Lohn- und Einkommenspolitik im Umbruch

Gliederung

1 Einleitung

2 Europaweite Tarifverträge / Rechtliche Rahmenbedingungen der EU

3 Situation in Deutschland vor Einführung des AEntG

4 Das AEntG

4.1 Regelungsbereich des Gesetzes

4.2 Entstehungs- und Durchsetzungsphase des AEntG

4.3 Regelungen des AEntG

4.4 Begründung des AEntG seitens des Gesetzgebers

4.5 Das AEntG in der Kritik

4.5.1 Pro

4.5.2 Contra

4.5.3 Alternative Lösungsansätze

5 Eigene Meinung / Fazit

zum Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Am 26. Februar 1996 wurde in der Bundesrepublik Deutschland das "Gesetz über zwingende Arbeitsbedingungen bei Grenzüberschreitenden Dienstleistungen" (Arbeitnehmer-Entsendegesetz - AEntG) verabschiedet. Es ist seit 1. März 1996 in Kraft. Dieses Gesetz findet vorwiegend im Bausektor Anwendung und regelt seitdem die Höhe der Mindestlöhne für Arbeiter aus anderen EU-Mitgliedstaaten auf deutschen Baustellen. Es führte zu heftigen Diskussionen, in denen sich ordnungs- und europapolitische sowie arbeitsmarkt- und sozialpolitische Gesichtspunkte nahezu unvereinbar gegenüberstanden. Die Vorliegende Arbeit gibt zunächst Auskunft über die vor der Verabschiedung vorhandenen gedanklichen Konzepte und rechtlichen Rahmenbedingungen bezüglich grenzüberschreitender Tarifregelungen in der EU. Danach wird die sich vor dem Entwurf des Entsendegesetzes verschärfende Arbeitsmarktsituation im deutschen Bausektor dargestellt, um zu verdeutlichen, warum das Gesetz in der heute vorliegenden Form entstanden ist. Nachfolgend werden die Regelungen des AEntG erläutert, das Gesetz in die Kritik gestellt und aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet.

2 Europaweite Tarifverträge / Rechtliche Rahmenbedingungen der EU

Schon seit vielen Jahren, spätestens aber seit Einführung des freien EU-Binnenmarktes besteht der Gedanke, die europaweite Integration der verschiedenen Wirtschaftszweige dadurch zu stützen, dass aufgrund der zunehmenden Mobilität des Faktors Arbeit Tarifverträge nicht mehr landesweit sondern auf EU-Ebene auszuhandeln sind, um einheitliche Arbeitsbedingungen in ganz Europa herzustellen. Leider fehlt es bis heute aber an der Möglichkeit, dies auch in einer für alle Länder zwingenden Form zu tun. Zwar existieren z.B. bereits ein Europäischer Gewerkschaftsbund (EGB) oder auch eine Union der Arbeitgeberverbände in Europa (UNICE), denen das 1991 beschlossene Abkommen zur Sozialpolitik eine rechtliche Grundlage für Beschlüsse auf europäischer Ebene gibt. Nach wie vor sind letztendlich zwingende Tarifabschlüsse aber auch momentan nur auf Landesebene möglich. Vor diesem Hintergrund entwickelte sich in der Bundesrepublik Deutschland in den neunziger Jahren die im folgenden dargestellte Entsendeproblematik.

3 Situation in Deutschland vor Einführung des AEntG

Das Baugewerbe, das mit einem Anteil von etwa einem Siebentel am Bruttoinlandsprodukt (BIP) einen wichtigen Wirtschaftszweig darstellt, steckte seit 1995 in einer deutlichen Krise. Im privaten Sektor fehlte bei wachsender Arbeitslosigkeit Geld für den Wohnungsbau und auch im öffentlichen Sektor, in dem in den letzen Jahren Einschränkungen und Kürzungen (nicht zuletzt auch im Hinblick auf die Erfüllung der Maastricht-Kritrien) schmerzlich wahrgenommen wurden, konnten Bauvorhaben teilweise nicht durchgeführt werden. Die folgende Tabelle zeigt zur Verdeutlichung die Entwicklung von BIP und Bauinvestitionen in Deutschland von 1991 bis 1996. (Zu den Bauinvestitionen siehe auch Schaubild 1 im Anhang.)

