Rotgardisten-Phase

Wie prägten die Rotgardisten das damalige Gesellschaftsbild Pekings (Chinas) ? Wie stehen die ehemaligen Rotgardisten heute zu ihren "revolutionären Taten". Und wohin wird der Weg Chinas führen?

Inhaltsverzeichnis

EINLEITUNG

Bevor ich mich näher mit der Frage beschäftige, inwieweit die Große Proletarische Kulturrevolution [GPKR] das chinesische Gesellschaftsbild beeinflußt hat, möchte ich versuchen, das Wesentliche der GPKR kurz darzustellen.

Die GPKR war eine politisch-ideologische Kampagne in China in den 60'er und 70'er Jahren des 20. Jahrhunderts, welche von Lenin entworfen und von Mao Tse-tung 1966 eingeleitet worden war.

Die Hauptursache war der innere Kampf in der Kommunistischen Partei Chinas [KPCh] zwischen dem Parteivorsitzenden Mao Tse-tung und dem Pragmatiker und Vorsitzenden der Volksrepublik China Liu Shaoqi, welcher entgegen dem Willen Maos den seit den 60'er Jahren aufwärtsgerichteten Trend in der Landwirtschaft mit (notfalls) kapitalistischen Mitteln fortgesetzt haben wollte, um die Macht, der Kampf für eine bestimmte Politik. So wollte Mao, der von seiner dritten Frau Jiang Qing sowie Verteidigungsminister Lin Biao unterstützt wurde, die Herrschaft der den "kapitalistischen Weg gehenden" Gruppe um den Staatspräsidenten Lin Shaoqi und Deng Xiao-ping beenden, und selbst wieder die Macht übernehmen.

Das Bewußtsein der Menschen müsse dabei, so Mao Tse-tung, wiederholt Korrekturen erfahren. So wandte sich die GPKR gegen die "Vier Alten": alte Bräuche, alte Gewohnheiten, alte Kultur und alte Denkmuster. Obwohl die Armee genügt hätte um den Parteiapparat zu zerschlagen und Lin Shaoqi abzusetzen, setzte sie Mao anfangs nicht ein. Er wollte nicht Instruktionen beherrschen, sondern Menschen verändern.

Die GPKR hatte ihren Ursprung in Schanghai, griff dann aber schnell auf Peking über. Im August 1966 fanden erste Massendemonstrationen der "Roten Garden" [RG] - einer Truppe unzufriedener Schüler und Studenten, die von Mao mobilisiert wurden "Revolution zu machen" - statt. Die Organisation der KPCh löste sich auf, "Revolutionskomitees" schossen aus dem Boden. Im Januar 1967 hatte sich die GPKR in weitere städtische Gebiete ausgebreitet, zudem gründeten Gegner Maos eigene RG, die GPKR geriet außer Kontrolle:

Mao setzte die Armee ein.

Im Frühling 1968 starben Tausende bei Auseinandersetzungen in Guangdong und Guangsei, Kulturschätze wurden zerstört, traditionelle Opernaufführungen verboten und durch die vier revolutionären Opern ersetzt.

1969 geriet die Situation dann im Norden durch Kämpfe an der sowjetischen Grenze sowie im Süden durch den Vietnamkrieg völlig außer Kontrolle, so dass die KPCh im April diesen Jahres ihren 9. Parteikongress abhielt und die GPKR als offiziell beendet erklärte, die GPKR fand jedoch erst 1976 mit dem Tod Maos und der Verhaftung der Viererbande (Jiang Qing, Zhang Chunqiao, Yao Wenyuan und Wang Hongwen) ihr wahres Ende.

Da eine Beschäftigung mit der gesamten KR den Rahmen dieses Referats sprengen würde, werde ich mich vor allem mit dem Beginn, der sogenannten RG-Phase (Mai 1966 - April 1969) beschäftigen, wobei ich den Schwerpunkt auf eben diese RG-Bewegung gelegt habe. Im folgenden werde ich nun versuchen anhand einiger "Situationen" (in Peking), das Alltagsbild Chinas dieser Zeit zu beschreiben, wobei ich die Beschreibung durch einige eingefügte ausgewählte Bilder und Originalquellen aufgelockert habe, welche meiner Meinung nach eine sinnvolle Ergänzung darstellen, da sie die Atmosphäre dieser Zeit noch bildhafter beschreiben.

