und mehr emotional ausgerichtetem Denken anzuregen. Die Standesschranken sollen aufgehoben werden, so dass jeder Mensch die Möglichkeit hat, seine Individualität voll zu entfalten und nicht an den Normen und Richtlinien zu Grunde geht. Er stellt sich mit seinem Werk gegen das eingeengte "Vernunftdenken" der Menschen, das noch von der Zeit der Aufklärer geprägt war. Er zeigt ein vollkommen neues Lebensgefühl auf. Dieses Lebensgefühl ist geprägt von Emotionalität, von Spontaneität und Leidenschaft.

In seinem Werk wird dieses Lebensgefühl mehr als deutlich hervorgehoben. Werther ist hier als Vorbild, als "Idealperson" von Sturm und Drang zu verstehen.

Goethe stellt mit Werther eine "neue, gefühlsbetonte, die Fesseln bürgerlicher Vernunftethik sprengende Erlebnisweise der Liebe" dar. Er versucht den Menschen klarzumachen, dass Gefühle etwas sind, wofür man sich nicht zu schämen braucht. Um dies zu hervorzuheben, bindet er Themen wie Liebe, Freundschaft und Familie in sein Werk ein. Damit steht es im totalen Gegensatz zu den bisherigen Vorstellungen von Kunst und Literatur.

Goethe hat mit diesem Roman so viele Menschen angesprochen, weil er sich gegen das erdrückende Gesellschaftssystem gewehrt hat, dass die Lebensweise der Menschen so erschwert hat. Er hat somit die Denkweise der ganzen Sturm-und-Drang-Generation in seinem Briefroman zum Ausdruck gebracht. Was Goethe hier zu Papier gebracht hat, war der Wegweiser in eine völlig neue Epoche.

Werthers Sicht der Gesellschaft

Werther als Opfer der Gesellschaft

Werther, ein junger, wohlhabender und charakterstarker Mann aus bürgerlichen Verhältnissen, hatte schon seit seiner Kindheit ein gestörtes Verhältnis zur Gesellschaftsordnung seiner Zeit.

Schon in der frühen Kindheit stirbt sein Vater. Daher wird er von seiner willensstarken Mutter erzogen. Durch erfährt er von klein auf die gesellschaftlichen Richtlinien, an denen er später zu Grunde geht. Seine Mutter möchte, dass er eine ihm angemessene Berufslaufbahn einschlägt. Werther hingegen lehnt diese Karriere aufgrund einer unglücklichen Liebe ab.

Nach dem Tod seiner Mutter verlässt Werther seinen "lieben, vertraulichen Ort" (gemeint ist der Geburtsort) und zieht in die "verhasste Stadt", um eine Erbschaftsangelegenheit zu klären. Mit diesem Ereignis beginnt sein Leidensweg.

Durch diese gestörte Mutter-Kind-Beziehung wird auch gleichzeitig das gestörte Verhältnis zur Gesellschaft verdeutlicht.

Denn von nun an gerät er immer wieder mit den erstarrten Standesschranken, und damit auch den Gesellschaftsschranken vor allem zwischen dem Bürgertum und der Aristokratie, in Konflikt.

Trotz dieser massiven Konflikte versucht Werther sich mit der adeligen Gesellschaft zu arrangieren. Er nimmt daher, teils aus persönlichen Gründen, teils um dem Willen seiner Mutter gerecht zu werden, eine Stellung am Hof bei einem Minister als Geheimrat an. Obgleich er sogar Freunde findet, die seine Begabung fördern wollen, scheitert dieser Versuch. Denn die aristokratische Bevölkerung verweigert ihm jede Anerkennung und soziale Homogenität.

Insbesondere die Arbeitsmoral eines überaus bürokratischen und pedantischen Sekretärs widerspricht Werthers Arbeitsauffassung sehr. Die größte Differenz zwischen den beiden besteht darin, dass Werther ein gefühlsbetonter Mensch, der Gesandte jedoch ein an der Vernunft orientierter Mensch ist. Für den Gesandten arbeitet Werther nicht gewissenhaft genug, und der Gesandte ist nach der Meinung Werthers zu pedantisch. Die Arbeitsweisen der beiden kontrastieren so stark, dass ein Kompromiss unmöglich scheint. Dadurch kommt es zum Konflikt.

"[...] Ich fürchte, mein Gesandter und ich halten es zusammen nicht lange mehr aus. Der Mann ist ganz und gar unerträglich. [...]"

An dieser Stelle wird dem Leser die Abneigung Werthers gegen seinen Gesandten ganz besonders deutlich gemacht.

