Vita des Tibull

Einleitung

P. Ovidius Naso ad Tibullum:

"Donec erunt ignes arcusque Cupidinis arma,

discentur numeri, culte Tibulle, tui."

Am. I, 15, v. 27-28

"Immer, solang der Liebesgott kämpft mit Pfeilen und Gluten, wir man Gedichte von Dir lernen, verehrter Tibull"1 1

"Vergilium vidi tantum, nec avara Tibullo

tempus amicitiae fata dedere meae;"

Trist. IV, 10, v. 51-52

"Sehn nur konnt' ich Vergil; auch ließ das geizige Schicksal nicht viel Zeit dem Tibull, Freundschaft zu pflegen mit mir." [1]

"Wie der wechselnde Wind nach allen Seiten die hohen

Saaten im weichen Schwung niedergebogen durchwühlt:

Liebekranker Tibull! So unstet fluten, so reizend

Deine Gesänge dahin, während Gott Dich bestürmt." 2

Eduard Mörike

Diese wenige Zeilen der großen Dichter Ovid und Mörike machen deutlich, wie bedeutend Tibull für Seinesgleichen war und welches Ansehen er bei ihnen besaß.

· Doch welchen Eindruck machte er zu Lebzeiten auf den "Durchschnittsmenschen"?

· Wer wußte von ihm und seinem Werk?

· Wer war dieser Tibull überhaupt?

· Wie lebte er?

· Was für eine Art Mensch war er?

· Wie kommt man ihm näher?

All diese Fragen und noch viele mehr zwängen sich auf, wenn man sich zu ersten Mal mit Tibull befaßt.

Die folgende Hausarbeit versucht auf viele von ihnen eine Antwort zu geben. Leider gelingt dies, aus noch näher zu erläuternden Gründen, nicht immer, aber dennoch ist es ihr Ziel, soviel Information, wie möglich über den Menschen und Dichter Tibull zu vermitteln.

1. Die Vita des Tibull

Sucht man unter den Handschriften, welche die klassischen Autoren der Nachwelt hinterlassen haben nach solchen, die sich ausschließlich mit dem Leben des Albius Tibullus befassen, so stößt man lediglich auf eine kurze Vita und ein ihr vorangestelltes Epigramm.

Die Vita ist wohl Gaius Suetonius Tranquillus (ca. 70 - 125 n. Chr.) zuzuschreiben, der am Hofe Trajans und Hadrians Karriere als Archivar, Bibliothekar und Sekretär machte. Es war seine Leidenschaft, Biographien bedeutender Männer aus der römischen Geschichte zusammenzustellen. Er bezeugt in seinen Schriften eine seltsame Vorliebe für Anekdotisches, für Intimes, ja sogar für Anstößiges - also für Dinge, die sich in historiographischen Werken der römischen Literatur sonst kaum finden lassen. Von seinem Gesamtwerk sind uns <De viris illustribus> fragmentarisch und <De vita Caesarum> vollständig erhalten. [i]

Das Epigramm entstammt der Feder des Domitius Marsus. Dieser Domitius Marsus, der dem Kreis des M. Cilnius Maecenas­) angehörte, der von Martial oft als sein Vorgänger bezeichnet wird und eine Sammlung von Epigrammen (Cicuta), Erzählungen (fabellae), eine systematische Abhandlung über die Anwendung des Humors in der Beredsamkeit (de urbanitate), ein Epos (Amazonis) und vielleicht Liebeselegien auf Melaenis schrieb, lebte noch nach Tibulls und Vergils Tod, war aber zur Zeit der Verbannung des Ovid (8 Jhd. n. Chr.) längst tot. [ii]

1.1. Die Vita

Albius Tibullus, eques Romanus, insignis forma cultuque corporis observabilis, ante alios Corvinum Messallam oratorem dilexit, cuius etiam contubernalis Aquitanico bello militaribus donis donatus est. hic multorum iudicio principem inter elegiographos obtinet locum. epistolae quoque eius amatoriae, quamquam breves, omnino utiles sunt. obiit adulescens, ut indicat epigramma supra scriptum.

"Albius Tibullus, römischer Ritter, von stattlicher Erscheinung und sichtbar gepflegtem Körper, schätzte vor anderen den Redner Corvinus Messalla, als dessen Zeltgenosse er im aquitanischen Kriege militärische Ehrengaben empfing. Er nimmt nach dem Urteil vieler unter den Elegieendichtern die erste Stelle ein. Auch seine Liebesepisteln, wiewohl kurz, sind durchweg gut zu lesen. Er starb als junger Mann, wie das vorangestellte Epigramm besagt."