Im zweiten Teil meines Referats werde ich mich dann auf die heutige Sicht der KR - mit unter aus den Augen der Chinesin Wei Shan Shan - eingehen, wobei es mir in diesem Teil mehr um die gesellschaftliche Entwicklung Chinas geht, welche für die Zukunft (nicht nur dieses Landes) noch bedeutsam sein wird.

Die Rotgardisten-Phase

Kulturrevolutionäre Aktionen

"Rote Garden streiften durch die Stadt, um die "Vier Alten" auszurotten. Junge Männer in Röhrenhosen, einer von chinesischen Studenten aus dem Ausland mitgebrachten Mode, wurden angehalten und mussten zusehen, wie ihre Anstoß erregenden Hosen in den Nähten aufgerissen wurden. Mädchen mit langen Zöpfen wurden aufgefordert, sie sich abzuschneiden und eine anständige Bubikopffrisur zu tragen ... Restaurants erhielten die Aufforderung, ihre Speisekarten zu vereinfachen. Unterdessen strömten Hunderttausende von Roten Garden nach Peking, um mit ihren dortigen Genossen revolutionäre Erfahrungen auszutauschen, und sie wollten Nudeln ... statt teurer Peking-Ente,. Geschäfte wurden besetzt und daran gehindert, frivole Artikel wie Kosmetika zu verkaufen.

Einige Stunden lang verkündete das Klirren von Glas die Zertrümmerung feudalistischer und kapitalistischer Lichtreklamen unter dem Beifall von Abteilungen der Roten Garden. Schließlich erregte sogar der Straßenname Anstoß ... Ganze Massen von Jugendlichen marschierten die Straße entlang, in der die sowjetische Botschaft steht, und änderten ihren Namen jubelnd in Anti-Revisionistenstraße um"

"Manchmal legten ganze Banden jugendlicher Ganoven rote Armbinden an und nahmen das Gesetz selbst in die Hände. Wie wir später erfuhren, kam in unserem Büro eines Abends ein aufgeregter junger Mann hereingestürzt und erklärte fünf Kumpanen: "Ich hab einen Kapitalisten gefunden!" Sie 'organisierten' sich ein Auto und stürmten das Haus des Pechvogels, der vor Angst nicht zu protestieren wagte. Was sie bei dieser Gelegenheit stahlen, wurde erst Monate später wieder beigebracht. Solche Vorfälle wurden den Roten Garden in ihrer Gesamtheit zugeschrieben, was nicht gerecht war. Wie es überall gute und schlechte Menschen gibt, gab es auch gute und schlechte Rote Garden."

(Jack Chen, der als Auslandschinese viele Jahre in der Volksrepublik lebte und arbeitete und aktiv an der Kulturrevolution teilgenommen hat: Chinas Rote Garden, Ernst Klett Verlag Stuttgart 1977, S.229 und 231)

Die Roten Garden (hongwei bing), welche ihren Ursprung in der Pekinger Ch'inghua-Universität gehabt haben sollen, waren eine unter mehreren Jugendorganisationen in der Volksrepublik China, jedoch gelangten nur sie durch ihre revolutionären Taten zu Weltruhm. Sicher ist, dass die jugendliche Teilnahme an der Kulturrevolution durch den am 18. Juni 1966 von der Pekinger Volkszeitung bekanntgegebenen Beschluß des Zentralkomitees [ZK] der Kommunistischen Partei Chinas [KPCh] und des Stadtrates wesentlich gefördert wurde, wonach alle Universtitätsaufnahmeprüfungen um ein halbes Jahr verschoben werden müssten, damit "der revolutionäre Elan der linken Studenten und Schüler nicht abkühlen werde" {1}. Es wurde außerdem festgestellt, dass bei dem alten Erziehungssystem die Zensuren den Vordergrund gehabt hätten: nunmehr würden die proletarische Politik und die Massenlinie im neuen Bildungssystem herrschen {2}.

Die Mitglieder der RG waren angeblich spontan entstandene Verbände, welche ausschließlich proletarische Elementen enthielten. Doch in Wirklichkeit eignete sich kaum jemand weniger für respektloses Verhalten als die im Geiste des Gehorsams und der Disziplin erzogenen chinesischen Schüler. So sind die RG nicht spontan entstanden, sondern rekrutierten sich aus den während der Sozialistischen Erziehungsbewegung entstandenen promaoistischen "Arbeitsgruppen", welche auf Befehl der ZK-Kulturrevolutionsgruppe handelten und u.a. von der Armee unterstützt wurden. Darüber hinaus waren deren Agitatoren oftmals Schüler mit Charisma, die gut im Umgang mit Worten sein mussten und daher auch entgegen den "Fünf Roten Arten" (Hong wu lei), welche die Herkunft aus den Reihen der Arbeiter, Armen Bauern, revolutionären Kader, Soldaten und revolutionären Märtyrern beinhaltet, aufgenommen wurden.

