Fahrend in einem bequemen Wagen

Beim Text "Fahrend ein einem bequemen Wagen" (1934) von Bertolt Brecht handelt es sich trotz einiger Irregularitäten um ein lyrisches Gedicht. Zwar scheint es sich bei dem Text wegen des fehlenden Reimes und der auf den ersten Blick nicht verschlüsselten Sprache um Prosa zu handeln, aber auf den zweiten Blick erkennt man viele versteckte aber extrem wichtige Informationen und somit sind die Bedingungen für ein Gedicht erfüllt.

Brecht beschreibt wie ein in einer Kutsche reisender Passagier einen bittenden Anhalter nicht mitnimmt obwohl genug Platz vorhanden ist. Erst später wird dem Passagier seine Fehlentscheidung bewußt.

In den ersten Zeilen fällt dem Leser sofort der hypotaxische, also sehr verschachtelte, Satzbau auf.

Der erste Satz lautet:

"Fahrend in einem bequemen Wagen

Auf einer regnerischen Landstraße

Sahen wir einen zerlumpten Menschen bei Nachtanbruch

Der uns winkte, ihn mitzunehmen, sich tief verbeugend"

Der Satz fängt ungewöhnlicherweise mit zwei Adverbialen Bestimmungen an. Erst dann folgt der eigentliche Kern des Satzes der am Ende durch einen Relativsatz abgerundet wird.

Übrigens sind die Partizipialausdrücke im Präsens geschrieben, was im Kontrast zu den im Imperfekt geschriebenen Satzkernen, die Partizipialausdrücke in ihrer andauernden Ausübung bestätigt. Das heißt die eigentliche Situation ist geschehen und unabänderbar, aber solche oder ähnliche Situation spielen sich heute auch noch ab.

Auf den ersten Blick fällt der hypotaxische Satzbau auf, der einen Eindruck von negativer Disharmonie erweckt. Dieser Eindruck wird durch die Ausdrücke wie "regnerische Landstraße", "zerlumpt" und "bei Nachtanbruch" ergänzt.

Eine regnerische Landstraße suggeriert Kälte, Matsch und allgemeines Unwohlsein. Die zerlumpte Kleidung, welche nur noch wenig Schutz gegenüber dem Wetter gibt, verstärkt diese Wirkung abermals. Das für alltägliche Sprache sehr ungewöhnliche Wort

"Nachtanbruch" zeigt ebenfalls eine stark negative Färbung. Die sich ankündigende Nacht ist ein deutliches Symbol für Kälte und eventuell sogar Tod.

Zu dieser hoffnungslosen Atmosphäre kontrastiert die bequeme Kutsche sehr deutlich.

Die Doppeldeutigkeit des Wortes "bequem" darf aber nicht übersehen werden.

Auf der einen Seite beschreibt "bequem" die gemütliche und angenehme Atmosphäre einer einladend warmen Kutsche auf der anderen Seite aber ist die Bequemlichkeit auch eine menschliche Schwäche im Sinne von:

"Du bist viel zu bequem um dies zu machen!".

Auf diese sehr warme aber in emotionaler Hinsicht sehr kühle Atmosphäre trifft nun der Anhalter, der gerade zu um eine Mitfahrgelegenheit bettelt. Mit einer tiefen Verbeugung unterstreicht er sogar seine unterwürfige Stellung noch.

Was in diesen ersten Zeilen auch auffällt ist die Perspektive. Zwar scheint man die Impressionen eines einzelnen zu erfahren aber im Gedicht wird immer von WIR gesprochen. Die Erzählperspektive hält fast bis zum Ende am "lyrischen WIR" fest.

Die Darstellung einer einzelnen Person als wir lässt sich meiner Meinung nach nur dadurch erklären, dass dadurch ein gewisser Gruppenzwang oder Mitläuferaspekt angedeutet wird.

Ich werde später noch darauf zurückkommen.

Der nächste Satz lautet:

"Wir hatten ein Dach und wir hatten Platz und wir fuhren

Vorüber

Und wir hörten mich sagen, mit einer grämlichen Stimme

Nein

Wir können niemand mitnehmen."

Vom inhaltlichen fällt der erste Teil auf. Hier werden mehrere Hauptsätze aneinandergereiht.

Es kommt mir vor als ob auf diese Weise eine nicht durchbrechbare Kette erstellt werden soll.

Das schnelle Tempo dieser aufeinanderfolgenden Sätze soll keine Zeit geben über die asozialen Entscheidungen nachzudenken. Die kollektiven Einflüsse vom Wir scheinen jeden individuellen Gedanken unterdrücken zu wollen. Deshalb wird auch keine richtige Begründung für die Entscheidung geliefert. Doch in diesem Satz deutet sich schon ein individueller Gedanke an.

Brecht schreibt nicht "Wir hörten uns sagen...", sondern er schreibt ganz bewußt "Wir hörten mich sagen...". Dieser bisher einzige individuelle Gedanke ist aber nichts weiter als eine Reflexion der Wir-Aussagen.

Aber ein anderes sehr deutliches Signal deutet auf einen wirklich persönlichen Gedanken hin.

Die Stimme mit welcher der einen nennen wir ihn den "Alleinsprechenden" redet wird als grämlich beschrieben. Nun ist grämlich auch ein sehr ungewöhnliches Wort und erregt allein damit schon Interesse. Doch selbst ein Duden vermag nicht eine eindeutige Bedeutung dieses Wortes zu liefern.

Nur vom Tonfall her lässt sich vermuten, dass es sich um eine sehr negative Empfindung handelt. Die Ähnlichkeit zu Scham lässt auch Spekulationen über die genaue Bedeutung zu. Ich glaube, dass "grämen" ein Zeichen für eine innere negative Stimmung oder einen Widerspruch ist.

