Wiener Volkskomödie

1. Historischer Ãœberblick

1.1 Barockdrama und Hoftheater

Das Barockdrama entwickelte sich parallel zur Oper, die aus Italien gekommen war. Beide verfügten in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts über riesige, raffinierte Bühnenmaschinerie. Es ist uns heute kaum mehr vorstellbar, welche Effekte das barocke Ausstattungstheater zu erzielen vermochte. Der Jesuit Nikolaus Avancini aus Südtirol zeigte auf einer wahren "Schaubühne" den Sieg des Glaubens über den Unglauben. Der erste Akt endet mit Schlußchor und Tanz, während Pietas (Glaube) und Impietas (Unglaube) die flüchtige Victoria zu fassen versuchen. Pietas schwebt schließlich mit Victoria in die Wolken. Unter anderem brachte das Stück Feuerwerk, bei dem Jupiters Tempel in Flammen aufgeht, ein Geisterballett und den in den Lüften sich abspielenden Kampf eines Adlers, auf dem Pietas sitzt, gegen eine Drachen mit Impietas. Wenn Maxentius die Leichen haufenweise in den Tiber werfen lässt, steigen Rauch und Flammen auf, bis der Flußgott erscheint.

Das Stück wurde zum Teil gesprochen, zum Teil gesungen und getanzt. Die prunkvolle Aufmachung sollte eine universale Demonstration der Kunst sein.

In prunkvoll aufgebauten Riesenwagen fahren allegorische Figuren und mythologische Gestalten in Prachtgewändern und echtem Schmuck. Die Aufführungen, die meist im Freien stattfanden und sich mitunter zu Festzügen gestalteten, begannen schon zu Mittag und dauerten bis zu acht Stunden. Sie waren ein phantastisches Fest für die Augen und dienten der Verherrlichung des Glaubens oder des absoluten Fürsten.

Diese Art "cäsarischer Spiele" wurde für die wenigen hundert Menschen an den Höfen inszeniert; das Volk war davon ausgeschlossen. Seine Schaulust befriedigten Wanderbühnen und herumziehende Artisten, Seiltänzer, Schwertschlucker und Zauberer.

1.2 Volkstheater

Neben der Hofbühne entwickelte sich das Volkstheater. Die ersten Berufsschauspieler waren englische Komödianten, die gegen Ende des 16. Jahrhunderts auf dem europäischen Festland auftauchten. Manche Truppen blieben in Deutschland und nahmen für abgehende Schauspieler deutsche Studenten und Handwerker auf. Bald wurde nur noch deutsch gesprochen; die Bezeichnung "englische Komödianten" blieb jedoch auch dann, wenn kein Engländer mehr der Truppe angehörte. Die Komödianten spielten an Fürstenhöfen, aber auch in Städten, und blieben etwa 14 Tage an einem Ort. Gespielt wurde im Freien oder in großen Sälen auf einer Bretterbühne. Der Spielplan umfaßte biblische und historische Stoffe, tragische und komische Stücke; auch Shakespeare wurde aufgeführt, allerdings in sehr entstellter Form. Textbücher gab es meist keine; die Spieler kannten den Gang der Handlung und sprachen aus dem Stegreif. Frauenrollen wurden anfangs von Männern gespielt. Den größten Eindruck auf das Publikum machten derbe Späße und blutrünstige Szenen.

Die komische Figur vieler Stücke war der Pickelhering, der gewöhnlich vom Direktor, dem Leiter der Truppe, gespielt wurde. Pickelhering war als Narr und Spaßmacher, der in Mundart sprach, der Liebling des Volkes. Er legte zu Beginn den Gang der Handlung dar, erklärte zwischendurch und faßte das Geschehen zusammen. Durch allerlei Mißverständnisse, Vergessen, Erinnern an falscher Stelle und Wörtlichnehmen brachte er sein Publikum immer wieder zum Lachen. In die Handlung war er meist als Diener eingebaut, der gerufen und weggeschickt werden konnte, wie es die "Regie" erforderte.

Auch die italienische Commedia dell'arte hatte als stehende Figur den komischen Diener Arlecchino, den der Harlekin spiele; seine Partnerin war Colombine. Beide hatten ein in allen Stücken gleichbleibendes Kostüm und ein stark geschminktes Gesicht. Ihr Humor ging vor allem von einer grotesken Mimik und Gestik aus, weniger vom Wort. Die Figuren der italienischen Komödie waren Typen, wie sie zum Teil seit der Antike überliefert wurden: das jugendliche Liebespaar, der geschwätzige alte Dottore, der geizige Kaufmann, der aufschneiderische Offizier und der Intrigant. Textbücher gab es keine; so wurde die Improvisation zum Kennzeichen dieser Art von Typenkomödie, die von der Situationskomik lebte und sogar Akrobaten- und Zaubereinlagen nicht scheute.

