Der arme Heinrich

Autor: Hartmann von Aue lebte um das Jahr 1200, zur gleichen Zeit wie Walther von der Vogelweide. Etwa zur gleichen Zeit entstand das Nibelungenlied. Hartmann wurde vermutlich zwischen 1160 und 1165 geboren. Hartmann war Ritter und Dienstmann, also Ministerale. Er konnte lesen, schreiben und verstand Latein. Seine Dichtungen bezeugen, dass er Vergil, Ovid und andere lateinische Autoren kannte. Hartmann war einer der vielseitigsten mittelhochdeutschen Dichter. Von ihm sind 20 Lieder überliefert: Minnelieder, Lieder der Welt- und Minneabsage und Kreuzlieder. Vor allem stammen zwei Artusromane sowie zwei Verserzählungen von ihm. Gestorben ist Hartmann von Aue zwischen 1210 und 1220.

Hauptpersonen: Heinrich von Aue ist ein junger, adeliger und reicher Ritter, dessen makellose Herkunft ihn fast den Fürsten gleichstellt. Er legt ein vorbildliches Verhalten zutage und genießt gesellschaftliches Ansehen. Heinrich verkörpert das damalige Ideal adliger Bildung.
Das Mädchen: Das achtjährige Mädchen ist gutherzig und klug und zeigt eine für ihr Alter ungewöhnliche Einsicht. Sie hat Willenskraft und Durchsetzungsvermögen und ist bereit ihr Leben für das Leben ihres Herrn zu opfern.

Inhalt: Heinrich von Aue ist ein junger Herr, bei dem sich fürstengleiche Geburt, Reichtum, ritterliche Vorbildlichkeit und Liebe zur Welt in idealer Weise verbinden. Bewunderung und Ruhm, die diese höfische Existenz begleiten, erlöschen jedoch, als Heinrich aussätzig wird; fortan begegnet man ihm mit Abscheu. Heinrich begehrt gegen sein Schicksal auf und sucht ärztlichen Rat, zunächst in Montpellier, dann in Salerno. Doch mit der Auskunft, dass nur das Herzblut einer sich freiwillig opfernden heiratsfähigen Jungfrau ihn retten könne, ist seine Hoffnung auf Genesung zerstört. Er schenkt seinen Besitz weg und wird auf einem Rodungshof von einem Bauern aufgenommen. Zu seiner großen Freude wendet sich ihm die schöne Tochter der Familie intensiv zu; die Achtjährige wird ihm schließlich so vertraut, dass er sie spielerisch als seine Braut bezeichnet. Als der Bauer drei Jahre später sein Unverständnis über das Versagen der ärztlichen Kunst äußert, gibt Heinrich zu erkennen, dass er seine unheilbare Krankheit als verdiente Strafe dafür versteht, dass er sein weltliches Glück nicht als Gottesgeschenk erkannte; erst danach spricht er die ihm von den Ärzten genannte Möglichkeit der Heilung an. Die Tochter des Bauern kommt nach diesem Gespräch zu dem Entschluss, ihr Leben hinzugeben. Indem der Text ihren Prozeß der Reflexion und der argumentativen Durchsetzung des Plans in weitausgreifenden Dialogen vergegenwärtigt, avanciert sie zur zweiten Hauptfigur der Erzählung. Es gelingt ihr, alle Widerstände zu überwinden, doch führt die Situation, in der sie nackt und gefesselt in Salerno auf dem Operationstisch liegt und der Arzt das Messer wetzt, zu einer inneren Umkehr bei Heinrich. Das vergleichende Betrachten ihrer Körper und die Erkenntnis der Schönheit des Mädchens bewirken, dass Heinrich sein vom Tod bedrohtes Dasein als gottgewollt annimmt und das Opfer verhindert zum Entsetzen der Bauerntochter, die sich um den Lohn der ewigen Seligkeit gebracht sieht und mit Tränen, Klagen, Schreien und Scheltreden auf seinen Entschluss reagiert. Heinrich indes lässt sich nicht beirren. Auf der Heimreise macht Gott ihn gesund. Bei Verwandten und Gefolgsleuten erwirkt er die Zustimmung, sich mit der Bauerntochter zu verbinden. Heinrich und das Mädchen werden vermählt und kommen nach einem langen und glücklichen Leben ins ewige Reich Gottes.

Thema: Das Thema des Armen Heinrich ist der Ausgleich von weltlicher und christlich-religiöser Orientierung. Seine besondere Qualität gründet in den Doppelwertigkeit des Erzählens. Schon Heinrichs Fall wird im Text unterschiedlich gedeutet: als Beispiel für die Vergänglichkeit der Welt, als schuldlose Prüfung wie bei Hiob oder als verdiente Strafe wie bei Absalon. Schwieriger noch ist die Wertung der weiblichen Hauptfigur, der Hartmann ein großes poetisches Eigengewicht gegeben hat und bei der sich Liebesfähigkeit und Opferbereitschaft in irritierender Weise mit extremer Weltverachtung und religiösen Werten verbinden. Hinzu kommt, dass bei ihr, anders als beim Titelhelden, keine persönlich verantwortete Entscheidung das neue Leben fundiert: Die einzige Brücke ist die Gnade Gottes, die Heinrich gesunden lässt und ihr Selbstopfer unnötig macht.

Nachwirkung: Einer der ersten Leser in der Neuzeit war Goethe. Er hat den Armen Heinrich sehr subjektiv aufgenommen und fand ihn widerlich. Goethes Abscheu lässt sich nicht aus dem Inhalt des Armen Heinrich erklären, auch wenn Goethe nur Büschings schlechte Übertragung von 1810 las. Der Aussatz hat Goethe wohl an seine qualvollen Hauterkrankungen in seiner Kindheit erinnert. Goethes Urteil hat die große Nachwirkung des Armen Heinrich nicht beeinträchtigt, die bald darauf einsetzte. Es gibt vom Armen Heinrich außergewöhnlich viele Übertragungen und viele Künstler haben ihn bearbeitet.

Sprache des Originaltextes: Das Werk ist in mittelhochdeutsch verfasst. Der Arme Heinrich ist eine Verserzählung. Aber da das Werk mit Amen endet, erinnert die Erzählung am Schluss an ein Gebet.

Intention des Autors: Hartmann von Aue erzählt mit dem Armen Heinrich eine Geschichte, die er in einem Buch gelesen hat. Damit möchte er die Stunden der Schwermut erleichtern, der Ehre Gottes dienen und sich beim Publikum beliebt machen.

Primärwerk:
Von Aue, Hartmann: Der arme Heinrich. Frankfurt am Main 111998

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