Albert Schweitzers Ethik und Friedensdenken

"Ich bin Leben, das leben will ..."

Hausarbeit

1953 zeichnete das Osloer Komitee Albert Schweitzer rückwirkend für das Jahr 1952 mit dem Friedensnobelpreis aus. Es ehrte damit sein praktisches Lebenswerk, aber auch sein Denken. Wodurch ist dieses geprägt?

I.

Der Ausgangspunkt von Schweitzer im Kampf für einen langfristigen Frieden in der Welt ist seine Ethik der "Ehrfurcht vor dem Leben". Diese Lehre ist für ihn so elementar, dass sie seiner Meinung nach zum Beispiel auch einen Ausweg aus der atomaren Bedrohung aufzeigen kann.

Seine fundamentale Formel fasst er in folgendem Kernsatz zusammen: "Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will." Schweitzer führt diese These weiter aus, indem er meint, dass "wie in seinem (des Menschen) Willen zum Leben Sehnsucht ist nach dem Weiterleben und nach der geheimnisvollen Gehobenheit des Willens zum Leben, (...) ob er sich ihm gegenüber äußern kann oder ob er stumm bleibt", das Leben selbst das Unergründliche ist..1Aus diesem Grund ist es für Schweitzer selbstverständlich, dem Leben Ehrfurcht entgegenzubringen.

Den Begriff der "Ehrfurcht vor dem Leben", welche sich auf alles Lebendige bezieht, hat Schweitzer selbst in Afrika "gefunden", entwickelt und entscheidend geprägt. Das Neuartige an diesem Verständnis einer menschlichen Ethik beschreibt er so: "Es ging mir auf, dass die Ethik, die nur mit unserem Verhältnis zu den andern Menschen zu tun hat, unvollständig ist und darum nicht die völlige Energie besitzen kann. Solches vermag nur die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben. Durch sie kommen wir dazu, nicht nur mit Menschen, sondern mit aller in unserem Bereich befindlichen Kreatur in Beziehung zu stehen, und mit ihrem Schicksal beschäftigt zu sein, um zu vermeiden, sie zu schädigen, und entschlossen zu sein, ihnen in ihrer Not beizustehen, soweit wir es vermögen."2Dieser Aspekt von Schweitzers Ethik, auch nichtmenschliches Leben für schützenswert zu erachten, wird als fundamentaler Fortschritt im Vergleich zu anderen ethischen Lehren angesehen. Noch heute beziehen sich Umweltschützer auf ein Verständnis der Einheit der Natur, welches durch uns nicht zerstört werden darf.

Vom Prinzip her sind die von Schweitzer gestellten Anforderungen sehr hoch und radikal: "Die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben erkennt keine relative Ethik an."3Sie bürdet dem Einzelnen eine "ins Grenzenlose" erweiterte Verantwortung auf, der er nur schwer gerecht werden kann: Da auch Schweitzer weiß, dass jeder Mensch täglich notwendiger Weise Leben schädigen oder töten muss, gilt es für ihn immer wieder abzuwägen, ob oder inwieweit dies verantwortet werden kann

Jedoch hat der Grundgedanke Schweitzers einen mehrschichtigen Charakter, welcher den Absolutheitsanspruch dieser Ethik rechtfertigt. Benedict Winnubst4beschreibt diesen ausführlich. Zunächst arbeitet er vier Grundlagen dieses ethischen Grundsatzes heraus. Die verschiedenen Aspekte, in welche sich seiner Meinung nach Schweitzers Theorie unterteilen lässt, sind folgende:

a) der Appell an das sittliche Empfinden, welches jedem Menschen von Natur aus eigen ist.

b) das "Grundprinzip der Sittlichkeit", nämlich das Leben als solches

c) der Appell zum "sittlichen Empfinden", welches ein Handeln notwendig macht.

d) der religiöse Charakterzug

Zu a): Um den Inhalt dieses ersten Gedankens wiederzugeben, genügt es, Schweitzer zu zitieren: "Der Aufruf "Habt Ehrfurcht vor dem Leben" hat etwas in sich selbst schon Einleuchtendes; das überall auf unserer Erde in vieles Milliarden von Wesen geheimnisvoll wirkenden Leben hat etwas Ehrfurcht Erweckendes und Ehrfurcht Forderndes in sich; es spricht damit unser sittliches Empfinden an, ohne dass es dazu einer weiteren Begründung bedarf."5

Zu b) kann man Folgendes feststellen: Schweitzers Auffassung nach ist bereits in den Worten "Ehrfurcht vor dem Leben" das Grundprinzip der Sittlichkeit zum Ausdruck gebracht. Dieses beruht auf dem Leben als solchem, was für den Menschen ein unerklärliches Mysterium bleibt.