BIP

Bauinvestitionen

BIP ohne Bau

Wohnungsbau

In Mrd. DM

Wachstum (%)

In Mrd. DM

Wachstum (%)

In Mrd. DM

Wachstum (%)

Wachstum (%)

1991

2.853,6

349,2

2.504,4

1992

2.916,4

2,2%

383,1

9,7%

2.533,3

1,2%

1993

2.882,6

-1,2%

386,4

0,9%

2.496,2

-1,5%

3,8%

1994

2.965,1

2,9%

416,6

7,8%

2.548,5

2,1%

13,1%

1995

3.022,8

1,9%

421,8

1,2%

2.601,0

2,1%

3,8%

1996

1,5%

-1,8%

1,5%

-4,0%

Alle Angaben real; für 1996 Schätzung; für 1995 provisorisch

Tab. 1: Bruttoinlandsprodukt (BIP) und Bauinvestitionen 1991-1996

Den Rückgang der Bautätigkeit unterstreichen zudem deutlich folgende Werte: 5500 Konkurse und Vergleiche in der Baubranche im Jahr 1995, ca. 6000 in 1996, ca. 300.000 arbeitslose Bauarbeiter im ersten Quartal 1996. Weitere negative Faktoren kamen hinzu. So stiegen die Lohnstückkosten im Bausektor von 1991 bis 1994 um ca. 16% (in der gesamten Wirtschaft dagegen um nur 7,3%), während die Arbeitsproduktivität im Bausektor im gleichen Zeitraum nahezu konstant blieb:

Arbeitsproduktivität

Lohnstückkosten

(nur alte Bundesländer)

Gesamtwirtschaft

Bauwirtschaft

Insgesamt

Bau

Real DM*

Wachstum

Real DM*

Wachstum

1991 = 100

1991 = 100

1991

75.698

61.294

100,0

100,0

1992

78.780

4,1%

62.641

2,2%

105,0

105,4

1993

79.478

0,9%

59.390

-5,2%

108,2

113,1

1994

82.258

3,5%

60.916

2,6%

107,3

116,0

* Wertschöpfung pro Arbeitskraft pro Jahr

Tab. 2: Arbeitsproduktivität und Lohnstückkosten im Baugewerbe 1991-1994

Nicht zuletzt diese gesteigerten Lohnkosten führten zum vermehrten Einsatz "billigerer" Arbeitskräfte aus Ländern mit niedrigerem Lohnniveau. Hierbei sind aber weniger diejenigen Arbeiter von Bedeutung, die zwar aus dem Ausland stammten, jedoch bei deutschen Firmen angestellt waren, da diese ohnehin zu deutschen Konditionen in bezug auf Löhne, Urlaubs- und Krankenregelungen sowie den von den Arbeitgebern zu entrichtenden Sozialabgaben angestellt waren. Vielmehr ist das Augenmerk auf die zahlreichen von Firmen mit Sitz im Ausland (zu dortigen Arbeitsbedingungen) beschäftigten und nach Deutschland "entsandten" Arbeiter zu richten; und auch dabei ist wiederum nur eine Teilgruppe von Interesse, nämlich solche Arbeiter, die in anderen EU-Mitgliedstaaten angestellt waren. Sie bedurften keiner gesonderten Arbeits- oder Aufenthaltsgenehmigung wie sie für EU-Ausländer vorgeschrieben ist. Es waren dies vorwiegend Arbeiter aus den Ländern Griechenland, Irland, Großbritannien und Portugal. Deutsche Investoren bedienten sich in zunehmendem Maße dieser Arbeitskräfte, indem sie Aufträge an ausländische Firmen direkt oder als Subunternehmer vergaben. Ihre Zahl betrug laut Angaben der Bundesregierung im September 1995 rund 150.000. Viele der letztendlich erstellten Gebäude waren somit kein (rein) deutsches Produkt mehr.

In diesem Zusammenhang muss allerdings auf eine Besonderheit des Bausektors hingewiesen werden. Anders als in anderen Bereichen können Bauleistungen nur vor Ort erbracht werden und nicht als fertiges Produkt im Inland hergestellt und anschließend exportiert werden. Genau dies ist in anderen Sektoren der Wirtschaft der Fall. Dort werden Produktivitätsunterschiede der einzelnen Länder schon lange genutzt, um fertige Produkte EU-weit zu vertreiben. Um genau diese Effizienzvorteile auch in der Bauwirtschaft ausnutzen zu können, muss aufgrund der oben genannten Problematik der Faktor Arbeit in zunehmendem Maße mobilisiert werden, was durch die zunehmende Entsendung von Arbeitern geschah.