1.2. Das Epigramm

"Te quoque Vergilio comitem non aequa, Tibulle,

Mors iuvenem campos misit ad Elysios

Ne foret, aut elegis molles qui fleret amores

Aut caneret forti regia bella pede."

"Dich auch sandte Tibullus, Vergil zum Geleite, des Todes

Willkür jung schon hinab zu der elysischen Flur,

Dass keiner mehr zärtliche Liebe elegisch beklage

Oder der Könige Krieg singt im erhabenen Ton."2

Nimmt man die kurze Vita und das Epigramm als Grundlage für die Rekonstruktion von Tibulls Leben, so lassen sich aus ihnen einige wichtige Hinweise entnehmen:

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Wie an dem quoque Vergilio des Epigramms deutlich zu erkennen ist, muss es noch ein anderes Epigramm über den Tod des Publius Vergilius Maro (21. September 19 v. Chr.) geben, auf das hier verwiesen wird. Nimmt man an, dass die beiden Epigramme ungefähr zur gleichen Zeit geschrieben wurden, der Bezug also unmittelbar erfolgte, dann kann davon ausgegangen werden, dass Tibull kurz nach Vergil ebenfalls verstarb.

Das Wort iuvenem macht deutlich, dass Tibull noch in jungen Jahren verschieden ist.

Weiterhin ist ersichtlich, dass Tibull die Liebe elegisch beklagte und über Könige schrieb.

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Der Vita lässt sich entnehmen, dass Tibull ein eques Romanus, also ein römischer Ritter war, der nach außen hin ein gutes und gepflegtes Erscheinungsbild besaß. Dieser Gesellschaftsstand ermöglichte es ihm, in sicheren und wohlhabenden Verhältnissen zu leben, obwohl in seinem eigenen Werke zwei Hinweise auf seine Armut zu finden sind.­)

Dies darf aber nicht allzu wörtlich genommen werden - es ist wohl eher Teil seiner elegischen Ausdrucks- und Darstellungsweise. iv

Schließlich erfahren wir noch, dass M. Valerius Mesalla Corvinus ihn sehr achtete, dass seine Schreibweise gut lesbar und er als Führender unter den Elegiendichtern angesehen wurde.

1.3. Mesalla und Tibull

Die Beziehung, die Tibull zu seinem Gönner Mesalla pflegte bedarf nun wohl noch genauerer Betrachtung:

M. Valerius Mesalla Corvinus war ein einflußreicher und hochgebildeter Mann, der sich nach dem Sieg bei Actium, ähnlich wie Maecenas (s.o.) der Förderung der Dichtkunst annahm und aus diesem Grund Dichter um sich scharte. Hauptaufgabe dieses so entstandenen Kreises war es, die Liebes- und Freundschaftsdichtung zu pflegen.[iii]

Auch in Tibulls eigenem Werk (I, 10; I, 7) findet man Hinweise darauf, dass er unter Mesalla nach Aquitanien in den Krieg zog, als Sieger heimkehrte und anschließend mit ihm Triumph (im September 27 v. Chr.) feierte. Bei einem weiteren Krieg im Osten kann Tibull Mesalla, wegen einer Krankheit, nicht begleiten (I, 3).

1.4 Das Geburtsjahr des Tibull

Aus diesen Informationen lässt sich auf das ungefähre Geburtsjahr des Dichters schließen, das leider weder in seinem eigenem Werk noch in dem eines anderen Schriftstellers erwähnt wird:

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Welcher der beiden oben genannten Feldzüge des Mesalla der erste war lässt sich nicht mit letzter Sicherheit sagen, man nimmt aber allgemein an, dass Mesalla unmittelbar nach der Schlacht bei Actium (31 v. Chr.), in der er als Befehlshaber eines Flottengeschwaders des Octavians fungierte, von eben diesem nach Aquitanien zur Niederwerfung eines Aufstandes entsandt wurde und erst später in den Orient.

Geht man davon aus, dass Tibull Mesalla in Erfüllung seiner Wehrpflicht nach Gallien begleitete, er zu dieser Zeit also gerade volljährig war, so erhält man ein Geburtsjahr um 50 v. Chr. Das Epigramm lehrt, dass Tibull kurz nach Vergil stirbt, also um das Jahr 19 v. Chr.; Tibull wäre also ungefähr 30 Jahre alt geworden. [iv]

2. Tibull bei Horaz

Hinweise auf Charakterzüge des historischen Tibull finden sich auch in zwei Gedichten des Q. Horatius Flaccus (8.12. 65 v. Chr. - 27.11. 8 v. Chr.):

1 Carmina I,33:

Albi, ne doleas plus nimio memor

inmitis Glycerae, neu miserabilis

decantes elegos, cur tibi iunior

laesa praeniteat fide.