Zu c): Die Ehrfurcht vor dem Leben muss, dem Prinzip der Sittlichkeit folgend, einen bestimmenden Einfluss auf den endgültigen Zweck unseres Handelns haben. Schweitzer zufolge ist die Frage nach dem Einfluss auf das Handeln sogar die wichtigste. "Denn was bedeuten Gefühl und ethische Theorie, wenn sie nicht auf unser Handeln einwirken ?"6

Zu d): Schweitzer ist davon überzeugt, dass "die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben die ins Universelle erweiterte Ethik der Liebe" ist. Sie ist für ihn die "als denknotwendig erkannte Ethik Jesu."7Als solche offenbart sich uns der "unendliche Wille zum Leben als Schöpferwille, der voll dunkler und schmerzlicher Rätsel für uns ist."8Schweitzer kommt letztendlich zu der Schlussfolgerung, dass die Weltanschauung der Ehrfurcht vor dem Leben religiösen Charakter hat - und stellt fest, dass " der Mensch, der sich zu ihr bekennt und sie bestätigt, in elementarer Weise fromm" ist.9Aus dem Prinzip der Ehrfurcht vor dem Leben folgt für ihn "das denknotwendige, universelle, absolute Grundrinzip des Ethischen" für den Menschen, nämlich die "Nötigung, allem Willen zum Leben die gleiche Ehrfurcht vor dem Leben entgegenzubringen wie dem eigenen."10

Die praktische Umsetzung dieser Ehrfurcht ist für den Menschen hingegen keine leichte Aufgabe, denn er stellt sich damit laut Albert Schweitzer in einen Gegensatz zum Ablauf in der Natur. "Die Natur kennt keine Ehrfurcht vor dem Leben. Sie bringt tausendfältig Leben hervor in der sinnvollsten Weise und zerstört es tausendfältig in der sinnlosesten Weise. Durch alle Stufen des Lebens (...) ist die Unwissenheit über die Wesen ausgegossen. Sie haben nur den Willen zum Leben, aber nicht die Fähigkeit des Miterlebens, was in den anderen Wesen vorgeht; sie leiden, aber sie können nicht mitleiden. Der große Wille zum Leben, der die Natur erhält, ist in rätselhafter Selbstentzweiung mit sich selbst. Die Wesen leben auf Kosten des Lebens anderer Wesen."

Auch der Mensch kann sich von diesen Grundgesetzen der Natur nicht vollständig loslösen, weil er dazu geneigt ist, den bequemsten Weg oder den des geringsten Widerstandes zu gehen. Deshalb drängt sich uns auch immer wieder die Überlegung auf: "Es nützt ja doch nichts ! Was du tust und kannst, um Leiden zu verhüten, um Leiden zu mildern, um Leben zu erhalten, ist ja doch nichts im Vergleich mit dem, was geschieht auf der Welt, um dich herum, ohne dass du etwas tun kannst." Dem setzt Albert Schweitzer allerdings entgegen, dass jeder Mensch einen kleinen Beitrag leisten kann: "Das Wenige, dass du tun kannst, ist viel."

Aus dieser Ethik im Zusammenleben der Menschen entwickelt sich schließlich Kultur. Diese wird so zu einer Verlängerungslinie der Ethik. Im Ringen um die Kultur heißt es für den Menschen Prioritäten zu setzten. Für Albert Schweitzer hängt die Entstehung und Förderung von Kultur letztendlich mit unserer Entwicklung und dem Fortschritt insofern zusammen, dass Kultur für eine Ausbildung des Fortschritts unabdingbar ist. In diesem Zusammenhang stehen für ihn drei Gebiete der Forschung im Vordergrund: "Fortschritte des Wissens und des Könnens. Fortschritte in der Vergesellschaftung der Menschen. Und Fortschritte in der Geistigkeit."

