Techno als Jugendkultur

Gliederung:

I. Einleitung

1. Vorbemerkungen 3

II. Allgemeine Rahmenbedingungen für Jugendkultur

1. Wertewandel in der Wanderwelt 4

2. Die Clique, Szene, peer group 5

3. Die Jugend - ein Hehler im System 6

III. Techno - Erscheinungsform einer Jugendkultur

1. Einführung 8

2. Exkurs: Die Geschichte

der elektronischen Avantgarde- Musik 9

3. Techno - A Star is born 10

4. Die Detroit-Berlin-Connection 12

5. Techno in Berlin:

5a.Die besondere Situation der Mauerstadt 13

5b.Die Wende 15

5c.The Spirit of '91 17

6. Raus aus dem Untergrund:

Techno erblickt das Licht des Geldes 19 7. Die Massenveranstaltungen:

7a.Die Love Parade - Feste(r) feiern 20

7b.Mayday - Das Kind der Love Parade 23

8. Clubs, Raves, Body & Sex -

Einfach schön oder schön einfach ? 24

IV. Schlußbemerkungen

1. Die Erlebniswelt 'Rave' - Rave New World? 27

2. Kritische Auseinandersetzung

mit dem Techno-Vokabular 28

3. Schluß mit Lustig? Techno - Wohin? 30

V. Literaturangaben

I. Einleitung

1. Vorbemerkungen

"Techno ist wie eine Droge, eine Sucht. Techno ist ein magischer Zauber, wie Voodoo. Nichts als Musik in einem Raum. So minimal und einfach wie früher, als die Leute ekstatisch zu Trommelmusik tanzten."

Diese Schilderung des Phänomens Techno zeigt eine Problematik auf: An dieser Jugendkultur Techno muss etwas Besonderes dran sein, wieso sollten sich sonst ca. 6 Millionen bundesrepublikanische Jugendliche dafür interessieren. Grund genug, sich mit der Techno-Thematik ausführlicher zu beschäftigen. In unserer Hausarbeit wollen wir versuchen, die Erscheinungsform 'Techno' von verschiedenen Standpunkten aus zu beleuchten:

Was sind eigentlich Jugendliche? Wir beschreiben zuallererst allgemeine Rahmenbedingungen für Jugend, Kultur und Jugendkultur, unter Berücksichtigung aktueller gesellschaftlicher Tendenzen.

Dann kommen wir zu der Jugendkult-Ur-Suppe Techno. Wir erzählen deren detaillierte (deutsche) Geschichte und Entwicklung. Dabei darf eine Beschreibung der Erlebnisformen nicht fehlen. Wir gehen den Fragen nach:

-Leistet Techno als eine Jugendkultur der 90er Jahre eine besonders gute Bedürfnisbefriedigung der Kids?

-Warum hat Techno eine solch große Anziehungskraft bzw. Attraktivität?

Hierbei muss berücksichtigt werden, dass es aufgrund des relativ jungen Phänomens 'Techno' an Literatur zu diesem Thema etwas mangelt. Wir möchten darauf hinweisen, dass es zwar diverse Bücher in diesem Themenbereich gibt, jedoch zeichnen sich mehrere durch populärwissenschaftliche oder durch selbstbeweihräuchernde Schreibweise aus. Bereits hier zeichnet sich ein typisches Technophänomen ab: Meistens wollen diese Bücher zudem noch graphisch und optisch überrumpeln.

Was die Quantität der Qualität betrifft, wird sich dieses sicherlich in den nächsten Jahren nach oben verändern: "Techno beginnt zu reden - in Fragmenten der Sprache einer Modernisierung, die gerade erst begonnen hat." Denn am Ende der Exklusivität einer Entwicklung folgt meistens der Beginn einer großen Erzählung.

II. Allgemeine Rahmenbedingungen für Jugendkultur

"Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein,

ich möcht' mich auf euch verlassen können,

quer mit euch durch die Straßen rennen.

Jede unserer Handbewegungen

hat einen besonderen Sinn,

weil wir eine Bewegung sind."

("Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein", 'Tocotronic' auf 'Digital ist besser', Rough Trade 1995)

Diese Liedzeilen zeigen: Jugendkultur ist den Jugendlichen 'heilig'. Doch was genau ist Jugendkultur? Manche sagen, darunter fallen alle Facetten jugendlichen Lebens - von der Berufswelt bis zum Sexualverhalten. Andere ergötzen sich an exotischen Lebensformen schriller junger Leute mit spektakulären Haartrachten, was von wiederum anderen mit dem Untergang des Abendlandes gleichgesetzt wird.