Inignem tenui fronte Lycordia

Cyri torret amor, Cyrus in asperam

declinat Pholoen; sed prius Apulis

iugentur capreae lupis,

quam turpi Pholoe peccet adultero.

Sic visum Veneri, cui placet inparis

formas atque animos sub iuga aenea

saevo mittere cum ioco.

Ipsum me melior cum peteret Venus,

grata detinuit compede Myrtale

libertina, fretis acrior Hadriae

curvantis Calabros sinus.

Albius, gräme dich nicht mehr allzusehr mehr im Gedenken

an die grausame Glykera, nicht klagend

besinge in Elegien, warum nur dich ein Jüngerer

überstrahlt und gebrochen die Treue.

Schön mit ihrer schmalen Stirn, Lykoris

für Kyros glüht in Liebe - Kyros zur spröden

Pholoe sich wendet: doch eher in Apulien

verbinden Rehe sich mit Wölfen,

als dass sich verginge Pholoe mit einem niedrigen Buhlen.

So ist der Wille der Venus, der es gefällt, ungleiche

Gestalten und Geister unter ihr Joch aus Eisen

zu zwingen in grimmigem Scherze.

Mich selbst auch hat, da mich suchte bessere Liebe,

mit holder Fessel gebannt gehalten Myrtale,

die Freigelassene, wilder sie als die Fluten der Adria, die aushöhlt Kalabriens Buchten. 4

2 Epistula I,4:

Albi, nostrorum sermonum candide iudex,

quidnunc te dicam facere in regione Pedana?

Scribere quod Cassi Parmensis opuscula vincat

an tacitum silvas inter reptare salubris

curantem quidquid dignum sapiente bonoque est?

Non tu corpus eras sine pectore: di tibi formam,

di tibi divitias dederunt artemque fruendi.

Quid voveat dulci nutricula maius alumno,

qui sapere et fari possit quae sentiat et cui

gratia fama valetudo contingat abunde

et mundus victus non deficiente crumina?

Inter spem curamque, timores inter iras

omnem crede diem tibi diluxisse supremum:

grata superveniet quae non sperabitur hora.

Me pinguem et nitidum bene curata cute vises,

cum ridere voles, Epicuri de grege porcum.

Albius, Du unbestechlicher Richter meiner Satiren, was, frage ich Dich, tust Du jetzt in der Gegend von Pedum? Schreibst du, was des Cassius aus Parma kleine Werke überragt? Oder wandelst du schweigend durch die Gesundheit spendenden Waldungen, sinnend, was würdig eines weisen und guten Menschen? Nicht warst Du Leib ohne Geist: Schöne Gestalt gaben dir die Götter, die Götter gewährten dir Reichtum und auch die Kunst zu genießen. Was wünschte wohl Größeres die zärtliche Amme für ihren lieben Zögling, wenn er denken kann und sprechen, was er empfindet, er, dem Gunst, Ruhm, Gesundheit reichlich zuteil geworden, dem ein eleganter Lebensstil eignet und das Geld nicht ausgeht? Zwischen Hoffnung und Sorge, zwischen Furcht und Zorn betrachtet jeden Tages Licht als dein letztes: Willkommen wird dir dann erscheinen die Stunde, die nicht mehr erhofft ward.

Wenn du lachen willst, besuche mich - fett und glänzend findest Du mich, die Haut wohl gepflegt, ein Schweinchen aus der Herde Epikurs.4

Es kann nicht mit letzter Sicherheit bestätigt werden, dass Horaz mit diesen beiden Gedichten tatsächlich Tibull anspricht, aber es liegt nahe, dies als sicher anzunehmen, da den Historikern kein weiterer Elegiendichter bekannt ist, der Zeitgenosse des Tibulls war, denselben Gentilnamen trug und ebenfalls, wie dieser mit der Stadt Pedum in Verbindung stand.

Geht man davon aus, dass der angesprochene Albius und Tibull identisch sind, so kann man auch aus oben genannten Schriften des Horaz einiges über den Menschen Tibull erfahren:

Die Ode zeigt, dass Tibull unter der Erinnerung an eine unglückliche Liebe leidet, in deren Verlauf seine Geliebte einem Jüngerem den Vorzug gab. Seiner Enttäuschung und seinem Schmerz gibt Tibull in klagenden Elegien Ausdruck. Horaz fordert den Unglücklichen auf, das Ganze als einen schlechten Scherz der Iuno abzutun. Er stellt sich ihm helfend zur Seite, indem er seinerseits eine ähnliche, ihm zugestoßene Affäre andeutet.

