Nathan der Weise

Inhaltsangabe

Der Jude Nathan hat vor vielen Jahren ein christliches Waisenkind angenommen und hat es als seine Tochter Recha aufgezogen. Recha wird bei einem Brand des Hauses von einem Tempelherrn gerettet. Die Handlung enthüllt, dass der Tempelherr Rechas Bruder und dass beider Vater ein verschollener Bruder des Sultans Saladin ist. - Lessing demonstriert in der Handlung seine religösen und philosophischen Überzeugungen. Er verdeutlicht an Nathan den Sinn des tragischen Scheiterns. Nathan hat in einer Progromnacht sein Weib und seine sieben Söhne verloren. Dem Volke zugehörend, das glaubt, unter der persönlichen Leitung Gottes zu stehen, erfährt er dies als Führung Gottes. Gott hat ihn wie Hiob mit Unglück geschlagen, um ihn zu prüfen. Er ringt mit Gott um die Kraft, das Furchtbare auf sich zu nehmen; es ist ihm durch Gottes Gnade gelungen. Seitdem ist er der Weise, der Mensch, der seinen Willen mit dem Willen Gottes in Übereinstimmung gebracht hat. Er ist jetzt der überlegen Wissende und Handelnde. Er besiegt den Christenstolz des Tempelherrn. Er deckt das Verborgene auf, das Recha, die der Tempelherr liebt und zur Frau begehrt, des Tempelherrn Schwester ist. Ihn trifft der Anschlag des Patriarchen nicht, der den Juden auf den Scheiterhaufen bringen will, weil er ein Christenkind als Jüdin aufgezogen hat. Nathan belehrt Recha, die - durch den weißen Mantel des Tempelherrn getäuscht - glaubt, durch einen Engel gerettet worden zu sein. Gott, der Herr der Welt, kann auch durch die Fügung des natürlichen Geschehenszusammenhangs das Wunder vollbringen und darf nicht stest des übernatürlichen Wunders. Saladin hat bis jetzt noch keinen Tempelherrn begnadigt, und diesen nur, weil er an seinen verschollenen Bruder erinnerte. Durch dieses nie zu Erwartende konnte Recha gerettet werden. "Das wär' kein wunder, wundersücht'ges Volk?"

Ferner antwortet Nathan überlegen wissend dem Sultan Saladin, der ihn versucherisch fragt, welche von den drei theistischen Religionen - der jüdischen, der christlichen, der mohammedanischen Religion - er für die wahrste halte. Nathan antwortete durch die aus dem Dekameron entlehnte Fabel von den drei Ringen. In einer Familie ist seit Generationen jeweils einem (dem liebsten) Sohne ein Ring vererbt worden, der die Gabe hatte, vor Gott und den Menschen angenehm zu machen. Nun hatte der Vater der drei Söhne, die er gleich lieb hatte, und, bekümmert, dass nur ein Sohn den Ring erben sollte, ließ er noch zwei weitere Ringe anfertigen und hinterließ jedem Sohn eine Ring als den echten. Die Söhne gerieten in Streit, sie gehen vor den Richter. Dieser erklärte sich außerstande, den echten Ring herauszufinden; doch: der echte Ring habe eine wundertätige Kraft; an ihr sollten die Söhne den echten Ring erkennen. Der Vater ist Gott; die Ringe sind die drei Religionen. Für die durchschnittliche Aufklärung sind die geschichtlich überlieferten Religionen nur Hüllen für die wahre, reine Vernunft- und Naturreligionen. Für Lessing sind diese Religionen Gaben Gottes, mit echtem höheren Offenbarungsgehalt. Jeder dieser Ringe also, als Gabe des Vaters, ist echt. Der Streit um den echten Ring ist müßig und führt vom Sinn und Zweck der Religion ab. Die Gabe Gottes soll nicht theoritisch geklärt, sie soll praktisch zugeeignet werden. Der Besitzer des Rings soll vor Gott und den Menschen angenehm werden. Lessings Forderung der Tolzeranz ist dann nicht in dem Glauben der Aufklärung begründet, dass alle geschichtlichen Religionen nur Vorstufen sind für die reine Vernunft- und Naturreligion, sondern in dem Glauben, dass jede dieser Religionen im Besitz echter Offenbarung von Gott ist und dass theoretisch nicht zu unterscheiden ist, welche Religion die Offenbarung in der richtigsten Form besitzt.

Lessing hat sein ideelles Thema zum Inhalt einer konkreten dramatischen Handlung gemacht. Die Charaktere sind plastisch gezeichnet. Der ideelle Gehalt führt zu einer ideallsierten Gestaltung. Der Orient ist ein poetischer Raum. so bedient Lessing sich hier auch des Verses, und zwar des Blankverses, den er damit als den Vers der deutschen Klassik zur Geltung bringt. Er bildet ihn zu einem Vers der dramatische Energie aus.

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