4 Das AEntG

Im folgenden werden zunächst kurz der Regelungsbereich des Gesetzes und seine Entstehungsgeschichte umrissen. Danach schließt sich die eigentliche Diskussion des Gesetzes an.

4.1 Regelungsbereich des Gesetzes

Das AEntG findet Anwendung im Bausektor sowie im Bereich der Seeschiffahrtsassistenz. Da letzterer Bereich für die Betrachtung nur von untergeordneter Bedeutung ist, beschränken sich die folgenden Ausführungen auf den Bausektor. Das AEntG Führt die bis dato fehlende Geltung deutscher Tarifverträge für die Entlohnung und den Jahresurlaub von entsandten Arbeitnehmern herbei. Nicht dagegen beschäftigt es sich mit Regelungen des Gewerberechtes, wie z.B. dem Arbeitsschutz - für die grundsätzlich das Produktionsortprinzip gilt - und Regelungen der Arbeitsvertragsrechts wie z.B. dem Kündigungsschutz - auf die grundsätzlich das Sitzlandprinzip anzuwenden ist.

4.2 Entstehungs- und Durchsetzungsphase des AEntG

Bereits Anfang der neunziger Jahre wurde in der EU über eine Entsenderichtlinie nachgedacht, die spätestens seit der Öffnung des EU-Binnenmarktes 1993 die Entsendung von Arbeitnehmern regeln sollte. Nachdem diese aber bis 1995 nicht verabschiedet wurde, wurden in der Bundesrepublik stimmen lauter, die ein nationales Entsendegesetz forderten. Konkreter Anlass waren Beschwerden der IG Bau, Steine, Erden und Teilen der deutschen Bauindustrie über einen "unfairen Wettbewerb" auf dem Markt für Bauleistungen. Dieses Entsendegesetz wurde dann im September 1995 in Angriff genommen und im Februar 1996 im Vermittlungsverfahren verabschiedet. Damit die deutschen Tariflöhne auch auf entsandte Arbeiter au dem Ausland angewendet werden konnten, musste außerdem der Tarifausschuß aus Arbeitgebern und Gewerkschaften die deutschen Tariflöhne für allgemeinverbindlich erklären, was im April 1996 geschah. Die Entsenderichtlinie auf EU-Ebene schließlich wurde am 24.9.96, also rund ein halbes Jahr nach der Verabschiedung des AEntG ebenfalls beschlossen. Sie gilt jedoch nicht nur für das Baugewerbe, sondern für den kompletten Dienstleistungsbereich.

4.3 Regelungen des AEntG

Folgende wesentliche Regelungen sind im AEntG enthalten:

Sofern im Inland ein für die Branche allgemeinverbindlicher Tarifvertrag existiert, der für Arbeitnehmer von Betrieben mit Sitz im Inland einheitliche Mindestlöhne vorschreibt, so sind diese zwingend auch auf von Firmen mit Sitz im Ausland entsandte Arbeiter auf inländischen Baustellen anzuwenden.

Sofern in den geltenden deutschen Tarifverträgen Bestimmungen über die Dauer eines Erholungsurlaubs, dem Urlaubsentgelt oder einem zusätzlichen Urlaubsgeld enthalten sind, so finden diese Vorschriften ebenfalls auf entsandte Arbeitnehmer Anwendung, wenn sichergestellt ist, dass der ausländische Arbeitgeber nicht bereits im Heimatland zu Leistungen in ähnlicher Höhe verpflichtet ist.

Die vom ausländischen Arbeitgeber entsandten Arbeitnehmer sind beim zuständigen Landesarbeitsamt vor Beginn ihrer Tätigkeit anzumelden.

Bundesanstalt für Arbeit und Hauptzollämter sind für die Überprüfung der Arbeitsbedingungen zuständig.

Bei Mißachtungen der oben genannten Regelungen können Bußgelder in einer Höhe von bis zu 100.000 DM verhängt sowie ein zeitweiliger Ausschluß vom Wettbewerb bis zur Wiederherstellung der Zuverlässigkeit gegen den Arbeitgeber erwirkt werden.

Der Anwendungszeitraum des Gesetzes ist auf genau dreieinhalb Jahre beschränkt (1. März 1996 bis 31. August 1999).