Für uns ist Jugendkultur mehr als die Summe dessen, was Jugendliche fühlen, denken - was sie toll finden, was sie gerne machen und warum - denn erst dies alles zusammenbetrachtet ergibt ein ziemlich umfassendes Bild von Jugendkultur, das durch die Integration aller Teilaspekte schärfer wird.

1. Wertewandel in der Wanderwelt

Wer gehört zur Jugend? Es scheint, als ob es keine klaren Altersangaben gibt, die Klarheit darüber verschaffen, wer schon, und wer noch zur Jugend gehört. Fest steht auf jeden Fall: die Jugend dauert immer länger. Sie beginnt eher, was Soziologen unter den Begriff "Akzeleration" fassen:

Mit dieser Akzeleration ist die Beschleunigung der körperlichen und psychischen Reifung des Menschen gemeint. Die Menschen sind in den letzten 100 Jahren immer größer und auch schneller geschlechtsreif geworden. Die psychischen Auswirkungen sind nicht minder erstaunlich: Die stark medialisierte Welt sorgt dafür, dass Kinder immer früher immer mehr wissen. Sie sind mit neuer Technik schneller vertraut und haben ein hohes Markenbewußtsein.

Andererseits hört 'die Jugend' immer später auf: Studenten z.B. sind nicht selten bis zum 28. Lebensjahr an der Universität und haben oft auch nach dem Abschluß keine Ambitionen auf einen festen Job, Heirat und Kinder. Auch beim Übergang in die Welt der Erwachsenen lassen sich die Jugendlichen schwer fassen, die (Alters-) Grenzen verwischen, sie sind unscharf.

Die Ausweitung der Jugendzeit stärkt die Bedeutung der Jugendkultur, der sie sich jeweils zugehörig fühlen. Und: Es werden immer mehr, die sich in Sachen Jugendkultur engagieren (können). Etwa 17 Millionen Einwohner im Alter von 14 bis 29 Jahren hatte die Bundesrepublik 1992. Dazu kommt eine gestiegene Anzahl von Leuten, die durch Schule, Uni oder andere Arten von Ausbildung Zeit haben, weiterhin Jugendkultur zu produzieren und/oder zu konsumieren.

Eine große Rolle spielt hierbei, dass der Stellenwert der Familie, ihre Bedeutung, stark abgenommen hat: Jugendkulturen sind heutzutage zum Familienersatz geworden:

"Familie, Stamm und Nation sind Dinosaurier: unsympathisch und reaktionär, Jugendkulturen verhöhnen diese überkommenen Sozialisationsagenten und ersetzen sie durch gestylte Simulationen."

Unter dieser Entwicklung leiden auch Religion und Politik. Das entstandene "Bin-dungsvakuum" wird neu gefüllt: Für die Jugendlichen werden Cliquen, Szenen und peer groups (Gruppe der Gleichaltrigen) immer wichtiger, hier treffen sie Leute, die sie verstehen, und die gleiche Interessen haben wie sie.

2. Die Clique, Szene, peer group

Alle drei Begriffe haben annähernd die gleiche Bedeutung: Jugendliche gehen in Cliquen freiwillig gemeinsamen Interessen nach, sie haben ähnliche Wertvorstellungen, erleben die gleichen Freizeitaktivitäten oder kaufen die gleichen Artikel. Wer einer solchen Szene angehört, versucht damit auch, die immer unübersichtlicher werdende Welt in ein homogenes Sinnsystem zu ordnen.

Persönliche Orientierungen des einzelnen werden innerhalb von Szenen ausgebildet. Der ständige Austausch mit der Umwelt lässt Unterschiede und Gegensätze erkennen - und führt zur Wahrnehmung der eigenen individuellen und sozialen Existenz.

Erstaunlich ist, dass sich diese Szenen "durch Äußerlichkeiten konstituieren", gerade auch wenn man weiß, dass die soziale Bindung an die Familie stark an Einfluß verloren hat. Kleidung dient dazu, Befindlichkeit auszudrücken und sich damit auch abzugrenzen. Die Darstellung einer gewissen Geisteshaltung orientiert sich an einem persönlichen Wertekatalog. Und ob man sich z.B. für Konsum oder Nicht-Konsum entscheidet, ein bißchen Ideologie ist stets dabei.

