Ein Hungerkünstler

(Erzählung, erschienen 1922)

Der Hungerkünstler zieht mit seinem Impresario von Ort zu Ort, wo er in einem Käfig "auf hingestreutem Stroh" sitzend ausgestellt wird. Das macht er jedoch nicht, um sich so auf be- trügerische Weise zu bereichern, sondern er hungert ehrlich, "weil er die Speise nicht gefunden hat, die ihm schmeckt," also aus Ekel vor dem Essen.
Aus diesem Grund ist ihm das Hungern "die leichteste Sache von der Welt"; er glaubt sogar, unbegrenzt hungern zu können und ausgerechnet die Hungerpausen, die sein Impresario aufgrund der optimalen Ausnützung des Publikumsinteresses auf 40 Tage angesetzt hat, versetzen ihn in quälende Unruhe. Seine Gereiztheit, die das Publikum als Resultat seiner Erschöpfung mißdeutet, ergibt sich in Wirklichkeit aus der ständigen Unzufriedenheit darüber, dass man ihn nicht ohne Unterbrechung weiterhungern lässt: "Warum gerade jetzt aufhören, wenn er ... noch nicht einmal im besten Hungern, war?"
Auch alle Kontrollmaßnahmen, die der Impresario zur Überwachung der Ehrlichkeit des Unterfangens angesetzt hat, und besonders das theatralische Zeremoniell des Abschlusses der jeweiligen Hungerphase bereitet ihm schreckliche Qual. Die innere Verfassung des Hungerkünstlers ist unlogisch: Das Hungern, das ihm ja leichtfällt, also quasi in seiner Natur liegt, übt er als Kunst aus, die ihm Applaus bringen soll und verfälscht damit den wahren Sinn.
Erst als ein jäher Umschwung der Publikumsgunst die Besucherzahlen radikal zurückgehen lässt und der Hungerkünstler von einem großen Zirkus angestellt wird, wo ihm ein Platz zugewiesen wird, den die Zuschauer nur als Durchgangsstation passieren, nähert er sich der Verwirklichung seines eigentlichen Ziels: "sich selbst zu übertreffen bis ins Unbegreifliche, denn für seine Fähigkeit zu hungern fühlte er keine Grenzen." Von der sensationshungrigen Menge und sogar vom Aufsichtspersonal des Zirkus wird er bald vergessen, sogar das "Täfelchen mit der Ziffer der abgeleisteten Hungertage ... blieb schon längst immer das gleiche".
Als man sich endlich an ihn erinnert und ihn und ihn unter dem Stroh in seinem Käfig findet, vor Entkräftung schon beinahe erloschen, kommt es zu einem Dialog des Sterbenden mit dem Stallaufseher: der Hungerkünstler bittet den staunenden, aber verständnislosen Aufseher ("Du hungerst noch immer?") - gewissermaßen als Vertreter für das Publikum, das ihn immer nur mißverstanden hat - um Verzeihung dafür, dass er eine Bewunderung habe erzwingen wollen, die die Zuschauer ihm gar nicht entgegenbringen dürfen hätte, da er ja gar nicht anders konnte als hungern, "weil ich die Speise nicht gefunden habe, die mir schmeckt. Hütte ich sie gefunden ..., ich hätte kein Aufsehen gemacht und mich vollgegessen wie du und alle."
Nach diesen Worten stirbt der Hungerkünstler, seine Leiche wird mitsamt dem Stroh begraben und der Käfig geräumt.
Ein junger wilder Panther nimmt seinen Platz ein: "Ihm fehlte nichts. Die Nahrung, die ihm schmeckte, brachten ihm ... die Wärter ... und die Freude am Leben kam mit derart starker Glut aus seinem Rachen, dass es für die Zuschauer nicht leicht war, ihr standzuhalten."

Im Schluß der Erzählung setzt Kafka der vom Hungerkünstler personifizierten Tendenz zur Verweigerung des Lebens ein völlig antithetisches Bild entgegen: das der ungebeugten tierischen Lebenskraft, verkörpert von dem Panther, der nun seinen Käfig übernimmt.
Der krankhafte Drang des Hungerkünstlers zum reinen Hungern geht aus dem Ehrgeiz hervor, "nicht nur der größte Hungerkünstler aller Zeiten zu werden, der er ja wahrscheinlich schon war, sondern auch noch sich selbst zu übertreffen bis ins Unbegreifliche."
Doch dieser Trieb lässt sich nicht ausleben: er ist dem Leben entgegengesetzt; die "Kunst" des Hungerkünstlers ist tödlich. Das stellt die im Text gegebene Erklärung seines Hungerns (er habe nichts gefunden, das ihm schmeckt), in Frage. Erst der Tod bringt einen eigentümlichen Sieg, der sich (wie bei vielen anderen Helden Kafkas) auch im Gesichtsausdruck artikuliert. Die gebrochenen Augen des Hungerkünstlers verraten "die feste, wenn auch nicht mehr stolze Überzeugung, dass er weiterhungere."

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