Bereits im Juni 1966 prägten die RG an der Ch'inghua-Unversität das Schlagwort: "Die Rebellion ist der Kern der Lehre Mao Tse-tungs!" {3}. Sie bekundeten ihren festen Willen, die "Rebellion der Rechten" gnadenlos zu unterdrücken {4}. Seitdem stiegen sowohl Ansehen als auch Aktivität der RG. Am 29. Juli soll Mao Tse-tung der Konferenz verschiedener Gruppen der RG seinen Segen gegeben haben. Den Höhepunkt erreichten die "heroischen RG" bei der Massenkundgebung am 18. August, bei der sie zum erstenmal zu Zehntausenden erschienen. Der bedeutungsvollste Akt dabei war, dass Mao Tse-tung eine Armbinde der RG akzeptierte und damit zu deren "Oberkommandierenden" wurde.

Die Hauptaufgabe der RG bestand nun darin die Vier Relikte (si lao): alte Kultur, alte Sitten, Gewohnheiten und Denkweisen durch die Vier Neuen (si xin) zu ersetzen. Meist begannen sie damit, dass sie Straßennamen änderten, Verkehrsampeln umschalteten ("rot" bedeutete von nun an "freie Fahrt", "grün" dagegen ("halt"), und dass sie sich über Blumen-, Antiquitäten und andere "Luxus"-Läden hermachten. Später beschlagnahmten die "Kleinen Generäle" Romane, Schalplatten und Spielkarten, warfen die "bürgerlichen Sofas" auf die Straße, verprügelten Frauen, die Dauerwelle trugen oder deren Hosenbeine länger als üblich geschnitten waren, veranstalteten Bücherverbrennungen oder entweihten Gräber. Am 23.8.1966 erließen die RG-Vereinigungen von Peking ein 23-Punkte-Programm mit ihren Zielen.

Programm der Pekinger Roten Garden vom 23. August 1966

Jeder Bürger soll manuelle Arbeit verrichten In allen Kinos, Theatern, Buchhandlungen, Omnibussen usw. müssen Bilder Mao Tse-tungs aufgehängt werden. Überall müssen Zitate Mao Tse-tungs an Stelle der bisherigen Neonreklamen angebracht werden. Die alten Gewohnheiten müssen verschwinden. Die Handelsunternehmungen müssen reorganisiert werden, um den Arbeitern, Bauern und Soldaten zu dienen. Eine eventuelle Opposition muss rücksichtslos beseitigt werden. Lusxusrestaurants und Taxis haben zu verschwinden. Die privaten finanziellen Gewinne sowie die Mieten müssen dem Staat abgegeben werden. Die Politik hat vor allem den Vorrang. Slogans müssen einen kommunistischen Charakter aufweisen. Die revisionistischen Titel haben zu verschwinden In allen Straßen sollen Lautsprecher aufgestellt werden, um der Bevölkerung Verhaltensmaßregeln zu vermitteln.

Die Lehre Mao Tse-tungs muss schon im Kindergarten verbreitet werden. Die Intellektuellen sollen in Dörfern arbeiten. Die Bankzinsen müssen abgeschafft werden. Die Mahlzeiten sollen gemeinsam eingenommen werden, und es soll zu den Sitten der ersten Volkskommunen im Jahr 1958 zurückgekehrt werden. Auf Parfüms, Schmuckstücke, Kosmetik und nichtproletarische Kleidungsstücke und Schuhe muss verzichtet werden. Die Erste Klasse bei den Eisenbahnen und luxuriöse Autos müssen verschwinden. Die Verbreitung von Photographien von sogenannten hübschen Mädchen soll eingestellt werden. Die Namen von Straßen und Monumenten müssen geändert werden. Die alte Malerei, die nicht politische Themen zum Gegenstand hat, muss verschwinden. Es kann nicht geduldet werden, dass Bilder verbreitet werden, die nicht dem Denken Mao Tse-tungs entsprechen. Bücher, die nicht das Denken Ma Tse-tungs wiedergeben, müssen verbrannt werden.