Sorgenvoll beobachtete Schweitzer schon während seines Studiums eine Entwicklung, die den Fortschrittdes Wissens und Könnens gegenüber der Geistigkeit in den Mittelpunkt des Interesses der modernen Zivilisation setzt: "Trunken von den Fortschritten des Wissens und des Könnens, die über unsere Zeit hereinbrachen, vergaßen wir, uns um den Fortschritt in der Geistigkeit der Menschen zu sorgen." Dem setzt Schweitzer entgegen, dass "alle Fortschritte des Wissens und des Könnens sich zuletzt verhängnisvoll auswirken, wenn wir nicht durch entsprechenden Fortschritt unserer Geistigkeit Gewalt über sie behalten." Denn "durch die Macht, die wir über die Kräfte der Natur gewinnen, bekommen wir auch in unheimlicher Weise als Menschen über Menschen Gewalt."11

Am 21. April 1963 schreibt Schweitzer in seinem Aufsatz "Die Entstehung der Lehre der Ehrfurcht vor dem Leben und ihre Bedeutung für unsere Kultur" 12"Die Technik hat uns alle Mittel gegeben alles Leben zu vernichten. Diese Mittel müssen wir abschaffen. Die Großmächte vertrauen einander nicht. Es muss sich eine öffentliche Meinung bilden, die die Abschaffung der Atomwaffen fordert. Nur die Ehrfurcht vor dem Leben kann die dafür nötige Grundeinstellung schaffen. Das Individuum und die Völker müssen dadurch, " dass sie in dieser Ethik leben, ethische Persönlichkeiten werden."

Als eine der Ursachen des Krieges erklärt Schweitzer folglich den Wertverlust des Individuums, eine Art "Entmenschlichung". Benedict Winnubst schreibt hierzu: "Wir tun den ersten Schritt auf dem Weg, der zu der heutigen Drohung der Vernichtung allen Lebens führt, wenn wir unseren Mitmenschen nicht mehr als Mensch sehen." Ein Zitat Schweitzers belegt eindringlich diese Aussage: "Wo das Bewusstsein schwindet, dass jeder Mensch uns als Mensch etwas angeht, kommen Kultur und Ethik ins Wanken. Das Fortschreiten zur entwickelten Inhumanität ist dann nur noch eine Frage der Zeit."13

Wenn Schweitzer sich mit dem Frieden beschäftigt, weist er immer wieder auf die Unmenschlichkeit des eigentlichen Kriegsgeschehens hin: "Als der Krieg kam, erhielt die Inhumanität, die in uns war, freien Lauf."14Benedict Winnubst zeigt in diesem Zusammenhang auf, dass Schweitzer in seinen Appellen auf die ständige Bedrohung des Friedens immer wieder zurück kommt: "Wir haben uns in den letzten beiden Kriegen schuldig gemacht und würden es in einem kommenden noch weiter tun."15

Dieses Zitat deutet auch Schweitzers kritische Haltung bezüglich der geistigen Fortschritte unserer Kultur an. Er ist davon überzeugt, dass der Mensch durch seine Kenntnisse meint, zum "Übermenschen" geworden zu sein: "Sein Übermenschtum besteht darin, dass er auf Grund seiner Errungenschaften des Wissens und des Könnens nicht nur über die in seinem Körper gegebenen physischen Kräfte verfügt, sondern auch solchen, die in der Natur vorhanden sind, gebietet und sie in den Dienst nehmen kann."16In Wirklichkeit sei der moderne Mensch jedoch ein Unmensch: "Der Übermensch leidet (...) an einer verhängnisvollen geistigen Unvollkommenheit. Er bringt die übermenschliche Vernünftigkeit, die dem Besitz übermenschlicher Macht entsprechen sollte, nicht auf. Dieser bedürfte er, um von der von ihm errungenen Macht nur zur Verwirklichung des Sinnvollen und Guten, nicht auch zum Töten und Vernichten Gebrauch zu machen. Darum sind ihm die Errungenschaften des Wissens und Könnens mehr zum Verhängnis als zum Gewinn geworden."17Schweitzers Schlussfolgerung istdemzufolge: "Was uns aber eigentlich zu Bewusstsein kommen sollte und schon lang zuvor hätte kommen sollen, ist dies, dass wir als Übermenschen Unmenschen geworden sind."18

Diese Aussage ist für uns heute um so erschreckender, wenn wir uns vor Augen halten, dass dadurch, dass wir in den Besitz von Atomwaffen und anderen Vernichtungswaffen (chemische, biologische) gekommen sind und inzwischen auch eine Revolution der Biotechnologie erlebt haben, die Möglichkeit und die Versuchung Leben zu vernichten (und heute vor allem auch zu "manipulieren) ins Unermessliche gestiegen sind.