Allerdings ist der Gesandte in dieser Situation nicht in der Rolle eines einzelnen Menschen, mit dem Werther nicht zurechtkommt, zu verstehen, sondern er steht hier stellvertretend für die bürokratische Umgangsweise am Hof.

Werther legt hierauf, angesichts der Ausweglosigkeit der Situation, seine Arbeit nieder.

Aber der Konflikt Werthers mit der Gesellschaft bleibt nicht nur auf das berufliche Leben begrenzt; auch im privaten Bereich stößt er immer wieder auf Antipathien. So wird er zum Beispiel während eines höfischen Gesellschaftstreffens von den Gästen ausgeschlossen, da er nach ihrer Meinung nicht in das Bild der Versammlung hineinpasse. Eine besondere Demütigung und Enttäuschung ist für ihn, dass er ausgerechnet vom Grafen C., zu dem er bisher ein so gutes und freundschaftliches Verhältnis hatte, gebeten wird, die Versammlung zu verlassen. In dieser Situation steigen Werthers Aversionen gegen die höfische Welt noch weiter.

Nach diesem Ereignis tief gekränkt, gibt Werther schließlich seine Stellung am Hof auf und nimmt die Einladung eines Grafen an. Allerdings ist er auch hier nicht glücklich, da der Graf nach Werthers Verständnis mit wirklicher Kunst nichts anfangen kann.

"Er ist ein Mann von Verstande, aber von ganz gemeinem Verstande;" [...] Der Fürst fühlt in der Kunst und würde noch stärker fühlen, wenn er nicht durch das garstige wissenschaftliche Wesen und durch die gewöhnliche Terminologie eingeschränkt wäre."

An dieser Stelle wird eine sehr wichtige Charaktereigenschaft Werthers deutlich: Er ist von seiner eigenen Genialität sehr überzeugt. Er sieht in sich selber das Göttliche der Natur. Auch wird hier die Überlegenheit Werthers angedeutet. Er ist, zumindest, was die Kunst und das Schöpferische angeht, dem Fürsten weit überlegen. Diese Überlegenheit steht symbolisch für die höher zu bewertenden Tugenden des Bürgertums. Die bürgerlichen Wertvorstellungen werden hier den starren Normen und der falschen Moral der sozial und politisch höheren Aristokratie gegenübergestellt.

Obwohl es grundsätzlich keine Hindernisse zwischen Werther und der höfischen Gesellschaft gibt, scheitert er doch immer wieder an den erstarrten Konventionen des auf die Aristokratie ausgerichteten Systems.

Nach dieser weiteren Enttäuschung resigniert Werther und kehrt zu der inzwischen verheirateten Lotte zurück, wo er sich anfangs wohl zu fühlen scheint. Aber auch hier wird er nicht glücklich, denn er begreift, dass er Lotte nie für sich allein gewinnen kann. Da er die Liebe zu Lotte, sofern es wirklich Liebe ist, absolut setzt, bleibt ihm letztlich auch kein anderer Ausweg als der Freitod. Denn nur hier sieht Werther die Möglichkeit der Befreiung.

Missstände der Gesellschaft als Legitimation für einen Selbstmord

In der Romanhandlung wird immer wieder auf die Missstände der Gesellschaft hingewiesen, unter denen Werther so sehr zu leiden hat. Dass es diese Missstände gibt und dass viele Menschen unter ihnen leiden, ist sicher ohne Zweifel. Dennoch bleibt fraglich, ob dieses Faktum auch für Werther zutrifft. Denn der Grund für seine Selbstmordentscheidung ist höchst wahrscheinlich nicht, oder zumindest nur teilweise, auf die bestehende Gesellschaftsform zurückzuführen. Schließlich haben alle anderen Menschen bisher das System mit all seinen Fehlern auch überstanden.

Der wirkliche Grund für die gescheiterte Existenz von Werther, ist seine gestörte Persönlichkeit. Er ist psychisch krank. Und im weiteren Verlauf der Handlung geht es ihm immer schlechter. Am 4. Dezember 1772 sagt Lotte ihm nach einem "heftigen Ausbruch" sogar selber, dass er krank sei, und dass er gehen und sich beruhigen solle.

"[...] Werther, Sie sind sehr krank, [...] Gehen Sie! Ich bitte Sie, beruhigen sie sich.[...]"

Letztendlich merkt Werther, wie er selber langsam verrückt wird. Er fühlt sich von Lotte verfolgt und bedrängt, denn auch wenn sie nicht bei ihm ist, sieht er sie ständig vor seinen Augen. Er kann seine Gedanken nicht von ihr abwenden.