In der Epistel möchte Horaz erfahren, was Tibull im Moment tut. Zwei Antworten auf seine Frage erscheinen ihm als möglich: Entweder schreibt Tibull etwas Bedeutendes, oder er wandert umher und sinniert über ethische Dinge. Er führt Tibull dann vor Augen, dass ihm alle Voraussetzungen für ein glückliches Leben von den Göttern gegeben sind: forma, divitias, artem frui, gratia, fama, valetudo. Es liegt nun an ihm, diese einzusetzen und für sich zu nutzen. Er wiederholt den in den Oden schon vielfach erwähnten Ratschlag, jeden Tag seines Lebens aktiv zu leben und als den letzten überhaupt anzusehen, dann sei die Freude über den nächsten kommenden Tag um so größer.

Tibull muss hier als ein Mensch verstanden werden, der trotz bester Voraussetzung nicht glücklich leben kann. Horaz versucht dies durch zwei ,einander entgegengesetzte Begriffspaare zu verdeutlichen: auf der einen Seite spes curaque und auf der anderen timores et irae. Das erste Paar bezieht sich wohl auf ein ständiges Hoffen und Bangen, was die kommenden Zeiten, die Zukunft betrifft. Das zweite zielt auf übermäßige Scheu und Abneigung fremden Menschen gegenüber ab. Tibulls Charakter ist nach der Darstellung des Horaz also ein Gemisch aus Angst und Optimismus im Hinblick auf die kommende Zeit, gemischt mit Verschlossenheit und Antipathie Fremden gegenüber. Er ist hypersensibel, befangen, leicht erregbar und cholerisch. Ein Mensch, der sich selbst im Wege steht und sich grundlos selbst das Leben schwer macht.

Betrachtet man dieses Bild Tibulls so ist es nicht schwer zu verstehen, dass er sich gerade auf die Subjektive Liebeselegie als Dichtungsgattung verlegte. Er war dafür prädestiniert. Leider unterstützte das elegische Dichten auch seine, für ihn wohl nicht gerade positiven Charakterzüge, so dass er immer tiefer in diesen "Teufelskreis" geriet. iv

3. Vergleich der Vita des Tibull mit der Suetonvita des Vergil

Vergleicht man die vorliegende Vita des Tibull mit der Suetonvita des Vergil (siehe Anhang), so fällt zunächst der sich doch deutlich unterscheidende Umfang auf. Während für Tibull nur einige Zeilen verfaßt wurden, die sich auf wenige Aussagen beschränken, wurde Vergil eine seitenfüllende Schrift mit ausführlichen Informationen hinsichtlich seines Lebens und seines Werkes gewidmet, aus der sich weit über das bescheidene Maß, mit dem wir uns im Hinblick auf die Vita Tibulls beschränken müssen, Daten, Fakten, Ereignisse, Orte, Personen und Gepflogenheiten entnehmen lassen, die uns diesen großen Dichter näher bringen, ihn für uns verständlich und erfahrbar machen. Sie beschränkt sich dabei nicht nur auf das Leben des Vergils, auf sein Erscheinungsbild und seinen Tod, wie das bei der Vita des Tibull der Fall ist, sondern sie geht auch näher auf die Umstände seiner Geburt, auf seine Gesundheit, seine Gepflogenheiten, auf die Herkunft und das Leben seiner Eltern sowie auf die gesellschaftlichen Begleitumstände seine Lebens näher ein.

Da die Suetonvita des Vergil auch nicht die einzige noch erhaltene ist, die zu Ehren des Dichters verfaßt wurde­), ist es uns heute möglich sein Leben, seine Einstellungen, seine Charakterzüge, sein Werk und seine Person in fast allen Einzelheiten nachzuvollziehen.

Die sich zwangsläufig bei der oben durchgeführten Betrachtung der beiden Viten und dem damit verbundenem Vergleich aufdrängende Frage nach dem Grund für die Bevorzugung des Vergils gegenüber Tibull ist nicht einfach zu beantworten. Dies schon allein deshalb, weil uns keinerlei Schriftstücke erhalten sind, die in irgendeiner Weisen auf dieses Problem eingehen. Man muss sich also auf Vermutungen stützen, auf Ansichten, die wir Tausende von Jahren später machen, in der Hoffnung der Wahrheit möglichst nahe zu kommen, aber auch in dem Wissen, sie nie völlig erreichen zu können:

Vergil schrieb die Aeneis.