4.4 Begründung des AEntG seitens des Gesetzgebers

Die Begründung des Gesetzentwurfs stellt in ihrer Sichtweise auf vorwiegend arbeitsmarkt- und sozialpolitische Gesichtspunkte ab. Im Gesetzentwurf der Bundesregierung ist als Zielsetzung des AEntG die Vermeidung von gespaltenen Arbeitsmärkten und den aus ihnen resultierenden sozialen Spannungen angegeben. Die Bundesregierung sah sich dringendem Handlungsbedarf in der Bauwirtschaft gegenüber. Nachdem in den Jahren 1991-1994 eine EU-weite Entsenderichtlinie nicht verabschiedet werden konnte und Nachbarstaaten (z.B. Belgien, Österreich, Frankreich) sich der Entsendeproblematik ebenfalls bereits auf nationaler Ebene angenommen hatten, wollte die Bundesregierung nun ebenfalls ein entsprechendes Gesetz, um "gespaltenen Arbeitsmärkten und den daraus resultierenden sozialen Spannungen" entgegenzuwirken und dem Baugewerbe Gelegenheit zu geben, "sich auf den steigenden Wettbewerbsdruck im Europäischen Binnenmarkt einzustellen". Hiermit wurde auch der befristete Anwendungszeitraum des Gesetzes begründet. Für den Fall einer doch noch zustandekommenden EU-Richtlinie sah man die Möglichkeit einer Anpassung des Gesetzes bereits im Gesetzentwurf vor. Man erwartete durch das Gesetz eine vermehrte Beschäftigung in Deutschland ansässiger Arbeitnehmer und nahm dafür einen moderaten Anstieg des Baupreisniveaus explizit in Kauf.

4.5 Das AEntG in der Kritik

Im folgenden Abschnitt wird das AEntG kritisch betrachtet. Dabei wird auf seine Konzeption, die Zielerreichung und eventuelle Nebeneffekte sowohl in nationaler als auch in europaweiter Hinsicht eingegangen. Es kann bereits an dieser Stelle vorweggenommen werden, dass die Zahl der Einwände gegen das Gesetz die Zahl der positiven Stimmen um ein vielfaches übersteigt.

4.5.1 Pro

Für einen Handlungsbedarf und das Hinwirken auf ein Entsendegesetz sprachen vor allem folgende arbeitsmarkt- und sozialpolitische Gründe:

Durch das AEntG sollte eine Pleitewelle bei mittelständischen Betrieben mit lokaler oder regionaler Bindung verhindert werden. Da diese im Wettbewerb besonders anfällig erschienen.

Spannungen auf einem vom Lohnniveau her gesehen geteilten Arbeitsmarkt zwischen Inländern und Ausländern sollten durch das Gesetz verhindert und somit ein Beitrag zum sozialen Frieden geleistet werden.

Zudem gab es in vielen mittelständischen Betrieben wohl offensichtlich die Befürchtung, aufgrund der fehlenden Konkurrenzfähigkeit auch ihre Ausbidungspotentiale einzubüßen.

Letztlich erwartete die Bundesregierung laut ihrem Gesetzentwurf sogar durch die erhoffte Belebung des Arbeitsmarktes Einsparungen im sozialen Bereich durch sinkende Arbeitslosenzahlen und deshalb geringeren zu zahlenden Sozialtransfers.

4.5.2 Contra

Wie bereits zuvor angedeutet, steht den relativ wenigen Argumenten für ein Entsendegesetz eine kaum zu erfassende Flut an Gegenargumenten in der wissenschaftlichen Literatur gegenüber. Es sind dies vorwiegend ordnungs- und europapolitische Argumente von teils juristischer und teils ökonomischer Natur:

Das AEntG verstößt gegen Art.48 und 59 des EG-Vertrages (EGV), sowie gegen Art.30 des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuche (EGBGB). Art.48 EGV garantiert EU-Bürgern das Recht auf Freizügigkeit, was die Freizügigkeit in bezug auf die Arbeitsplatzwahl innerhalb des Gebietes der EU einschließt. Durch die Abschottung des deutschen Arbeitsmarktes nach außen ist dieses Recht verletzt. Außerdem ist der freie Dienstleistungsverkehr nach Art.59 EGV verletzt, da eben genau dieser durch das AEntG behindert wird. Nach Art.30 EGBGB unterliegen internationale Arbeitsverträge dem Recht des Staates, "in dem der Arbeitnehmer in Erfüllung des Vertrages gewöhnlich seine Arbeit verrichtet, selbst wenn er vorübergehend in einen anderen Staat entsandt ist". Dieses Recht ist offensichtlich ebenfalls nicht beachtet.