(Nachrichtenagentur Xinhua - vom 23. August 1966, nach: Machetzki, S.35

Die Rotgardisten sollten sich im Rahmen der "Vier Großen", sowie der "Sechs Kleinen Freiheiten" (Rede-, Veröffentlichungs-, Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit sowie Freiheit Flugschriften zu verbreiten und Karikaturen anzufertigen) bewegen. Sehr beliebt waren dabei vor allem die Wandzeitungen, die im Herbst 1966 das Alltagsbild von Peking entscheidend prägten. Schon bald war ein Wandzeitungs-Krieg im Gange: Plakate wurden bereits wenige Minuten nach ihrem Erscheinen durch einen "Gegenschriftsatz" überklebt: Die Städte verwandelten sich in riesige Papiermontagen. Die Plakate enthüllten Einzelheiten aus dem Leben von Parteifunktionären, die bis daher unter strengster Geheimhaltung standen, berichteten über innerparteiliche Auseinandersetzungen, waren aber auch ein Mittel um alte Rechnungen zu begleichen. Das Instrument der Wandzeitungen entsprach nach Meinung der Maoistischen Führung ganz der Massenlinie, insofern als hier die spontane Äußerung der Volksmeinung in aller Öffentlichkeit durchkam.

Da es die Aufgabe der RG war, Sündenregister gegen bestimmte Lehrer anzufertigen und an sogenannten Kampfversammlungen teilzunehmen, ergab sich für die beteiligten Schüler ein großes Dilemma: Einerseits wollten sie nicht gegen die Lehrer auftreten, andererseits entschied ihr revolutionäres Engagement über die Aufnahme in eine Universität. Zudem ließen die "Arbeitsgruppen" keine Ausflüchte durchgehen, so dass sich die Schüler an Teilnahme bei diesen "Angriffen", bei denen man dem betreffenden Lehrer oft eine Narrenkappe aus Papier aufsetzte und anklägerische Texte auf Brust und Rücken klebte, um sie durch die Straßen zu führen, gewöhnten musste.

Hauptziel einer jeden "Kampfversammlung" war es ein Geständnis zu bekommen, dabei spielte es jedoch keine Rolle, ob diese Geständnis echt waren, oder nicht. Um die Geständnisquoten zu erfüllen, halfen die "Untersuchungsrichter" mit Anschreien, Drohungen und Folterungen nach. Waren genügend Geständnisse vorhanden, so durfte das Opfer nicht erstaunt sein, wenn es sich nun plötzlich vor einem Erschießungskommando wiederfand.

Waren einmal kleinere Chargen niedergeschlagen so wuchs der Mut der RG und auch die Wohnungen von "revisionistischen" Kreis- und Provinzkadern wurden das Ziel von Überfällen und Requierierungsmaßnahmen.

Als besonders attraktiv erwies sich für die RG das Angebot, zu Zwecken des "revolutionären Erfahrungsaustausches" (geming zhuanlian) in andere Städte und Provinzen, ja sogar nach Beijing reisen zu dürfen - ein Zugeständnis der kulturrevolutionären Führung, das zu einer Völkerwanderung und am Ende zum Kollaps der chinesischen Verkehrsinfrastruktur führte. Zuerst schwärmten Schüler und Studenten in die Provinzen aus, es fanden Gründungsfeiern lokaler RG-Verbände statt, welche sodann formell ausgerufen wurden. Später strömten in umgekehrter Richtung, Millionen von RG in die Hauptstadt, wobei sie von der Volksbefreiungsarmee begleitet wurden.

Zum Standardprogramm gehörte ein Besuch der beiden berühmten Universitäten Beida und Qinghua, von denen die RG-Bewegung ausgegangen war. Dort spiegelte sich die Kulturrevolution wie in einem Brennglas: Professoren und Verwaltungsangestellte hatten Tag für Tag Kehrdienste zu verrichten und weil aus allen Landesteilen RG herbeiströmten, war der Campus immer mit Erdnuß- und Sonnenblumenkernen übersät, welche von den Professoren aufzusammeln waren. Zwischendurch hatten sich die "akademischen Kriegsherren" den "Massenkampfversammlungen" zu stellen um sich zu solchen Fragen wie "Welches Gift hast Du in Deinem Hörsaal den Studenten eingeträufelt?" zu äußern. Es ist nicht verwunderlich das zu dieser Zeit an den beiden Hochschulen die Selbstmordrate auf eine Rekordhöhe anstieg.