Das Epos galt als die Vornehmste und repräsentativste Gattung der Poesie. Homers <Ilias> und <Odyssee> gehörten zum Leben des Römers. Aber man besaß, bei aller Liebe zum Mythos, selbst keine Dichtung, die sich mit Homer messen konnte. Wie die Vita berichtet, hat Vergil in seiner Jugend römische Geschichte in Angriff genommen, ist aber wegen der Schwierigkeit des Stoffes zur Hirtendichtung übergegangen. Doch hat der zeitgenössisch-historische Stoff seinen dichterischen Ansprüchen wohl nicht mehr genügt, so dass er schon in der Georgica die Aeneis bereits in Umrissen ankündigte. In Rom sprach es sich bald herum, dass Vergil sich bei seiner Arbeit das höchste Ziel gesteckt hatte. Die Aeneis war kaum begonnen, da war ihr Ruhm schon so groß, dass Properz sie rühmte:

"Weichet zurück, ihr römischen Dichter, weichet, ihr Griechen:

etwas Größ'res entsteht hier, als die Ilias ist." [v]

Es wird deutlich, wie bedeutend Vergil und sein Werk für die römische Gesellschaft war. Er hatte das bis dahin bei den Römern Unmögliche gewagt, er hatte ein römisches Epos geschrieben. Eine Schrift, die alle Römer, zumindest die der höheren Schichten ansprach und von ihnen hoch geschätzt wurde. Vergil war zum "literarischen Held" geworden.

Und was erreichte Tibull mit seinen Schriften? Wen sprach er an? Wer las Tibull? Für wen schrieb Tibull? Was wollte er mit seiner Dichtung aussagen oder erreichen? Warum zog er sich so aus dem öffentlichen Leben zurück? Wie, wenn überhaupt, machte er sein Werk allen zugänglich?

Könnte man all diese Fragen konkret beantworten, so wäre es ein leichtes den Erfolg und den Bedeutungsgrad des Vergil dem des Tibull gegenüber zu erklären. Da wir aber, wie schon erwähnt, aus literarischen Quellen leider nur sehr wenig über Tibull erfahren, ist es für uns sehr schwierig eine Rezept für dieses Problem zu finden. Es sollen an dieser Stelle auch keine Patentlösungen angeboten, sondern lediglich Denkanstöße vermittelt werden.

Vergil war bedeutender und bekannter als Tibull, weil er mit seinen Werken weitere Kreise ansprach, er war wohl leichter zu lesen, für viele verständlicher und erwählte sich, zumindest in den Augen der Römer, Themen für seine Werke, die greifbar, nachvollziehbar, erlebbar waren.

Anhang

Vita Suetoni

(vulgo Vita Donatiana)

P. Vergilius Maro Mantuanus parentibus modicis fuit ac praecipue patre, quem quidam opificem figulum, plures Magi cuiusdam viatoris initio mercennarium, mox ob industriam generum tradiderunt egregieque substantiae silvis coemendis et apibus curandis auxisse reculam. Natus est Cn. Pompeio Magno M. Licinio Crasso primum coss. Iduum Octobrium die in pago, qui Andes dicitur et abest a Mantua non procul.

Praegnans eum mater somniavit enixam se laureum ramum, quem contactu terrae coaluisse et excrevisse ilico in speciem maturae arboris refertaeque variis pomis et floribus, ac sequenti luce cum maritorus propinquum petens ex itinere devertit atque in subiecta fossa partu levata est. Ferunt infantem, ut sit editus, neque vagisse et adeo miti vultu fuisse, ut haud dubiam spem prosperioris geniturae iam tum daret. Et accessit aliud praesagium, si quidem virga populea more regionis in puerperiis eodem statim loco depacta ita brevi evaluit tempore, ut multo ante satas populos adaequavisset; quae arbor Vergilii ex eo dicta atque etiam consecrata est summa gravidarum ac fetarum religione suscipientium ibi et solventium vota.

Initia aetatis Cremonae egit usque ad virilem togam, quam XVII anno natali suo accepit isdem illis consulibus iterum duobus, quibus erat natus, evenitque, ut eo ipso die Lucretius poeta decederet. Sed Vergilius a Cremona Mediolanum et inde paulo post transiit in urbem.