Aber nicht alle Menschen sind für Schweitzer von diesem Machtstreben besessen, der Konflikte zu Vernichtungskriegen eskalieren lässt. Ein weiterer Aspekt seiner Ethik ist deshalb der Gedanke der Sühne. In seinen Selbstzeugnissen schrieb er hierzu: "Eine große Schuld lastet auf uns und unserer Kultur. Wir sind gar nicht frei, ob wir an den Menschen draußen Gutes tun wollen oder nicht, sondern wir müssen es. Was wir ihnen Gutes beweisen ist nicht Wohltat, sondern Sühne. Für jeden, der Leid verbreitet, muss einer hinaus gehen, der Hilfe bringt. Und wen wir alles leisten, was in unseren Kräften steht, so haben wir nicht ein Tausendstel der Schuld gesühnt. Dies ist das Fundament, auf das sich die Erwägungen der "Liebeswerke" draußen erbauen müssen."19Diese Aufgabe zur Sühne bekommt schließlich in seinem Werk "Mein Wort an die Menschen" eine neue Dimension, welche eine Lösungsmöglichkeit für das Problem aufzeigt. Jedoch ist hierfür die Bereitschaft aller "Rassen" erforderlich um zu einer gemeinsamen friedlichen Lösung zu kommen: "Es muss dahin kommen, dass Weiss und Farbig sich in ethischem Geist begegnen. Dann erst wird eine Verständigung möglich sein. An der Schaffung dieses Geistes zu arbeiten, heisst zukunftsreiche Politik treiben."

An diesem Punkt wird deutlich, dass Schweitzer seinen Begriff der Ethik sehr umfassend versteht. Eine umfassende und allgemeine Völkerverständigung ist auch heute noch nicht realisiert. Die Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben könnte somit in einer modernen Interpretation auch eine Antwort auf die Probleme unserer Zeit wie Krieg, Rassismus, Ignoranz oder soziale Ungerechtigkeiten darstellen.

II.

Lange bevor Albert Schweitzer mit seinem Ruf nach Frieden in das Blickfeld der Weltöffentlichkeit trat, beschäftigte er sich als Philosoph, Ethiker und Mensch mit den Möglichkeiten, einen dauerhaften Frieden in der Welt zu sichern. Durch scharfsinnige Beobachtung der Menschen und deren Verhalten sowie der politischen Situation versuchte er, Auswege aus der friedlosen Situation der Menschheit zu finden und aufzuzeigen.

Im Jahre 1934 kritisiert er bereits den "Mangel an Denken" unter den Menschen, der charakterisiert sei durch eine "Verachtung des Lebens". Weiter meint er, dass wir Krieg führten und das Leiden von Millionen von Menschen und Tieren riskierten, um Fragen, die durch vernünftige Überlegungen hätten gelöst werden können, zu beseitigen.20"Das heutige Elend auf der ganzen Welt ist das der Friedlosigkeit, in dem die Völker miteinander sich auf dem Weg zum Verderben befinden."21Für Schweitzer hatten wir in der Zeit des Kalten Krieges, in der er die meisten seiner Schriften zur Friedensproblematik verfasste, nur die Wahl zwischen "Friede oder Atomkrieg"22. Letzteres war von ihm nicht nur zur Abschreckung formuliert, sondern er sah eine reale Gefahr.

Aus diesem Grund antwortet Schweitzer im Jahr 1952 einer schwedischen Journalistin auf deren Frage, was der Menschheit am meisten Not tut: "Alle miteinander, soweit wir des rechten Überlegens fähig sind, halten wir dafür, dass es Friede ist, der der Menschheit von jeher notwendig war und es jetzt in ganz besonderer Weise ist."23

Frieden ist für Albert Schweitzer "in dem Aufhören der unter den Menschen herrschenden Friedlosigkeit" zu begreifen. Dieser Frieden fängt beim Individuum an. Er ist für jeden Einzelnen durch das Anstreben eines "ethischen Geistes" zu erreichen. Somit ist Frieden nach dem Verständnis Schweitzers ein immer tiefer gehender geistiger Prozess des Individuums, der bis in die persönlichen Strukturen dringt und sich immer von neuem der Gewissenserforschung widmen muss. Schweitzer hat volles Vertrauen in die Kraft des Geistes, von der allein ein dauerhafter Frieden ausgehen kann und soll.