Das ist die Folge des "Idealbilds", dass er von Lotte entworfen hat. Er drängt sie somit in einen festen Rahmen. Deutlich wird das am 24. Juli 1771, als er einen Schattenriss von Lotte anfertigt..

"Darauf habe ich denn ihren Schattenriss gemacht und damit soll mir g'nügen."

Der Schattenriss lässt ihm die Möglichkeit, Lotte so zu sehen, wie er sie gerne haben möchte. Lottes Entwicklung wird dabei, wenn sie nicht in sein Idealbild hineinpasst, einfach nicht berücksichtigt. Sein Wunschbild lässt keine Möglichkeiten der Veränderung Lottes zu. Werther kann ihr also in ihren Entwicklungen nicht folgen. Dadurch entsteht auch die unglückliche Liebesbeziehung.

Er scheitert also an seiner Beziehungsunfähigkeit. Das wird darin deutlich, dass Werther Lotte den Schattenriss kurz vor seinem Tod zurück gibt.

Lotte hat ihm anfangs nie klar gesagt, dass er keine Chance hat, ihre Liebe ganz für sich zu gewinnen, und dass Albert für sie der Mann ihres Lebens ist. Werther erhofft sich daher, ihre Liebe doch noch ganz für sich zu gewinnen.

Diese Anfangsbild von Lotte bleibt bei Werther die ganze Zeit bestehen. Auch im weiteren Verlauf macht Lotte ihm nicht deutlich, dass sie sich nicht wegen ihm von ihrem Ehemann trennen wird., Durch diese Inkonsequenz Lottes steigert Werther sich immer mehr in das Geschehen ein. Letztlich ist es nur Unerfüllbarkeit seines Wunsches Lotte zu besitzen, die ihn an Lotte reizt.

Seine Engstirnigkeit in Bezug auf Veränderungen von Personen ist ein weiterer Grund für seinen Freitod. Denn kurz vor seinem Tod macht Lotte ihm klar, dass sie mit Albert glücklich verheiratet ist und es auch bleiben will.

Insofern besteht auch ein Widerspruch zwischen den Ansichten, die Werther so stark vertritt, und seinem Handeln. Er schwärmt von Individualität und klagt die Gesellschaft ihrer strengen Normen wegen an. Gleichzeitig ist er aber nicht in der Lage, die Individualität anderer Menschen zu akzeptieren. Hier bestätigt sich nun die These, dass die Gesellschaftsmissstände nur als Vorwand für seinen Selbstmord verwendet werden.

Reaktionen auf das Werk

Goethe erzielt mit seinem Briefroman eine unerwartete Wirkung. Die Reaktionen auf sein Werk sind unvorstellbar.

Er erregt mit seinem Werk vor allem in Europa, aber auch in anderen Staaten, sehr großes Aufsehen. Das Buch findet so große Zustimmung, dass innerhalb kürzester Zeit mehrere Auflagen erscheinen. Schon relativ bald nach der Veröffentlichung wird das Buch in alle anderen Kultursprachen übersetzt. Es geht als erstes deutsches Werk in die Weltliteratur ein.

Goethe selber ist sehr überrascht, sogar erschrocken darüber, welche Reaktionen die Veröffentlichung seines Romans hervorruft. Es kommt in ganz Europa und sogar darüber hinaus zu einem regelrechten "Fieber", wie es heute nur von berühmten Popgruppen bekannt ist. Es erscheinen Teller und Tassen mit Motiven von Werther und Lotte. Die Leute kleiden sich im Stil von Werther und tragen zum Teil sogar einen "Werther - Haarschnitt". Es kommt sogar zu einer großen Zahl von Selbstmorden, die auf den Werther - Roman zurückzuführen sind.

Des Weiteren werden auch zahlreiche Nachahmungen, Gegenschriften und Parodien des Werkes herausgebracht. Dieser Roman Goethes brachte die bisher versteckten Gefühle vieler Menschen erstmals zum Ausdruck.

Literaturverzeichnis

    Bark, Joachim und Steinbach, Dietrich und Wittenberg, Hildegard. Geschichte der deutschen Literatur. Stuttgart, 1997 Metzler, J. B. Literatur Lexikon. 2. Auflage, Stuttgart, 1990 Rothmann, Kurt. Erläuterungen und Dokumente, Johann Wolfgang Goethe: Die Leiden des jungen Werther. revidierte Ausgabe, o.O., 1998 Hermes, Eberhard. Abiturwissen, Deutsche Literatur. 5. Auflage, Stuttgart, 1998 Goethe, J. W.. Die Leiden des jungen Werther. durchgesehene Ausgabe, Stuttgart, 1999

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