Laut FUCHS widerspricht das AEntG dem Gedanken des freien Waren-, Personen- und Dienstleistungsverkehrs in der EU sowie dem von der Bundesregierung im Rahmen des GATT proklamierten freien Welthandels. NOLL sieht darin sogar eine Abkehr von bereits vollzogener Integration.

Einer der meist genannten Gründe gegen das Entsendegesetz ist der Vorwurf protektionistischen Verhaltens. Durch die Abschottung des Arbeitsmarktes im Bausektor werde Wettbewerb massiv be- und Strukturwandel in Deutschland und der EU dadurch verhindert. Bei eben solch einem Strukturwandel gäbe es natürlich immer auch Branchen, die zu den Verlierern des Wandels gehören, was in der Natur der Sache liegt. Die gesetzliche Zementierung eines in Europa nicht konkurrenzfähigen Lohnniveaus erleichtere zudem eine private Preiskartellbildung Die Bauindustrie wird darüber hinaus als nicht gesondert schutzbedürftig angesehen. Der oftmals laut gewordene Vorwurf des Lohn- oder Sozialdumpings kann nicht gelten, da unter einem Dumping stets zu verstehen ist, dass ein ausländischer Arbeitgeber Arbeiter in Deutschland zu weitaus geringeren Löhnen beschäftige als den im Heimatland geltenden Selbstkosten. Dies trifft aber generell nicht zu.

Einige Wissenschaftler vermuten Effizienzverluste, da der Faktor Arbeit im Baugewerbe durch das AEntG nicht mehr der vorteilhaftesten Verwendung zugeführt wird und durch hohe Verwaltungskosten bei der Kontrolle der Einhaltung des Gesetzes.

Auch in bezug auf negative Nebeneffekte des Gesetzes bestehen in der Literatur einige nicht von der Hand zu weisende Befürchtungen. EEKHOFF skizziert ausführlich einige zu erwartende Preiswirkungen sowohl in privatem, öffentlichem als auch Unternehmenssektor, die durch infolge hoher Lohnkosten steigende Baupreise ausgelöst werden. Im Privatsektor ist mit einer Steigerung der Wohnpreise zu rechnen, im öffentlichen Sektor führen höhere Baupreise zu höheren Steuern und Gebühren und im Unternehmenssektor werden Bauinvestitionen weniger lohnend. Eine Inflationswirkung führt STRAUBHAAR an, und GERKEN / LÖWISCH / RIEBLE bemängeln, dass das genaue Ausmaß der Geldentwertung in der Gesetzesbegründung der Bundesregierung nicht genauer untersucht worden ist, obwohl diese explizit in Kauf genommen wird. Auch werden die Beschäftigungswirkungen auf andere Branchen dort nicht betrachtet. Durch Effizienzverluste, Geldentwertung und eventuell ebenfalls zu erwartendes protektionistisches Verhalten unserer Nachbarlände als Folge des AEntG wird der Standort Deutschland noch mehr geschwächt als dies ohnehin schon der Fall ist.

Die Gefahr, dass der Anwendungszeitraum des AEntG von dreieinhalb Jahren verlängert werden könnte, wird allgemein gesehen, da der Zeitraum als viel zu kurz für eine Anpassung des Lohnniveaus und der Produktivitätsunterschiede zwischen der Bundesrepublik und den "Billiglohnländern" gilt. Man befürchtet zudem, dass die Abschottung des Arbeitsmarktes nach außen Anreize zur Strukturveränderung nimmt. Exemplarisch seien hier die Artikel von RUßIG / SPILLNER und MERZ sowie des SACHVERSTÄNDIGENRATS genannt, der außerdem die Gefahr von sich dauerhaft etablierenden Sozialtransfers statt eines funktionierenden Arbeitsmarktes betont, sowie eventuelle Bestrebungen, den Geltungsbereich des AEntG auf andere Wirtschaftsbereiche auszudehnen.

Letztendlich wird auch noch behauptet, die starke Reglementierung des Arbeitsmarktes schaffe natürlich immer mehr Anreize, diese Regelungen durch "Schlupflöcher" oder gänzlich illegales Verhalten zu Umgehen.

4.5.3 Alternative Lösungsansätze

Entgegen der Meinung der Bundesregierung, die in ihrem Gesetzentwurf als Alternativen zum Entsendegesetz "keine" aufführt, lassen sich in der einschlägigen Literatur durchaus vernünftige Anregungen finden, wie die deutsche Bauwirtschaft im europäischen Markt bestehen könnte.

