Sozialkritische Erzählprosa

Sozialkritische Erzählprosa

Franz Innerhofer erzählt in seiner Trilogie den sozialen Aufstieg des Franz Holl, der weitgehend das Abbild des Autors ist, vom sprachlosen "Leibeigenen" auf dem Bauernhof seines Vaters zum Germanistik-Studenten in der Stadt Salzburg.

1. "Schöne Tage": Verarbeitung in der Er-Erzählform seiner schweren Kindheit als unehelicher Sohn und seines Lebens als billiger, rechtloser Knecht bei seinem Vater.

2. "Schattenseite": Änderung der Erzählperspektive-Holl entdeckt sich als Ich und erzählt von den Jahren seiner Lehrzeit: Er lernt einerseits das Schmiedehandwerk und die Unterdrückungsmechanismen der Arbeitswelt kennen. Andererseits lernt er, Bücher und Zeitschriften zu lesen, seine Meinung zu artikulieren und Fragen zu stellen. Sein innerer Weg führt von der Sprachlosigkeit zur Sprachfähigkeit.

3. "Die großen Wörter": Holl dringt in die Redewelt der Abendschüler und Studenten ein, fühlt sich hier als Arbeiter aber fremd und beschließt folgerichtig, aus dieser Welt der "großen Wörter", der Professoren und Studenten, auszusteigen und sich wieder der "archaischen Welt der Landarbeiter und Bauern" zuzuwenden.

Gernot Wolfgruber- auch seine Romane verarbeiten literarisch eigene Erfahrungen. Er verfolgt wie viele der Autoren der "Grazer Gruppe" das Ziel, Sprache als Erscheinungsform gesellschaftlicher Herrschaft sichtbar zu machen.

= Grazer Autorenversammlung (GAV) - 1973 gegründet - Verein zur Vertretung von Autoreninteressen; veranstaltet Lesungen, Diskussionen und Symposien

Präsidenten seit 1973: (rd. 450 Mitglieder)

H. C. Artmann H. Bäcker

G. Rühm R. Schwendter

E. Jandl M. Pataki

"Herrenjahre":Bruno Melzer durchläuft eine Lehre, heiratet, nimmt eine Arbeit als Fabrikarbeiter an, wird Vater von drei Kindern, baut ein Haus und verliert dann seine Frau. Am Schluß sucht der Witwer mit drei noch kleinen Kindern und einem halbfertigen Haus durch eine Zeitungsannonce eine Frau.

Erich Hackl

So beginnt die Erzählung Auroras Anlass von Erich Hackl, einem 1954 in Steyr geborenen Autor, der viele Jahre in Madrid als Lektor arbeitet, jetzt in Wien als freier Schriftsteller lebt. Hackl geht in dem Buch der Frage nach, warum die Spanierin Aurora Rodriguez ihre Tochter Hilde-gart, die sie von Anfang an zum Werkzeug ihrer Ideen erzieht, tötet.

Aurora Rodriguez wächst um die Jahrhundertwende in der galicischen Hafenstadt El Ferrol als Tochter einer aufgeklärten liberalen Rechtsanwalts auf und zeigt schon als junges Mädchen große Sensibilität für soziale und sexistische Ungerechtigkeiten. Da sie sich selber nicht für ausreichend begabt hält, ihre Visionen einer befreiten Frau in einer freien Gesellschaft zu verwirklichen, lässt sie am Tag ihrer Großjährigkeit, die Eltern sind schon gestorben, eine Annonce in die Zeitung setzten.

Sie findet einen ihr entsprechenden Mann und übersiedelt 1914 nach Madrid, wo sie im Dezember 1914 ein Kind zur Welt bringt. Die Tochter Hildegart wächst nun, durch ein besonderes Erziehungsprogramm der Mutter gefördert, zu einem Wunderkind heran, das mit vierzehn Jahren die Matura macht und mit siebzehn das Studium der Rechte abschließt. Auch mit ihrem Interesse an Politik und ihrem Engagement für die Gleichberechtigung der spanischen Frau erfüllt Hildegart die Wünsche ihrer Mutter.

1989 erscheint Hackls zweiter großer Publikumserfolg, Abschied von Sidonie. Hackl schreibt wiederum in seiner kühl protokollarischen Sprache, die nicht versucht, den Fall zu poetisieren, sondern nüchtern zu beschreiben.

Norbert Gstrein

Sein Erstlingswerk ist die Erzählung "Einer": Jakob, der Sohn einer Gastwirtsfamilie, ist verrückt geworden. Seine Familie lässt ihn abholen. Um den Augenblick der Trennung hinauszuzögern, erzählen die Angehörigen dem Inspektor n einer bruchstückhaften, rückwärts gewandten Chronologie das gescheitere Leben Jakobs.