Die neue Geisteshaltung, die den ethischen Geist in Individuen, Völkern und Diplomaten bewirken soll, nennt er "Vertrauenswürdigkeit". Sie bewirkt, dass die Parteien einander vertrauen, sie nicht auf Kernwaffen zurückgreifen werden und damit den Weg für Atomabrüstungverträge ebnen, indem sie die Schwierigkeiten bei der vertraglichen Beendigung von Kernwaffenversuchen und in der Schaffung eines Überwachungssystems überwinden.

Dieses ethische Denken wird seiner Meinung nach durch einen blinden Forschungsdrang der Menschen überdeckt, wobei Schweitzer sich allerdings nicht gegen die rasche Entwicklung von Wissen und Können richtet. Er ist vielmehr davon überzeugt, dass mit den Errungenschaften aus Wissenschaft und Technik verantwortungslos umgegangen wurde und dadurch ethische Ideale in Vergessenheit gerieten, was den Menschen letztendlich zum Verhängnis wurde.

Albert Schweitzer möchte den Begriff der Humanität - "das heißt, die Rücksicht auf die Existenz und das Glück des einzelnen Menschenwesens"24- wieder in den Mittelpunkt des menschlichen Denkens rücken. Dabei setzt er einen eindeutigen Maßstab, wofür Wissenschaft und Technik weiterentwickelt werden sollen: nämlich für das Wohl der Menschen und nicht deren Vernichtung.

Aus heutiger Sicht scheint mir das ethische Denken der Menschen in Bezug auf die Problematik des Friedens in eine untergeordnete Rolle gedrängt. In den öffentlichen Diskussionen kommt diese Sichtweise deshalb nur selten zum Tragen. Oftmals fehlt uns das Bewusstsein für die Notwendigkeit einer ethischen Betrachtung. Schließlich, so ist es tief in unserem heutigen Denkmuster eingeprägt, haben die Politiker die Entscheidungsgewalt über Krieg und Frieden - und nicht wir. Aber weshalb ist dies in einem demokratischen Staat wie unserem überhaupt möglich? Weshalb finden wir diese persönliche Verantwortung für die Verwirklichung des Friedens meistens nicht wichtig genug, um uns damit zu beschäftigen? Brauchen wir uns nicht mehr für den Frieden einzusetzen, weil momentan unser Land in keinen Krieg verwickelt ist? Haben wir uns aber nicht gestern noch - erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg - an einem Krieg beteiligt?

Schweitzer stellt fest, dass "das Kommen oder das Ausbleiben des Friedens von der Gesinnung der Einzelnen abhängt und damit in der der Völker zur Ausbildung gelangt."25Er meint, wir seien "dazu geneigt ihr kein Gehör zu geben, weil uns sein Gesinntsein und sein Verhalten in dieser Art als etwas so kleines vorkommt, dass wir ihm keine Bedeutung für das Kommen des Friedens in der Welt beilegen."26Weiter schreibt Schweitzer, dass wir Folgendes in Erwägung ziehen sollten: "Was Not tut ist, dass das Rechtbekommen des Friedens irgendwo seinen Anfang nehme, sei es auch noch so unscheinbar. Uns genüge, dass der Geist des Friedens von unseren Herzen Besitz nehmen will." Wir sollen also klein anfangen, bei uns selbst, und die Wichtigkeit des Friedens in der Welt dadurch in das Blickfeld der Öffentlichkeit rücken.

Doch wie soll eine solche Änderung in der Gesinnung der Menschen nun realisiert werden ? Oft stehen wir der Kraft des Geistes sehr skeptisch gegenüber: "Einen neuen Geist zu schaffen, will dem gewöhnlichen Verstand als ein wenig aussichtsreiches Unternehmen vorkommen. Er hält es nicht für möglich, dass die Menschen sich von der herrschenden, gewöhnlichen Denkweise zu einer höheren erheben können."27Schweitzer bestreitet diese Skepsis auf Grund seines Vertrauens in die in jedem vorhandene Kraft des Geistes: "Dieser Kleinglaube hat nicht die rechte Vorstellung vom Geiste. Diese ist ein Feuer, zu welchem der Brennstoff in den Herzen aller Menschen vorhanden ist. Auch wenn er nur ein kleines Flämmchen ist, kann er unversehens zur mächtigen Flamme werden. Die Sehnsucht nach Frieden ist groß in den Herzen der heutigen Menschen."28

Die Friedensüberlegungen Schweitzers sind auch sehr religiös geprägt und verdeutlichen uns, wie wichtig für ihn der Aspekt der Nächstenliebe war. Die Tatsache, dass das Streben nach Frieden für den Menschen eine Selbstverständlichkeit sein sollte, unterstreicht Schweitzer in seinen Schriften immer wieder.