So wird zum Beispiel gefordert, technische Innovation in den Unternehmen zu forcieren, qualifiziertes Fachpersonal auszubilden und Know-How-Vorsprünge zu nutzen, um so vergleichsweise höhere Löhne als in anderen EU-Mitgliedstaaten zu rechtfertigen. Zudem wird darauf plädiert, der Bauwirtschaft neue Impulse zu geben, indem man versucht Scheinselbständigkeit und illegale Beschäftigung weiter zurückzudrängen, ein Bereich selbstverständlich, der auch nach Einführung des AEntG nicht außer Acht gelassen werden darf. Vor allem aber muss die Bauwirtschaft sich zum europäischen Binnenmarkt bekennen und den Wettbewerb annehmen.

5 Eigene Meinung / Fazit

Die vorstehenden Kapitel zeigen recht eindrucksvoll den Verlauf der Diskussion um das Arbeitnehmer-Entsendegesetz. Sie war geprägt von der sich um akute Hilfe bemühenden Bauwirtschaft, die sich mit Öffnung des EU-Binnenmarktes erheblichen Strukturveränderungen gegenüber sah und einer um Unterstützung der Bauwirtschaft bemühten Bundesregierung einerseits sowie einer großen Zahl von Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlern andererseits, die dem Entsendegesetz äußerst kritisch gegenüberstehen. Seit der Einführung des AEntG sind nun ca. eineinhalb Jahre vergangen. Leider ist dieser Zeitraum noch zu kurz, um anhand von empirischem Material die doch zum größten Teil theoretisch bzw. politisch geführte Diskussion bezüglich ihrer Visionen und Befürchtungen überprüfen zu können. Bei Abschluß der Arbeit war noch kein Zahlenmaterial über die Auswirkungen des Entsendegesetzes erhältlich.

Literaturverzeichnis

Bobke, Manfred / Müller, Torsten: Chancen für eine Neugestaltung des Systems der Arbeitsbeziehungen auf der europäischen Ebene, in: WSI Mitteilungen, 10/1995, S.654-661

BT-Drs. 13/2414

Eekhoff, Johann: Entsendegesetz - eine Aushöhlung der Wirtschaftsordnung, in: Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, 45.Jg. (1996), Heft 1, S.17-29

EG-Vertrag, Art.48 und 59

Einführungsgesetz zum bürgerlichen Gesetzbuche (EGBGB), Art 30

Fuchs, Michael: Das Entsendegesetz: Die Bauwirtschaft verabschiedet sich vom freien Wettbewerb, in: Das Wirtschaftsstudium, Heft 3, 1996, S.181-182

Gerken, Lüder / Löwisch, Manfred / Rieble, Volker: Der Entwurf eines Arbeitnehmer-Entsendegesetzes in ökonomischer und rechtlicher Sicht, in: Betriebs-Berater, Heft 46, 1995, S.2370-2375

Gesetz über zwingende Arbeitsbedingungen bei grenzüberschreitenden Dienstleistungen (Arbeitnehmer-Entsendegesetz - AEntG), BGBl Teil I, 1996, S.227

Merz, Friedrich: Das "Entsendegesetz": Mehr Fragen als Antworten, in: Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, Heft 67, 1996, S.33-36

Noll, Bernd: Zwischenruf oder Nachlese zum Arbeitnehmer-Entsendegesetz?, in: Wirtschaftsdienst, 76.Jg. (1996), Heft 8, S.418-424

Rußig, Volker / Spillner, Andreas: Bauarbeitsmarkt: Ausgewählte Probleme und längerfristige Perspektiven, in: ifo-Schnelldienst, 48.Jg. (1995), Heft 30, S.3-14

Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR): Jahresgutachten 1995/96

Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR): Jahresgutachten 1996/97

Straubhaar, Thomas: Schutzzoll auf Arbeit - das neue Gesicht des Protektionismus, in: List Forum für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, 22.Jg. (1996), Heft 3, S.209-221

Webers, Gerhard: Das Arbeitnehmer-Entsendegesetz, in: Der Betrieb, 49.Jg. (1996), Heft 11, S.574-577

Anhang

Schaubild 1: Zur Entwicklung der Bauinvestitionen, Quelle: SVR Jahresgutachten 1996/97, Schaubild 16, S.88

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