Demnach muss wohl ein innerlicher evtl. unterbewußter Konflikt zwischen dem Gesagten und dem Gedachten geben. Dies würde heißen, dass der "Alleinsprechende" der Entscheidung des Kollektivs zumindest unterbewußt nicht voll zustimmt.

Somit gewinnt dieses kleine Wort "grämlich" eine Schlüsselbedeutung für das gesamte Gedicht. Hier schlägt das Gedicht auf eine bedeutsame Weise um und lässt dieses Wort wie ein Klimax oder ein Wendepunkt erscheinen.

Eine bisher nur unterbewußte und undeutliche Entwicklung hin zur "klaren Erkenntnis" bahnt sich an, auf die ich gleich näher eingehen werde.

Der sprachlich unsystematische Aufbau des ersten Satzes wird weitergeführt und scheint sich sogar noch zu verstärken, genau wie sich vielleicht die Zweifel des "Alleinsprechenden" auch verstärken.

Der dritte und letzte Satz lautet:

"Wir waren schon weit voraus, einen Tagesmarsch

vielleicht

Als ich plötzlich erschrak über diese meine Stimme

Dies mein Verhalten und diese

Ganze Welt"

Zwischen dem letzten Satz und diesem werden die Gedankengänge nicht beschrieben.

Doch die unterbewußten Zweifel scheinen sich verstärkt zu haben. Brecht benutzt nicht etwa das Wort Strecke oder Entfernung sondern er fügt hier das Wort "Tagesmarsch" ein.

Dass man in einer Kutsche nicht marschieren kann ist klar, aber vom symbolischen Gehalt trifft dieses Wort die Zeitspanne zwischen der Begegnung mit dem Anhalter und Jetzt sehr gut.

Der innere Konflikt und die Selbstzweifel scheinen den "Alleinsprechenden"

die gesamte Zeit schwer geplagt zu haben, denn ein Tagesmarsch ist nicht eine sehr gemütliche Wanderung sondern stellt eine schwere Belastung dar, welche in diesem Fall psychischer Natur ist. Dies erklärt auch das sehr isoliert geschriebene "vielleicht". Es scheint als ob der "Alleinsprechende" so zerstreut und abgelenkt wäre, dass er nicht mal mehr die Zeit genau bestimmen kann.

Nun folgt die lang ersehnte Offenbarung in dem sich die erst unterbewußten Zweifel oder Gewissensbisse schlußendlich bis in das Bewußtsein gekämpft haben.

Der erste wirklich eindeutige und bewußte individuelle Gedanke offenbart sich.

Dies geschieht in Form eines späten Erschrecken über die eigenen Äußerungen, sein Verhalten und sogar über die ganze Welt.

Er ist erschrocken weil es erst jetzt bemerkte, was es vorher alles geäußert hat. Wobei er ja eigentlich nur über seine Stimme erschrocken ist. Das heißt er war nicht nur über den Inhalt seiner Worte erschrocken sondern ihm wurde jetzt wohl auch klar, dass er schon lange Zeit (grämliche) Zweifel hatte diese aber wahrscheinlich unterdrückte.

Weiterhin ist er auch über sein Verhalten und die ganze Welt erschrocken.

Aber warum erschrocken über die ganze Welt? ,wäre hier eine berechtigte Frage, es geht doch nur um ihn! Aber tatsächlich ist er mit Sicherheit nicht der einzige der ein Mitläufer war und alles nachplapperte was man ihm zuflüsterte. Und in dem Moment wo er sich seiner eigenen Lage bewußt wird manifestiert sich in ihm auch die ähnliche bis gleiche Lage seiner ebenso verblendeten Mitmenschen.

Und so sind wir meiner Meinung nach auch schon bei der Kernaussage oder Intention Brechts angekommen.

Er wollte und will uns zeigen, dass wir die Augen öffnen für unsere Welt unsere Gesellschaft und auch den Rand dieser. Wobei dies schon eine moderne Übertragung ist.

Vom Datum des Gedichtes und Brechts politischen und literarischen Aktivitäten her drängt sich der antifaschistische Aspekt geradezu auf.

Mit Mitteln wie Propaganda und Desinformation wurden viele geblendet und sahen nicht was für einer Person sie nachplapperten und welchen grausamen Handlungen sie damit indirekt zustimmten. Genau das gleiche passierte auch dem "Alleinsprechenden", mit dem einzigen Unterschied, das er von selber seinen Fehler merkte und nicht erst viel später von anderen darüber aufgeklärt werden musste.

Nun könnte jemand sagen: Ach schon wieder so eine alte Belehrung über die Fehler unserer Vorfahren, wir haben es doch verstanden. Was soll uns das Gedicht heute noch sagen?

Aber Brecht hat es auf phantastische und mit Sicherheit beabsichtigte Weise geschafft, dieses

Gedicht von den politischen und sozialen Begebenheiten eines Landes unabhängig zu machen.

Damals mag das Hauptanliegen gewesen sein dem geblendeten deutschen Menschen die Augen zu öffnen. Heute liest sich das Gedicht als eine Gesellschaftskritik. Dieses Gedicht könnte man vor 2000 Jahren und in 2000 Jahren vielleicht auch vortragen und es würde seine Wirkung und Aussage nicht verfehlen.

Und genau diese erstaunliche Möglichkeit ist ein Grund dafür warum ich dieses Gedicht sehr gut finde. Beim ersten Lesen drängte sich mir der heutige Vergleich mit einem bettelnden Obdachlosen auf ohne dass ich überhaupt nur einen bewußten analytischen oder interpretierenden Vorgang machen musste. Einen Kurs vorab raten zu lassen wann dieses Gedicht von wem geschrieben wurde fände ich sehr interessant.

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