Corpore et statura fuit grandi, aquilo colore, facie rusticana, valetudine varia; nam plerumque a stomacho et a faucibus ac dolore capitis laborabat, sanguinem etiam saepe reiecit. Cibi vinique minimi, libidinis in pueros pronioris, quorum maxime dilexit Cebetem et Alexandrum, quem secunda Bucolicorum ecloga Alexim apellat, donatum sibi ab Asinio Pollione, utrumque non ineruditum, Cebetem vero et poetam. Vulgatum est consuesse eum et cum Plotia Hieria. Sed Asconius Pedianus adfirmat ipsam postea maiorem natu narrare solitam invitatum quidem a Vario ad communionem sui, verum pertinacissime recusasse. Cetera sane vita et ore et animo tam probum constat, ut Neapoli Parthenias vulgo appelatus sit ac, si quando Romae, quo rarissime commeabat, viseretur in publico, sectantis demonstrantisque se subterfugere (t) in proximum tectum.

Bona autem cuiusdam exulantis offerente Augusto non sustinuit accipere. Possedit prope centiens sestertium ex liberalitatibus amicorum habuitque domum Romae Esquiliis iuxta hortos Maecenatianos; quamquam secessu Campaniae Siciliaeque plurimum uteretur.

Parentes iam grandis amisit, ex quibus patrem captum oculis et duos fratres germanos, Silonem inpuberem, Flaccum iam adultum, cuius exitum sub nomine Daphnidis deflet.

Inter cetera studia medicinae quoque ac maxime mathematicae operam dedit. Egit et causam apud iudices unam omnino nec amplius quam semel; nam et in sermone tardissimum ac paene indocto similem fuisse Melissus tradidit.

Poeticam puer adhut auspicatus in Ballistam ludi magistrum ob infamiam latrociniorum coopertum lapidibus distichon fecit:

"Monte sub hoc lapidum tegitur Ballista sepultus;

nocte die tutum carpe, viator, iter."

Deinde Catalecton (et Priapea et Epigrammata) et Diras, item Cirim et Culicem, cum esset annorum XVI. Cuius materia talis est: Pastor fatigatus aestu cum sub arbore condormisset et serpens ad eum proreperet, e palude culex provolavit atque inter duo tempora aculeum fixit pastori. At ille continuo culicem contrivit et serpentem interemit ac sepulcrum culici statuit et distichon fecit:

"Parve culex, pecudum custos tibi tale merenti

funeris officium vitae pro munere reddit."

Scripsit etiam, de qua ambigitur, Aetnam. Mox cum res Romanas inchoasset, offensus materia ad Bucolica transiit, maxime ut Asinium Pollionem, Alfenum Varum et Cornelium Gallum celebraret, quia in distributione agrorum, qui post Philippensem victoriam veteranis triumvirorum iussu trans Padum dividebantur, indemnem se praestitissent. Deinde (scripsit) Georgica in honore Maecenatis, qui sibi mediocriter adhuc noto opem tulisset adversus veterani cuiusdam violentiam, a quo in altercatione litis agrariae paulum afuit quin occideretur. Novissime Aeneidem inchoavit, argumentum varium ac multiplex et quasi amborum Homeri carminum instar, praeterea nominibus ac rebus Graecis Latinisque commune, et in quo, quod maxime studebat, Romanae simul urbis et Augusti origo contineretur.

Cum Georgica scriberet, tarditur cotidie meditatos mane plurimos versus dictare solitus ac per totum diem retractando ad paucissimos redigere, non absurde carmen se ursae more parere dicens et lambendo demum effingere. Aeneida prosa prius oratione formatam digestamque in XII libros particulatim componere instituit, prout liberet quidque, et nihil in ordinem arripiens. Ac ne quid impetum moraretur, quaedam inperfecta transmisit, alia levissimis versibus veluti fulsit, quos per iocum pro tibicinibus interponi aiebat ad sustinendum opus, donec solidae columnae advenirent.

Bucolica triennio, Georgica VII, Aeneida XI perfecit annis. Bucolica eo successu edidit, ut in scaena quoque per cantores crebro pronunitarentur. Georgica reverso post Actiacam victoriam Augusto atque Atellae reficiendarum faucium causa commoranti per continuum quadriduum legit suscipiente Maecenate legendi vicem, quotiens interpellaretur ipse vocis offensione. Pronuntiabat autem cum sua vitate cum lenociniis miris, ut Seneca tradidit Iulium Montanum poetam solitum dicere involaturum se Vergilio quaedam, si et vocem posset et os et hypocrisin: eosdem enim versus ipso pronuntiante bene sonare, sine illo inanes esse mutosque.