Italienische Wanderbühnen eroberten zeitweise Wien und Paris. Die Franzosen übernahmen diese italienische Art des Theaterspiels, bauten jedoch Chansons in die Stücke ein, und so entstand eine Komödie mit Musik und Gesang, aus der sich die komische Oper entwickelte.

1.3 Barockes Theater in Wien

Die Wiener Bürger konnten erst 1692 zum ersten Mal eine Commedia dell'arte ansehen. Vorher war dies ein Privileg des Hofes gewesen, an dem man aus dynastischen Gründen auch italienisch sprach.

Edelknaben ahmten die italienische Commedia nach, der technische Apparat des höfischen Theaters stand ihnen zur Verfügung. Kostüme und Tänze entsprachen dem gewohnten Prunk. In das Spielgeschehen flossen Elemente der höfischen Oper, des hohen Dramas und der in Paris etablierten Sonderform der italienischen Komödie, dem Théâtre italien, ein. Die Gefühle mächtiger Herrscher werden dadurch in Versuchung geführt; die Figuren verstricken sich in selbstgesponnene Intrigen und bedienen sich des komischen Dieners Arlecchino, der nicht lächerlich macht, sonder es selber ist.

Große Affekte werden hervorgerufen und geläutert. Die Tugend besiegt das Laster. Der Schluß rehabilitiert die Moral und restauriert die angestammte Macht.

Nach diesem Schema war die große Oper aufgebaut, erweitert um die mythologische Perspektive. Die Helden sind göttergleich, indem sie sich selbst überwinden. Der Wiener Hof zog die besten Bühnenarchitekten, die besten Librettisten, die besten Komponisten und Musiker heran.

Die Spielweise der deutschen Komödianten, die zu Anfang des 18. Jahrhunderts in Wien ihre Buden aufschlugen, wurde von all diesen Anregungen bestimmt. Ihr wichtigstes Bestreben war es, die totale Künstlichkeit der Commedia dell'arte auf eine typische Konstellation einzuschränken, die überladene Instrumentation lateinischen Ordenstheaters auf ein handwerkliches Maß zu reduzieren, die bravouröse italienische Artifizienz der großen Oper zugänglich und verstehbar zu machen.

Die deutschen Komödianten übersetzen die Text in eine verständliche Sprache. Doch mit der Übersetzung allein war es nicht getan. Sie mussten sich auf das Publikum einstellen und stellten ihm die Lösung vor, eine Mischform aus Arlecchino, dem Listigen, und Pickelhering, dem Lästigen: den lustigen Hanswurst. Sie erniedrigten die Erhabenen zu Komödienfiguren. Sie erhöhten die Figur Hanswurst zum gleichberechtigten Widerpart der Haup- und Staatsakteure.

2. Die Wiener Volkskomödie

2.1 Allgemein

Die umherziehenden Komödianten bemühten sich stets um ein festes Haus für ihre Aufführungen. So wurde in Wien, in der Nähe des Kärntnertors, ein Komödienhaus für das Volk gebaut, das 1712 der aus Graz stammende Josef Anton Stranitzky (1676 - 1726) als Direktor übernahm. Er bearbeitete groß angelegte Barocktragödien, sogenannte Haupt- und Staatsaktionen, aber auch Operntext. Stranitzky wurde der Begründer einer eigenständigen Wiener Volkskomödie in der Figur des Hanswurst.

Als Stranitzky 1726 starb, übernahm Gottfried Prehauser sein Erbe und die Figur des Hanswurst, die immer mehr zum Träger der Handlung wurde. Neben dem Burgtheater und der Oper, die dem kaiserlichen Hof und dem Adel vorbehalten waren, blühte ein unverwüstliches Volkstheater, getragen vom theaterbegeistern Wiener Bürger- und Kleinbürgertum. 1781 wurde das Theater in der Leopoldstadt gegründet, 1788 das Theater in der Josefstadt und 1799 das prunkvolle Theater an der Wien.

In Deutschland hatte sich Johann Christoph Gottsched bemüht, das Theater nach französischem Vorbild zu reformieren. Er hatte gemeinsam mit Caroline Neuberin, einer Direktorin, den Hanswurst von der Bühne verbannt. Doch das Wiener Volkstheater konnte er nicht verändern. Dort trieb der Volksnarr bis ins 19. Jahrhundert seine Späße, um die Zuschauer zu unterhalten.

Ferdinand Raimund (1790 - 1836) und Johann Nestroy (1801 - 1862) waren die Vollender der Tradition des Wiener Volksstückes. Ihrer unterschiedlichen Mentalität und dem Zeitgeist entsprechend, kehrte aber jeder der beiden Dichter einen anderen Aspekt des Wiener Volksstückes hervor.