Noch immer herrscht in weiten Teilen der Erde Krieg. Die Gründe der Auseinandersetzungen sind oft vielfältig. Doch sterben in jedem dieser Kriege Menschen. Diese Tatsache verdrängen wir konsequent aus unserem Denken. Wenn man die Argumentation Schweitzers berücksichtigt, ist es die Ignoranz der Weltöffentlichkeit, die durch die Duldung von Gewalt riskiert, dass unschuldige Menschen dem Krieg zum Opfer fallen. Wir sollten die Worte Schweitzers aus diesem Grund überdenken - auch (oder gerade weil) der Zustand des Friedens in unsrem Land zu einer Grundvoraussetzung des Lebens geworden ist, derer wir uns im normalen Alltag nicht bewusst sind. Letztendlich stellt sich uns dann die Frage: Wozu brauchen wir immer neuere, immer grausamere Waffen? Und: Was nützt uns Menschen der Einsatz von Atomwaffen?

1 Albert Schweitzer, Die Lehre von der Ehrfurcht vor dem Leben. Grundtexte aus fünf Jahrzehnten; München: C.H. Beck, 1966, S. 21.

2 A. Schweitzer: Die Entstehung der Lehre der Ehrfurcht vor dem Leben und ihre Bedeutung für unsere Kultur. In: Die Lehre von der Ehrfurcht vor dem Leben, S. 20f.

3 A. Schweitzer: Kultur und Ethik, S. 339.

4 Benedict Winnubst, Das Friedensdenken Albert Schweitzers. Seine Antwort auf die Bedrohung des Lebens, besonders des menschlichen Lebens, durch die Kernrüstung, Amsterdam 1974 (Diss. an der Universtät Groningen).

5 H. Reiner: Die Zukunft der Ethik Albert Schweitzers. In: The Journal of Value Inquiry. Vol.II., S.157.

6 H. Reiner: Die Zukunft der Ethik Albert Schweitzers. In: The Journal of Value Inquiry. Vol.II., S.159.

7 Vgl. A. Schweitzer: Aus meinem Leben und Denken, S.193.

8 Vgl.ebd., S.195.

9 Vgl. A. Schweitzer: Aus meinem Leben und Denken, Seite 195.

10 Dieses Zitat Schweitzer von der Bedeutung der Ethik taucht immer wieder in seinen Schriften auf. Die Abwandlungen im Wortlaut sind dabei minimal.

11 A. Schweitzer, Kultur und Ethik, S. 361.

12 Veröffentlicht in: "Die Lehre von der Ehrfurcht vor dem Leben":

13 A. Schweitzer, Verfall und Wiederaufbau der Kultur. S. 28 .

14 ebd., S.29.

15 A. Schweitzer : Das Problem des Friedens in der heutigen Welt, S. 9.

16 ebd., S. 9

17 ebd., S. 10

18 ebd., S. 11

19 A. Schweitzer: Zwischen Wasser und Urwald, In: Selbstzeugnisse, S. 206.

20 vgl. Rudolph Grabs, Albert Schweitzer - Ein Lebensbild, Halle 1965

21 Schweitzer in einem Brief an John F. Kennedy vom 23. 11.1962, so auch der Titel eines späteren Buches Schweitzers, welches seine Rede zum Empfang des Friedensnobelpreises beinhaltet und des weiteren seine Osloer Appelle

22 Unter diesem Titel wurden im April 1958 die drei Oslo-Appelle herausgegeben.

23 Schweitzer: Was der Menschheit am meisten Not tut, S. 1.

24 Albert Schweitzer; Die Lehre von der Ehrfurcht vor dem Leben. Grundtexte aus fünf Jahrzehnten; München: C.H. Beck, 1966

25 vgl. Schweitzer: Das Problem des Friedens in der heutigen Welt, Seite 16

26 Schweitzer: Was der Menschheit am meisten Not tut, S. 4

27 ebd., S.5

28 ebd.

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