Im übrigen hatten Professoren und Assistenten der Beida täglich von 8.00-11.30 Uhr Mao-Zitate zu lesen und über deren Bedeutung zu diskutieren. Danach wurde ein Feind verhört, bis man ein "Schuldgeständnis hatte. Dieses Verfahren wurde dreimal täglich, oft mit demselben Feind, wiederholt und weil die Beschuldigten im allgemeinen wenig zu bekennen hatten, standen sie einfach stumm da, während die Studenten sie anbrüllten und bedrohten. Konnte man einem Feind keine Geständnisse mehr abbringen wurden wieder Mao-Zitate gelesen.

Bericht aus einer "Kaderschule vom 7. Mai"

Die während der Kulturrevolution geschaffenen "Schulen hatten die Aufgaben bei Funktionären, Beamten, Managern, usw. "erstens das revolutionäre Bewußtsein zu fördern, zweitens das Verständnis für die Arbeitenden zu entwickeln, drittens zu schwierigen Leistungen anzuspornen".

"Wir hatten her den Stellvertretenden Stadtdirektor von Peking-Ost. Ihn kannte dort natürlich jedes Kind. Daher war es für ihn besonders peinlich, in seinem alten Stadtbezirk, zu dessen Spitzenkadern er gehört hatte, nach einem Dreißig-Kilometer-Marsch, verstaubt und verschwitzt, die Latrinen auszuschöpfen. Er fürchtete, sein Gesicht ganz und gar zu verlieren. Aber er überwand sich und machte es wie all die anderen; er leerte Latrinen und schob die übelriechenden Kübel auf seinem Karren die dreißig Kilometer hierher zurück, auf die Felder der Schule. Denn er hatte erkannt, dass Latrinenleeren nicht eine schmutzige Sache ist, sondern eine glorreiche. Auf diese Weise trug er dazu bei, die finsteren Pläne des Schuftes Liu Schaotschi zunichte zu machen."

(Aus: Klaus Mehnert: China nach dem Sturm, Bericht und Kommentar, Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart 1971,

S.74 f.)

Die Folgen dieser Methoden waren der Zerfall des Unterrichts sowie das Aufkommen gegenseitigem Mißtrauens. Erst 1970/71 konnte der normale Betrieb an den Hochschulen wieder aufgenommen werden. 1973 wurden auch die Aufnahmeprüfungen wieder eingeführt.

Mao Tse-tung, (1893-1976), chinesischer Politiker, Vorsitzender der Kommunistischen Partei Chinas und Gründer der Volksrepublik China.

Soweit zur Situation damals ...Doch was ist von der KR geblieben? Was denken die ehemaligen Rotgardisten heute über ihre Vergangenheit? Wie bewerten sie die damalige Situation? Hat die chinesische Gesellschaft eine Entwicklung durchgemacht? Und wohin wird diese Entwicklung führen?

Zu diesem Thema bin ich auf die 21. Ausgabe des Sonntagsblattes (DS) aufmerksam geworden, deren Artikel sich auf Berichte mehrerer Zeitzeugen stützen, denn man kann - so der damals 13-jährige Ingenieur Wang Zhao Qi- das ganze Ausmaß von Hysterie und Idiotie der KR nur verstehen, wenn man sie erlebt habe. Er erzählt eine absurde Geschichte aus seinem Leben, über die man eigentlich lachen könnte, hätte sie nicht so traurige Konsequenzen gehabt. Sein Vater, erzählt er, sei vom Buchhalter zum Arbeiter degradiert worden, weil er eine Bemerkung über Mangos gemacht habe. Im August 1968 hatte Mao Tse-tung dem Arbeiter-Propagandatrupp der Qinghua-Universität in Peking Mango-Früchte geschickt, um ihnen seine Unterstützung zu demonstrieren. In Quonnqing kannte kaum jemand den Begriff Mango, doch sein Vater der aus dem Süden stammte wußte Bescheid und sagte: Mango, das ist nichts Besonderes, das ist nur eine Obstsorte. Ja, und das war's dann! Ein Geschenk von Mao derart abzuwerten, das musste bestraft werden. Von dem Moment an musste sein Vater schwere Lastkarren durch die hügeligen Straßen von Qogqing schleppen und ziehen.