Dass man seine sozialen Kontakte nicht mehr nur im engeren Umkreis (Straße, Schule, Sportverein, Arbeitsplatz) sucht, liegt z.T. daran, dass durch die technische Entwicklung in der Welt den Jugendlichen neue Möglichkeiten offenstehen: Durch gesteigerte Mobilität ist der Aktionsradius größer, Telekommunikation (plus Internet) lässt Jugendliche über größere Distanzen Neuigkeiten austauschen. Informationen über weiter entfernt liegende Veranstaltungen gelangen zu den erlebnishungrigen Jugendlichen. Entfernungen spielen keine große Rolle - eine Veranstaltung wird zudem dadurch aufgewertet, dass man sehr weit fahren muss.

3. Die Jugend - ein Hehler im System

Jugendkultur ist überhaupt möglich, weil Jugendliche in nennenswertem Umfang Geld zur freien Verfügung haben. Durch den Kauf von Schallplatten und Modeartikeln, durch Kinobesuche setzen sie Akzente in der Konsumgesellschaft.

Das gleiche Phänomen lässt sich auch beim Rock'n Roll in den USA der 50er Jahre nachzeichnen, bis zur heutigen Zeit hat sich diese Erscheinung in anderen Konsumgesellschaften der Industrienationen nicht verändert.

"Das Konsumpotential der 12- bis 21jährigen (in der Bundesrepublik) wird heute von Branchen-Insidern auf etwa 30 Milliarden Mark pro Jahr geschätzt."

Durch diese Kaufkraft werden die Wünsche und Sehnsüchte von Jugendlichen auch von der Industrie erhört:

"Jugendkultur ist nicht nur Äußerung der Wertvorstellungen Jugendlicher, Jugendkultur ist auch immer eine große Chance, neue, kurzlebige und überflüssige Produkte auf den Markt zu werfen."

Sobald eine künstlerisch aktive Avantgarde eine neue Erscheinungsform von Jugendkultur geschaffen hat, sind heutzutage die Trendscouts der Marketingfirmen nicht mehr fern, in der Hoffnung eine neue Marktlücke zu entdecken.

Einerseits ist das positiv, wenn durch die Gelder der Industrie kulturelle Veranstaltungen möglich werden. Jedoch setzt irgendwann der Kontrollmechanismus der Industrie ein: Ein regionaler Trend, der kommerziell ist, wird aufgegriffen, um ein neues Produkt zu schaffen. Dieses soll national abgesetzt werden, mit der Werbebotschaft, es sei jetzt "total angesagt". Wenn sich Jugendkultur nach diesem Mechanismus ausbreitet, kann man authentische und kommerziell produzierte Jugendkultur kaum noch klar voneinander trennen.

Dieses gilt insbesondere für die Jugendkultur Techno. Es ist somit interessant, sie zu untersuchen, weil sie die erste war, die ihrer kommerziellen Vermarktung nicht ablehnend gegenüber stand:

1989 steckte Techno noch in den Kinderschuhen, es gab noch keinen Markt für Technoartikel. 1996 sind die Produkte der Technoindustrie zu Markenartikeln gewachsen, die in diesem Sektor für Umsätze in Millionenhöhe sorgen.

Aufgrund dieser Entwicklung muss sich Techno mit Ausverkaufsanschuldigungen auseinandersetzen. Diesen Schuh will sich die schöpferische Kraft der Technobewegung, der avantgardistische Underground nicht anziehen - und er macht den Versuch durch ständige Innovation den Trendscouts zu entkommen:

"Das Unbehagen im Techno- ... Underground, als Mainstream adaptiert zu werden, zwingt zu Erneuerungen innerhalb der Kulturen in bisher nie gekannter Schnelligkeit. Das Jahr hat nur noch 14 Tage."

Die beiden gegensätzlichen Tendenzen Exklusivität und Ausverkauf zeigen deutlich, wieviel Reibungsfläche Techno besitzt: Eine Schwierigkeit bei der Analyse ist es, die Einflüsse von Subkultur- und Mainstreamelementen richtig einzuordnen.

III. Techno - Erscheinungsform einer Jugendkultur

1. Einführung

Techno als Musik ist nüchtern betrachtet ein weiteres kulturelles Informationssystem. Mit diesem Satz kann man die Jugendkultur Techno als facettenreiche Erscheinung nur andeuten. Techno ist weit mehr als die Summe seiner Einzelbestandteile und Erscheinungsformen, in die sich die Jugendkultur der 90er Jahre zerlegen lässt. Man kann sich dem Phänomen Techno zwar nähern, indem man jeden Teilaspekt einzeln untersucht, jedoch darf man bei dieser Analyse nicht den Blick auf die gesamte Erscheinung vergessen.