Das Jakobs Geschichte von anderen erzählt wird, entspricht dem Leben dieses verstörten Menschen, der nie eine Chance bekommt, ein "Ich" zu sein, ein Subjekt des eigenen Lebensentwurfes.

Christoph Ransmayr

In seinen bisher drei Werken variiert er das Thema "Weltende":

1. "Strahlender Untergang. Ein Entwässerungsprojekt oder Die Entdeckung des Wesentlichen"

2."Die Schrecken des Eises und der Finsternis" : Ransmayr rekonstruiert die österreichisch-ungarische Nordpolexpedition der Jahre 1872-1874. Durch Dokumente von Beteiligten, Zitate und Abbildungen bekommt der Roman Dokumentationscharakter. Parallel dazu verläuft die Geschichte von Mazzini, dem Nachkommen eines Matrosen, der die Expedition mitgemacht hat. Dieser fährt in die Arktis, "nur um sich vorzustellen, was war, was gewesen, was gewesen sein könnte". Auf seiner Reise, an deren Ende er verschwindet, begleitet ihn ein erzählen-des Ich, das Mazzini rat- und funktionslos zurücklässt.

3. "Die letzte Welt": arbeitet der Autor dreieinhalb Jahre. Aus der Sicht des Römers Cotta wird die Reise nach Tomi am Schwarzen Meer geschildert, wohin Kaiser Augustus den Dichter Ovid verbannt hat. Cotta will dort die "Metamorphosen",das Hauptwerk Ovids, auffinden, das als verschollen gilt, weil die Mächtigen es aus Angst vor staatsfeindlichen Äußerungen unterdrückt haben. Die Metamorphosen des Ovid reihen über 200 antike Mythen zu einem Epos. Ransmayr wählt aus ihnen Figuren aus, lässt sie in Tomi auftreten, lässt ihre Geschichten in Filmen oder Traumsequenzen ablaufen. Sie werden aus mythischer Vorgeschichte in die Gegenwart Cottas und Ovids verpflanzt, gleichzeitig werden die antiken Verhältnisse aber auch von Elementen aus der modernen Gegenwart durchsetzt. In einem Anhang werden in Paralleldruck die Ransmayrischen Figuren denen aus der Antike gegenübergestellt.

Ransmayr kontrastiert zwei Welten: Rom, das Macht, Unterdrückung, Vernunft, Phantasielosigkeit verkörpert, und Tomi, die eiserne Stadt, die trotz ihres tristen Umfelds die Welt der Poesie, des Gefühls, der Leidenschaft darstellt. Der Autor hält sich dabei nicht an die historischen Tatsachen: Augustus war ein Förderer und kein Feind der Literatur, Ovid ein Mensch, der die Stadt Rom und das luxuriöse Leben liebte, und keiner, der gegen Macht protestierte.

Sozialkritische Erzählprosa

Soziale Dichtung = unscharfe Sammelbezeichnung für jede Art von gesellschaftlich und humanitär engagierter Literatur, die soziale Mißstände kritisch aufgreift und sich dabei für die sogenannten unteren bzw. unterprivilegierten Schichten einsetzt. Dieses Engagement kann vom Appell zu Mitleid bis zur Sozialkritik und politischen Anklage reichen. Soziale Dichtung findet sich in allen literarischen Epochen.

Franz Innerhofer

LEBEN:

geboren am 02. Mai 1944 in Krimml bei Salzburg als unehelicher Sohn einer Landarbeiterin 1950 bis 1961 kommt er auf den Bauernhof des Vaters, lebt und arbeitet dort, anschließend Schmiedelehre, Militärdienst ab 1966 besucht er das Gymnasium für Berufstätige, danach Studium der Germanistik und Anglistik in Salzburg

lebt von 1973-1980 als freiberuflicher Schriftsteller, u.a. in Arni bei Zürich; danach diverse Tätigkeiten, u.a. auf einer Bauhütte und im Buchhandel

PREISE:

1973: Österreichisches Staatsstipendium für Literatur

1975: Literaturpreis des Freien Hansestadt Bremen

Rauriser Literaturpreis

1976/77: Förderaktion für zeitgenössische Autoren des Bertelsmann Verlags

WERKVERZEICHNIS:

Romane: "Schöne Tage"

"Schattenseite"

"Die großen Wörter"

"Um die Wette leben"

Erzählungen: "Innenansichten eines beginnenden Arbeitstages"

"W." In: Glückliches Österreich

"Der Emporkömmling"

BEDEUTUNG:

Seine Romane kann man als sozialkritische Autobiographien bezeichnen - gut zu erkennen in seiner Trilogie, die den sozialen Aufstieg des Franz Holl, der weitgehend das Abbild des Autors ist, vom sprachlosen "Leibeigenen" auf dem Bauernhof seines Vaters zum Germanistik-Studenten in der Stadt Salzburg erzählt.