Ebenfalls im "Sonntagsblatt" erschienen ist der Artikel von Frank Sieren, der sich insbesondere auf die Biographie einer chinesischen Zeitzeugin stützt. Es ist die Geschichte der gleichaltrigen Wei Shan Shan, die sich bei dem Gedanken an die KR als 13-jähriges Mädchen einsam und verängstigt auf der Pekinger Stadtmauer sitzen sieht. Ihr Vater wurde als "schlechtes Element" aufs Land geschickt, die Mutter auf dem Fabrikgelände, auf dem sie arbeitete, eingesperrt und die Geschwister waren unterwegs in China, um Revolution zu machen, kein Gleichaltriger war bereit mit dem Kind aus der "schwarzen" Familie zu spielen. Drei Jahre lang gab es keinen regulären Unterricht, statt dessen wurden die Schüler mit revolutionären Aufgaben betraut. "Wir mussten aufpassen, dass sich kein Klassenfeind in die Schule einschleicht." Um private Vermögen aufzustöbern hatten die Jungen und Mädchen sogar das Recht, die Wohnungen ihrer Opfer zu durchsuchen. Shan Shan erinnert sich: "Wir haben die Leute gnadenlos aufgescheucht, unter Betten geschaut und Schränke aufgerissen. Kinder hatten eine ungeheure Macht. Heute kann sie sich eingestehen, dass sie "Schlimmes angerichtet" hat. Aber sie glaubt auch zu wissen, dass die Aggression jener Zeit auch aus Ängsten gespeist waren, in einer Atmosphäre von Terror und Tod. "In unserem Wohnblock", erinnert sich Shan Shan, "hatte jedes Haus seinen Toten." Genau gegenüber habe ein Ehepaar Selbstmord begangen, der Rotgardistensohn einer Nachbarin sei von radikalen

Teenagern einer anderen Fraktion erschlagen worden. Und dann war da noch ein 15jähriger, der auf der Flucht vor Verfolgungen aus dem vierten Stock sprang und zum Krüppel wurde. Die Pekinger Stadtmauer, den Ort ihrer Geborgenheit, musste sie später eigenhändig abtragen helfen. Die jahrhundertealten Steine wurden 1969 zum Bau einer unterirdischen Festung für Mao Tse-tung gebraucht. Shan Shan: "Ich hatte ein Gefühl von Wehmut, als ich die schweren Steine wegschleppte. Mittlerweile sind 30 Jahre seit dem Beginn der KR vergangen und noch immer leidet das Land unter ihren Folgen: Millionen Menschen sind umgekommen, kulturelle Wurzeln und traditionelle Werte verlorengegangen. So beklagt Wei Shan Shan das "ideelle und moralische Vakuum" in ihrer Heimat.

Über eine Begegnung mit Mao Tse-tung berichtet die heute 49-jährige Geschäftsfrau Dai Jianyan (Name von der Redaktion geändert), sie habe ihn bei einer Kundgebung auf dem Tianananmen-Platz gesehen, aus einer so großen Entfernung, dass sie ihn eigentlich nur als kleinen grauen Punkt wahrnehmen konnte. Trotzdem fing sie an richtig hysterisch zu weinen. Als im August die Bewegung "alles alte zu zerstören" begann, kamen Rote Garden an ihre Universität. Was folgte beschreibt Dai Jianyan schlicht als "gespenstisch": Die Roten Garden haben alles (Revolutionäre der Professoren) verbrannt. Das Feuer loderte, in der Mitte ein konfiszierter Sarg, drumherum rutschten ihre Lehrer, es mögen um die hundert gewesen sein, auf Knien, während die roten Garden riefen: Nieder mit den Kapitalisten!

Helmut Martin, Professor für Literatur und Sprache an der Universität Bonn, sieht eine "Verrohung der Sitten" als Konsequenz der gewalttätigen Politphase. Denn: "Wenn du damals deinen Nachbarn nicht verrietest, wurdest du selber aus dem Fenster geworfen."

Laut Harvard-Professor Roderick MacFarquhar habe die KR die Autorität der Partei zerstört, weshalb die Partei die Auseinandersetzung mit dieser "Dekade des Chaos" noch immer scheut. So schlugen Versuche chinesischer Historiker der Politspitze Genehmigungen für Gedenkveranstaltungen abzutrotzen, fehl. Man will von Seiten der Partei die Bedeutung der KR herunterspielen und ihr Scheitern auf ideologische und menschliche Verfehlungen einiger weniger zurückführen.