Techno hat in seiner Erscheinungsform als Jugendkultur ähnlich der Rock- oder aber auch der Punkbewegung eigene Erlebnisformen entwickelt. Verhaltensweisen, insbesondere auf den Tanzveranstaltungen, 'Raves' genannt, äußern sich in speziellen Tanzstilen.

Nach außen wirken die Teilhaber dieser Gemeinschaft wie eine 'eingeschworene Familie', was sich bei genauerem Hinsehen doch schwerer so eindeutig fassen lässt. Identifikationsstiftend sind Äußerlichkeiten, die optische Wirkung auf das Umfeld, z.B. durch die Klamotten, oder auch durch die Art und Weise, wie und wo Körperschmuck getragen wird. Ähnlich wie sich Pop-Fans als Popper oder Rock-Fans als Rocker bezeichneten und/oder bezeichnet worden sind, so bezeichnen sich die einzelnen Mitglieder der Rave-Gemeinde als 'Raver':

"Techno-Kleidung ist, wie schon zu Rock'n Roll- oder Punkzeiten, eine visuelle Abgrenzung zur gesellschaftlichen Kleidernorm der angepaßten Durchschnittslangeweile. Techno-Mode zitiert auch Modecodes aus allen bisherigen Jugendbewegungen."

Und wenn es gewisse Ähnlichkeiten mit früheren Jugendbewegungen gibt, so ist Techno deswegen schon wieder neu und anders, weil diese Bewegung die aus den anderen gesammelten Elemente anders zusammenstellt, um Neues zu schaffen und sich abzugrenzen. Es gibt natürlich auch zahlreiche Stimmen, die sich mit den Eigenschaften und Leistungen von Techno kritisch auseinandersetzen:

"Ist Techno ... oberflächlich? Hält er die Jugend vom Denken und vom Handeln ab? Korrumpiert er durch schrankenlosen Konsumismus, und führt er auf direktem Weg in den Abgrund? Techno ist so oberflächlich, handlungs- und denkhemmend wie Schwimmtraining. (...) Techno ist vor allem eine körperliche Betätigung: Tanzen.", stellt Thomas Haemmerli in seinem Artikel "Das Lebensgefühl - Nachrichten vom Rave" fest. Er bemerkt dort weiter:

"Als Extra kommt bei Techno eine Umgebung hinzu, die den heutigen Errungenschaften visuellen und akustischen Erlebens weit besser angepaßt ist als die Glotze in den eigenen vier Wänden oder der Sportclub."

Die Eigenheiten von Techno lassen diese Jugendkultur mit umfangreicher Erlebniswelt erscheinen. Es ist daher eine Herausforderung, diese genauer zu untersuchen.

Wir kommen jetzt zu einer Schilderung der Entstehungsgeschichte von Techno, an der sich die Komplexität der Entwicklung ablesen lässt. Techno ist auch deutsche Geschichte: Die Entwicklung der Technokultur ist eng verknüpft mit der Aufbruchstimmung Berlins nach der Wende, weshalb dies ein Schwerpunkt unserer Hausarbeit ist: Techno in Berlin. Von hier gingen Impulse aus, die die Technokultur weltweit beeinflußt hat. Wir beginnen jedoch erst einmal mit einem Exkurs in die Geschichte der elektronischen Avantgarde-Musik:

2. Exkurs: Die Geschichte der elektronischen Avantgarde-Musik

Im Prinzip findet man die Wurzeln der Technomusik am Anfang unseres Jahrhunderts: Europa war komplett industrialisiert, Eisenbahnen und erste Flugzeuge ließen die Welt zusammenrücken. Maschinen und Industriegeräusche gaben der Rhythmus der Zeit vor. Musik und Kunst waren nicht mehr darauf erpicht, den Schöngeist in ihren Werken sprechen zu lassen, sondern setzten sich u.a. vermehrt mit sozialen Themen auseinander.

"Wir finden viel mehr Befriedigung in der Geräuschkombination von Straßenbahnen, ,Auspufflärm und lauten Menschenmassen, als beispielsweise im Einüben der 'Eroica' oder 'Pastorale'", schrieb Luigi Russolo in seinem 1913 veröffentlichten Manifest "Die Kunst der Geräusche".

Moderne Komponisten begannen, sich der Welt der Industriegeräusche, deren Lärm und Gesetzen zuzuwenden. Einer der ganz frühen von ihnen ist Arnold Schönberg, Vertreter der atonalen Musik, der in seiner Wiener Schule einen musikalisch revolutionären Schritt vollzog. Mit Karlheinz Stockhausen begannen die ersten Versuche der elektronischen Musik. "Alle Klänge und Geräusche sind Musik", schrieb er.