Nestroys Stoffe sind zumeist von französischen Vorbildern übernommen. Zukunftsweisend wurde er vor allem durch sein virtuoses Spiel mit der Sprache. Sein Witz wandte sich dabei an den Verstand, seine Wortspiele dienten oft der satirisch-kritischen Entlarvung der Sprecher und ihrer Lebenswelt. In seinen Possen kehren alle Figuren wieder, vom Gesellen, der Arbeit sucht, bis zum Partikulier, der keine braucht. Die komische Figur kommt aus dem Nichts und arbeitet sich zum Mittelpunkt der Gesellschaft empor.

Raimund versucht, in seinen Stücken eine harmonische Ordnung zu schaffen, die durch ihre unwahrscheinliche, märchenhafte Form kritisch wirkt. Er stellt ein Gegenbild auf. Er schreibt bemerkenswerte Märchen, die nach Harmonie streben.

2.2 Hanswurst

Von Anfang an ist der Wiener Hanswurst Stranitzkys eine äußerlich festgelegte Figur, an der sich nichts änderte. In jedem Stück bleiben Herkunft und Äußeres gleich: Hanswurst ist ein Sau- und Krautschneider aus dem Salzburgerischen, der seinen Beruf nicht mehr ausübt. Er trägt eine lange und weite, seitlich verschnürte gelbe Hose, eine offene ziegelrote Jacke, darunter einen blauen Brustlatz mit einem grünen Herzen, grüne Hosenträger und einen breiten Leibgurt. Um den Hals hatte er eine breite, gefältelte Narrenkrause und auf dem Kopf einen spitzen grünen Hut. Wenn er ihn abnahm, sah man die Haare zu einem Schopf nach oben gebunden. Das Gesicht war ungeschminkt, aber von einem kohlschwarzen Backenbart umgeben.

Stranitzkys Hanswurst in Dienerrolle war die Kontrastfigur zum Helden. So schob er das idealistische Theater und die Komödie ineinander. Die Spottlust der Leute konnte sich austoben, Hanswurst war ihr Mann. Texte gab es meist nicht mehr; man agierte nach einem rohen Entwurf. In dieser Stegreifdichtung spielte sich der Schauspieler vielfach selbst. Von seiner Persönlichkeit und Begabung hing der Erfolg des Stückes ab. Es war immer neu erfundene, neu gestaltete Schauspielkunst.

2.3 Kasperl

Nach 1776 wurde Wien mit Komödiantentruppen überschwemmt. Der Hanswurst war verpönt. Der neue Hanswurst tritt nun als Diener auf. Er kommentiert nicht mehr. Die neue Figur ist nur noch komisch. Er ist den anderen Figuren nicht mehr ebenbürtig. Der Hanswurst wird zum Kasperl.

Kasperl tritt unter anderem als Knappe neben dem ritterlichen Helden in romantisch-komischen Volksmärchen und dramatischen Ritterromanen auf. Er ist prahlerisch und keck oder trotzig und verraunzt. Manchmal benimmt er sich recht respektlos gegenüber seinem Herrn, gegenüber Zauberern und Feen, schnablet drein, und dann ist er wieder nichts als schlotternde Angst, wenn er mit de Helden in den Gespensterwald muss, mit Bären oder Ungeheuern zu kämpfen hat. Und alles lacht, wenn sich sein Degen in einen Fliegenwedel verwandelt. Er ist aber auch derjenige, dem immer Unheil widerfährt: Von Ungeheuern wird er durch die Luft entführt, von Zauberern versteinert oder verwandelt.

2.4 Staberl

Die letzte stehende Figur der Wiener Komödie ist der Staberl, ein verwachsener Parapluiemacher aus dem Wiener Kleinbürgertum des Vormärz (1815 bis 1848), der durch allerlei Winkelzüge einen kleinen Vorteil für sich herausschlagen möchte und wegen seiner Liederlichkeit der Vorachtung wohl angesehener Bürger anheimfällt. Er ist schon kein Volksnarr und Lustigmacher mehr, sonder bereits eine Charakterfigur.

Adolf Bäuerle hat ihn 1813 erfunden, erst als Randfigur einer patriotischen Gelegenheitsdichtung, dann - umgearbeitet - als Hauptrolle einer lokalen Verherrlichung Die Bürger in Wien.

Staberl ist kein Diener wie Kasperl. Er ist selbständig und gleichberechtigt und wird vom Publikum als Wiener akzeptiert. Staberl ist ein Schmarotzer. Seine schwachen Seiten werden erkannt und verlacht, nicht angeprangert. Er wird ausgelacht und verachtet, nicht bekämpft. Er übertreibt, schneidet auf, ist unverschämt. Staberl ist ein Spießer, aber harmlos. Ein komischer Charakter ohne satirische Bedeutung. Er ist überall dabei und kommentiert das Geschehen selbstgefällig und ahnungslos.

Mit Staberl hat Bäuerle den Wiener Bürger karikiert, aber nicht verunglimpft. Auch Staberl hat seine Ehre, einen Bürgersinn. Er ist zwar versoffen und feig und tratscht maßlos, legt sich mit jedem an, wenn er betrunken ist. Erst betrunken wird er aufsässig, vorher ist er nur lästig.

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