1981 veröffentlichte die Partei über Mao jene Variante, die noch bis heute gilt: Seine Kulturrevolution sei zwar ein "grober Fehler" gewesen, Maos Leistungen würden seine Irrtümer jedoch mehr als ausgleichen. Zu "70 Prozent", so die Endabrechnung, sei der große Vorsitzende positiv zu bewerten.

Der Aufarbeitung der "zehn chaotischen Jahre" waren damit Grenzen gesteckt, obwohl eine Analyse des Geschehens nicht nur den Opfern, sondern auch den Tätern helfen könnte, wie z.B. jenem ehemaligen RG, der sich mit Schuldgefühlen plagt, seitdem er einem Mitglied einer anderen linken Gruppe

die Zunge abgeschnitten hatte. Der Mann hatte seine Geschichte dem Schriftsteller Feng Jicai gebeichtet, der 1991 hundert dieser Bekenntnisse in einem Buch veröffentlichte. So geht Feng Jicai davon aus, dass Aspekte der maoistischen Ära im Reich der Mitte allgegenwärtig seien.

Die Geschichte verstehen, um daraus zu lernen - das fordert auch der Filmemacher Wu Wenguang, der mit seiner Dokumentation "Mein 1966", für die er mit viel Mühe sogar ehemalige RG vor die Kamera bringen konnte, zur Vergangenheitsbewältigung beitragen wollte. Denn die Frage, ob sich so etwas wiederholen könnte, treibt momentan nicht nur Chinas Intellektuellen um.

Immerhin: Der letzte große Volksaufstand, die Demokratiebewegung des "Pekinger Frühlings" von 1989, war friedlich, auf geradezu anrührende Weise freundlich und obwohl deren Slogans denen der KR stark ähnelten, blieb die Bewegung gewaltlos. Doch die brutale Niederschlagung dieser sanften Demonstration hat auch die letzten Chinesen desillusioniert. Zudem lässt die Pekinger Führung anstatt der KR lieber ans Ende des legendären "langen Marschs" gedenken.

Die heutige junge Generation der Chinesen hat mit Politik nicht mehr viel am Hut. "Was ändert es oben, wenn ich unten meine Stimme abgebe?" so der Kantoner Musiker Mu Lei. Längst hat die Partei ihre ideologische Macht über große Teile der Bevölkerung verloren, der Westen trägt zu dieser gesellschaftlichen Öffnung bei. Selbst unter den Älteren, die ihre Jugend der KR opfern mussten, haben sich die Werte verschoben, sie haben ihre eigenen Vorbilder und Neidobjekte: Es sind Vorbilder, nach denen man den eigenen beruflichen Aufstieg plant, während man für die sozialistischen Helden aus der Propagandaabteilung nur Gelächter übrig hat.

China verändert sich und westlich gestylte Chinesen tragen in der Fernsehwerbung die Botschaft der neuen Welt bis in die hintersten Ecken Chinas. Doch handelt es sich bei diesen nur um eine Minderheit. In den Staatsunternehmen herrschen weiter die alten maoistischen Kader in den volkseigenen Betrieben.

Was man jetzt will ist eine starke, autoritäre, verläßliche Regierung, die das Land ehrlich regiert und die Bürger in Ruhe lässt, Was den Menschen Angst macht sind Willkür und Korruption. Dann ist selbst Hitler ein gefragter Mann: "Deutschland, gut, Hitler", entgegnet ein Shanghaier Taxifahrer, als er hört dass sein Gast aus Deutschland kommt. "Der ist aber schon lange tot, wissen Sie das?" - "Ja, aber er war ein großer, starker Mann. Er hat das Volk zusammengehalten." "Aber er hat doch viele Menschen ermordet." - "So ist Krieg", antwortet er, "manche sterben, manche überleben." Es wäre sinnlos, mit ihm über die Errungenschaften der parlamentarischen Demokratie zu

diskutieren. Er ist vor allem stolz auf sein privates Taxi. Doch schon seine Kinder werden sich ein Stück mehr des demokratischen Terrains erobern.