Aeneidos vixdum coeptae tanta extitit fama, ut Sextus Propertius non dubitaverit sic praedicare:

"Cedite Romani scriptores, cedite Grai:

nescio quid maius nascitur Iliade"-,

Augustus vero - nam forte expeditione Cantabrica aberat - supplicibus atque etiam minacibus per iocum litteris efflagitaret, ut "sibi de Aeneide", ut ipsius verba sunt, "vel prima carminis [hypographae] vel quodlibet [cholon] mitteretur". Cui tamen multo post perfectaque demum materia tres omnino libros recitavit, secundum quartum sextum, sed hunc notabili Octaviae adfectione, quae, cum recitationi interesset, ad illos defilio suo versus: "Tu Marcellus eris" defecisse fertur atque aegre focilata (esse). Recitavit et pluribus, sed neque frequenter et ea fere, de quibus ambigebat, quo magis iudicium hominum experiretur. Erotem librarium et libertum eius exactae iam senectutis tradunt referre solitum quondam eum in recitando duos dimidiatos versus complesse ex tempore. Nam cum hactenus haberet: " Misenum Aeoliden", adiecisse: "Quo non praestantior alter", item huic: "Aere ciere viros", simili calore iactatum subiunxisse: "Martemque accendere cantu" satimque sibi imperasse, ut utrumque volumini adscriberet. Anno aetatis quinquagesimo secundo in positurus Aeneidi summam manum statuit in Graeciam et in Asiam secedere triennioque continuo nihil amplius quam emendare, ut reliqua vita tantum philisophiae vacaret. Sed cum ingressus iter Athenis occurrisset Augusto ab oriente Romam revertenti destinaretque non absistere atque etiam una redire, dum Megara vicinum oppidum ferventissimo sole cognoscit, languorem nactus est eumque non intermissa navigatione auxit ita, ut gravior aliquanto Brundisium appelleret, ubi diebus paucis obiit XI Kal. Octobr. Cn. Sentio Q. Lucretio coss. Ossa eius Neapolim translata sunt tumuloque condita, qui est via Puteolana intra lapidem secundum, in quo distichon fecit tale:

"Mantua me genuit, Calabri rapuere, tenet nunc

Parthenope; cecini pascua rura duces."

Heredes fecit ex dimidia parte Valerium Proculum fratrem alio patre, ex quarta Augustum, ex duodecima Maecenatem, ex reliqua L. Varium et Plotium Tuccam, [qui eius Aeneidem post obitum iussu Caesaris emendaverunt, de qua re Sulpicii Carthaginiensis extant huiusmodi versus:

"Iusserat haec rapidis aboleri carmina flammis

Vergilius, Phrygium quae cecinere ducem.

Tucca vetat Variusque simul; tu, maxime Caesar,

non sinis et Latiae consulis historiae.

Infelix gemino cecidit prope Pergamon igni,

et paene est alio Troia cremata rogo."]

Egerat cum Vario, priusquam Italia decederet, ut, si quid sibi accidisset, Aeneida combureret; at is facturum se pernegarat. Igitur in extrema valetudine assidue scrinia desideravit, crematurus ipse; verum nemine offerente nihil quidem nominatim de ea cavit, ceterum eidem Vario ac simul Tuccae scripta sua sub ea conditione legavit, ne quid ederent, quod non a se editum esset. Edidit autem auctore Augusto Varius, sed summatim emendata, ut qui versus etiam inperfectos, si qui erant, reliquerit; quos multi mox supplere conati non perinde valuerunt ob difficultatem, quod omnia fere apud eum hemistichia absoluto perfectoque sunt sensu, praeter illud: "quem tibi iam Troia". Nisus grammaticus audisse se a senioribus aiebat Varium duorum librorum ordinem commutasse et, qui nunc secundus sit, in tertium locum transtulisse, etiam primi libri correxisse principium his versibus demptis:

"Ille ego, qui quondam gracili modulatus avena

carmina et egressus silvis vicina coegi,

ut quamvis avido parerent arva colono,

gartum opus agricolis, ad nunc horrentia Martis -

arma virumque cano."

Obtrectatores Vergilio numquam defuerunt, nec mirum, nam nec Homero quidem. Prolatis Bucolicis Numitorius quidam rescribsit anti Bucolica, duas modo Eclogas, sed insulsissime [parodaesas], quarum prioris initium est:

"Tityre, si toga calda tibi est, quo tegmine fagi?"

sequentis:

"Dic mihi, Damoeta:> cuium < pecus anne Latinum?

Non, verum Aegonis nostri; sic rure loquuntur."