Gernot Wolfgruber

LEBEN:

geboren am 20. Dezember 1944 in Gmünd/Niederösterreich; Vater im Krieg gefallen nach Abschluß der Hauptschule Lehrling, anschließend als Hilfsarbeiter in verschiedenen Berufen 1968: Programmierer, daneben Vorbereitung auf die Externistenmatura (Abitur)

von 1968 bis 1974 Studium der Publizistik und Politikwissenschaft in Wien

seit 1975 lebt er als freier Schriftsteller in Wien

PREISE:

(diverse Literaturpreise, über die er jedoch, wegen ihrer "Irrelevanz" keine Auskunft gibt; darunter:)

1975: Preis der Theodor Körner-Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kunst

WERKVERZEICHNIS:

Romane:

"Auf freien Fuß" "Herrenjahr" "Niemandsland" "Verlauf eines Sommers"

Erzählungen: "Die Mehrzahl" "Ankunftsversuch"

Hörspiele: "Mutter, Vater, Kind"

"Der Vertreter"

"High Noon"

Fernsehspiele: "Der Einstand" "Der Jagdgast" "Auf freien Fuß" "Das Vorbild"

BEDEUTUNG:

Auch er verarbeitet in seinen Romanen literarisch eigene Erfahrungen. Wolfgruber verfolgt das Ziel, Sprache als Erscheinungsform gesellschaftlicher Herrschaft sichtbar zu machen. Seine Romane handeln von der "Arbeitswelt", beschreiben präzise die Bedingungen der Produktion und Reproduktion - gleichwohl bleibt ihr zentrales Thema die Sprache. Der Erfahrungshorizont seiner Romane ist durch die Realitätserfahrung des Arbeiters geprägt.

Erich Hackl

Die politisch engagierten Werke Hackls sind Teil einer explizit linken Tradition in der österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Die Parteinahme für politisch Unterdrückte, wirtschaftlich und sozial Ausgebeutete und Entrechtete charakterisiert seine vielen literarischen und politischen Essays und Rezesionen. Immer geht es darum, denen, die nicht zu sprechen vermögen, eine Stimme zu verleihen, wobei der Erzähler den Bericht häufig anteilnehmend und wertend kommentiert.

Norbert Gstrein

LEBEN:

geboren am 03. Juni 1961 in Mils in Tirol

Mathematikstudium

ab 1989 "Stadtschreiber von Graz"

PREIS:

1989: Preis des Landes Kärnten beim I. Bachmann-Wettbewerb

WERKE:

Romane: "Einer" "Register"

THEMEN:

Heimat und Fremde

BEDEUTUNG: Er schreibt über Menschen die nie ein Chance bekom- men haben, ein "Ich" zu sein, ein Subjekt des eigenen Lebensentwurfes.

Christoph Ransmayr

LEBEN:

geboren am 10. März 1954 in Wels/Oberösterreich

aufgewachsen in Roitham bei Gmunden

1972 Matura im Stiftsgymnasium Lambach

1972 bis 1978 Studium der Philosophie und Ethnologie an der Universität Wien -Philosophiegeschichtliche Forschungen zum Verhältnis von gesellschaftlicher Utopie und Religiosität

1978 bis 1982 Kulturredakteur der Wiener Monatszeitschrift "Extrablatt" - freier Mitarbeiter an verschiedenen bundesdeutschen Zeitschriften (u.a. "Trans-Atlantik", "Merian")

seit 1982 freier Schriftsteller

nach dem großen Erfolg des Romans "Die letzte Welt" ausgedehnte Reisen: Indonesien, Indien, Thailand, Japan, Kanada, USA, Mexiko, Brasilien, Paraguay, Irland

lebt heute in Irland und Wien

PREISE:

1986: Literaturpreis des Bundesverbandes der deutschen Industrie

1986-88: Elias Canetti-Stipendium der Stadt Wien

1989: Anton-Wildgans-Preis der österreichischen Industrie

1992: Großer Literaturpreis der Bayrischen Akademie der Schönen Künste

1995: Franz-Kafka-Literaturpreis

WERKVERZEICHNIS:

Romane: "Die Schrecken des Eises und der Finsternis"

" Die letzte Welt"

"Morbus Kitahara"

"Strahlender Untergang"

"Im blinden Winkel. Nachrichten aus Mitteleuropa"

"Hiergeblieben!" (Rede zur Verleihung des Anton-Wildgans-Preises)

"Der Weg nach Surabaya" (Rede zur Verleihung des großen Literaturpreises der Bayrischen Akademie der Schönen Künste München)

THEMEN:

In seinen bisher drei Werken variiert er das Thema "Weltende".

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