Die Zeit muss reif sein für eine neue Demokratie. Doch war es deshalb richtig, die Demokratiebewegung 1989 niederzuschlagen, um die Stabilität des ganzen Landes zu retten? Hatte Li Peng recht, als er am Abend des 19. Mai 1989 mit schriller Stimme rief: "Wenn wir diese Dinge einfach laufen lassen und diesen unhaltbaren Zustand nicht bald eine Ende bereiten, könnte eine Situation entstehen, die niemand gewollt hat!" Das klingt vernünftig, nicht aber die Konsequenzen die Deng und seine Getreuen daraus zogen, denn sie waren nicht gezwungen, in die Menge zu schießen und Menschen mit Panzern zu überrollen, denn der Protest wäre vermutlich mit kleinen Zugeständnissen friedlich zu Ende gegangen, ohne dass die Führung ihr Gesicht verloren hätte.

China steht vor einem Spagat, es muss sich öffnen, und es muss stabil bleiben. Dabei steht keine Zukunftsvision auf dem Spiel, keine neue Ideologie, sondern etwas, was bereits vorhanden ist. Etwas, das jedem täglich nützt: die kleinen Freiheiten in einer schwächer werdenden Diktatur!

Kommentar

Der Hauptgrund für die Wahl dieses Themas lag für mich darin, dass die chinesische Geschichte in unserem Geschichtsunterricht überhaupt keine Rolle spielt. Deshalb war es interessant auf diesem Gebiet einen kleinen Einblick zu bekommen, zumal es über die KR einige gute Bücher gibt, in welchen diese sehr übersichtlich und anschaulich dargestellt ist. Darüber hinaus vermittelt die KR auch einen Eindruck von der chinesischen Gesellschaft, deren Leben und Aufbau, sowie deren nähere Vergangenheit, über die viele von uns doch - obwohl China das bevölkerungsreichste Land der Erde ist - im allgemeinen ziemlich wenig wissen. So war die Beschäftigung mit diesem Thema sehr lehrreich für mich.

Was beim Verfassen des Referats natürlich sofort auffällig war, ist die verständlicherweise unterschiedliche Schreibweise der chinesischen Wörter, vor allem wenn es sich bei diesen Wörtern um Namen (berühmter) chinesischer Personen (Politiker) handelt. Um nun im Text zu einer einheitlichen Schreibweise zu kommen, habe ich mich jeweils an die am häufigsten benutze Schreibweise gehalten.

Dazu kommen noch "begriffliche Schwierigkeiten" bei der Übersetzung aus dem Chinesischen, aufgrund mangelnder Kenntnisse einiger Autoren, da laut Adrian Hsia bei der Flut von "Lektüre" zu diesem Thema kaum jemand noch weiß, was die KR ist oder sein soll. Um sachgerechte Studien über China verfassen zu können, müsse man drei Voraussetzungen erfüllen können:

Man muss der chinesischen Sprache mächtig sein Intensive Beschäftigung mit dem alten und neuen China Man muss mir dem Marxismus-Leninismus vertraut sein

Zur Flut der "Lektüre" und deren jeweiligen Umfang muss bemerkt werden, dass es wahrlich sehr schwierig ist sich auf einen Umfang von 3000 Wörtern zu beschränken, wobei ich hoffe mit diesen 3000 Wörtern das Interesse für dieses Thema geweckt zu haben und die im Anhang aufgeführten Bücher zur gründlicheren Beschäftigung mit diesem Thema nur empfehlen kann!

Dabei habe ich versucht, meine Hausarbeit nicht auf (trockene) Zahlen und Fakten zu beschränken, sondern mehr "Atmosphäre" hineinzubringen, in dem ich verschiedene "Alltagssituationen" beschrieben habe. Zusätzliche Primärquellen und Bilder geben hierbei noch einen tieferen Einblick in die Materie und lockern das Gesamtbild der Hausarbeit auf. Besonders die Augenzeugenberichte im 2. Teil des Referats geben ein lebendiges Bild Chinas in den 60'er Jahren ab.

Abkürzungen

GPKR

KPCh

RG

ZK

Große Proletarische Kulturrevolution

Kommunistische Partei Chinas

Rote Garden

Zentralkomitee (der Kommunistischen Partei Chinas)

Zitate

{1}

Siehe den Leitartikel der Renmin Ribao vom 18.6.1966

{2}

Ebenda.

{3}

Siehe Die Rote Garde an der Ch'inghua Unversität angeschlossene Mittelschule, Es lebe der revolutionäre Rebellengeist des Proletariats (I), in: Hongqi, Nr. 11 vom 21.8.1966, S.27

{4}

Es lebe der revolutionäre Rebellengeist des Proletariats (II), Ebenda, S.28

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