Alius recitante eo ex Georgicis: "Nudus ara, sere nudus" subiecit: "Habebis frigore febrem". Est et adversus Aeneida liber Carvili Pictoris, titulo Aeneidomastix. M. Vipsanius a Maecenate eum suppositum appellabat novae cacozeliae repertorem, non tumidae nec exilis, sed ex communibus verbis atque ideo latentis. Herennius tantum vitia eius, Perellius Faustus furta contraxit. Sed et Q. Octavi Aviti [homoiotaeton] octo volumina, quos et unde versus transtulerit, continent. Asconius Pedianus libro, quem contra obtrectatoris Vergilii scripsit, pauca admodum obiecta ei proponit eaque circa historiam fere et quod pleraque ab Homero sumpsisset; sed hoc ipsum crimen sic defendere adsuetum ait: cur non illi quoque eadem furta temptarent? Verum intellecturos facilius esse Herculi clavam quam Homero versum subripere. Et tamen destinasse secedere, ut omnia ad satietatem malevolorum deciderit.

[1] 2

Tibull und sein Kreis

H. Färber und M. Faltner (Hrsg.)

Tusculum-Bücherei

S. 8/9

Tibull und sein Kreis

H. Färber und M. Faltner (Hrsg.)

Tusculum-Bücherei

S. 150

­) Auch in den Wirren der Bürgerkriege hatten politisch und finanziell mächtige Männer, der Tradition der Scipionen folgend, einen Kreis Gebildeter um sich gesammelt, um Künste und Wissenschaften zu pflegen. In diese Kreise wurden begabte jüngere Dichter sehr gern aufgenommen. Für diesen Zweck hatte Maecenas sein Haus zur Verfügung gestellt. Er entstammte einem alten etruskischen Adelsgeschlecht und war als Freund und Berater des Augustus ein politisch und finanziell mächtiger Mann. Sein Name ist deshalb zu einem Begriff geworden (Mäzenatentum), weil er sich mit großem Sachverständnis um die Förderung für die römische Literatur wichtiger Dichter verdient gemacht hat.iii

­) I, 1, 19-22:

"vos quoque, felicis quondam, nunc pauperis agri

custodes, fertis munera vestra, Lares.

tunc vitula innumeros lustrabat caesa iuvencos,

nunc agna exigui est hostia magna soli."

"Laren, Hüter eines früher reichen, jetzt verarmten Landguts, auch ihr bekommt eure Gaben. Damals entsühnte ein geopfertes Kalb zahllose Stiere: Jetzt ist ein Lamm, wenn es hoch kommt, das Opfer für ein winziges Stück Land."

I, 1, 41-44: (siehe S. 7 unten)

"non ego divitias patrum fructusque requiro,

quos tulit antiquo condita messis avo:

parva seges satis est, satis est requiescere lecto,

si licet, et solito membra levare toro."

"Ich vermisse nicht den Reichtum meiner Väter und den Gewinn, den die eingebrachte Ernte einem Vorfahr eintrug. Ein kleiner Ertrag genügt mir, und es genügt mir, im Bett zu schlafen, wenn ich kann, und den Körper auf dem gewohnten Polster zu entspannen."

[zitiert aus: Liebeselegien/Properz. Carmina/Tibull. lateinisch-deutsch

Georg Luck (Hrsg. und Übers.), Artemis und Winkler, Zürich, 1996; S. 280 - 283]

4

Horaz, sämtliche Gedichte

Lateinisch / Deutsch

Philipp Reclam jun. Stuttgart

S. 68 / 69 ; S. 530 / 531

­) Serviusvita, Probusvita, Berner Viten, Münchner Viten, Focasvita, Philargyriusvitae, Vita Donatiana, Kärntner Viten, Vita Hieronymiana, Vita Vossiana, Leidener Vita, u.a.

Bibliographie:

[i]

Neues Handbuch der Literaturwissenschaft

Klaus von See (Hrsg.)

Akademische Verlagsgesellschaft

Athenaion

Frankfurt am Main, 1974

[ii]

Geschichte der römischen Literatur Band I

Michael von Albrecht

K. G. Saur Verlag GmbH & Co. KG

München, 1994

[iii]

Res Romanae

Prof. Dr. Heinrich Krefeld (Hrsg.)

Cornlesen Verlag Hirschgraben

Frankfurt am Main, 1988

[iv]

Tibull: Einführung in sein Werk

Christoff Neumeister

Heidelberger Studienhefte zur Altertumswissenschaft

Heidelberg, Winter 1986

[v]

Vergil

Marion Giebel (Verf.)

Wolfgang Müller (Hrsg.)

Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH

Reinbek bei Hamburg, Mai 1986

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