Auch John Cage und Pierre Schaeffer gehören zu Vertretern der sogenannten 'Musique Concrète', in der sowohl Schreibmaschinengeklapper, als auch Sirenengeheule in die Musik eingebaut wurde. Das 'Sampling' - Prinzip, aus verschiedenen Bereichen Elemente herauszulösen und neu zusammenzustellen, machte hier seine ersten Gehversuche.

Die klanglichen Elemente der synthetisch hergestellten Musik sind zunächst der Sinuston - ein reiner, streng periodischer Schwingungsvorgang, der Knack und der Impuls. Durch Filtern, Überlagerung, Verdichtung und Verkürzung, Verzerrung und Rückkopplung dieser Elemente, werden Klänge hergestellt. Simple Akkordfolgen, die ausdauernd über pulsierende Rhythmen laufen, entfalten auf Dauer beim Hörer eine hypnotisierende Wirkung.

Die Aufbruchstimmung der späten sechziger Jahre, mit ihren vielfältigen kulturellen und politischen Bewegungen und der Verbreitung von psychedelischen Drogen, wie z.B. LSD, brachte der modernen Elektronik den eigentlichen Durchbruch. Der Synthesizer eroberte den Jazz und Pink Floyd machte sich neue Techniken im Studio auch auf der Bühne zu Nutze. 'Tangerine Dream' und 'Can', anfangs traditionelle Rockbands wollten "Musik schaffen, die sich von den Affekten des Hasses, der Aggression und der Verzweiflung löst und dem Zuhörer Freude und Hoffnung gibt; Musik, die den Menschen zurückholt in den Zustand der Unschuld und den Zusammenhang der kosmischen Energie."

Diese Musikeinflüsse, die damals zur Avantgarde zählten, nahm Techno in seiner Entstehungsgeschichte auf und nutzte diese Elemente - zusammen mit neuen Klängen - und machte sie letztlich zum hör- und erlebbaren Massenphänomen.

3. Techno - A Star is born

Die Legende von Techno beginnt Ende 1988 in Detroit. Dort ansässige Musiker veröffentlichten auf dem Plattenlabel '10 Records' eine härtere Variante von House-Musik, ohne Schnörkel, mit harten Rhythmen, einen rein elektronischen Funk: Die Detroiter hatten keine Ahnung, wie sie ihr Werk nennen sollten, bis Juan Atkins, einer der Altväter des Detroit-Techno, an einem Joint zog und meinte: "Call ... it ... Techno!" So hat es zumindest Derrick May dem deutschen DJ WestBam erzählt. Der Name wird geboren und die Platte wird in England veröffentlicht. Doch die erste Platte, die aus heutiger Sicht schon nach Techno klingt, hatte Juan Atkins bereits 1985 (unter Pseudonym) aufgenommen, ihr Titel: No UFO's.

Seine Einflüsse kamen zu jener Zeit aus der europäischen Musik, unter anderem 'Tangerine Dream' und 'Kraftwerk', die für ihr 1975er Album 'Autobahn' die Technik des Synthesizer nicht zur Imitation von Instrumenten nutzte, sondern um synthetische Klänge und Rhythmen zu erzeugen. Kraftwerks Album schaffte es in die amerikanischen Charts.

Zuvor hatte George Kinsley 1972 mit Popcorn den ersten völlig künstlichen Hit produziert, der ebenfalls als Techno-Vorläufer interpretiert wird. Mit ihrem 1977er Album 'Menschmaschine' verdeutlichten Kraftwerk ihre Forderung nach dem positiven Umgang des Menschen mit der Technologie. Sie verspürten den Einfluß der Maschinen auf ihre eigene Kreativität und ihre künstlerische Produktivität. Diese entfache sich zwischen digitalen Schaltkreisen des Rechners und elektromagnetischen Strömungen im Hirn. Nur der ganzheitliche Umgang mit moderner Technologie und der Natur garantiere ein Überleben und verhindere Zerstörung.

Diese Philosophie regierte auch viele Musiker, die sich in den 80er Jahren mit industrieller Musik beschäftigen, beispielsweise die Bands 'SPK' aus Australien, 'Coil' und 'Psychic TV' aus London oder eben die 'Einstürzenden Neubauten' aus Berlin, die mit apokalyptischen Harmonien gewohnte Rhythmen und Melodien zerstören. Sie knüpfen mit atonalen Klängen an frühere Versuche an, Musik den veränderten Außenwahrnehmungen und Hörgewohnheiten anzupassen.

In Detroit ist Industrial sehr erfolgreich. Hier und in Chicago macht die Plattenfirma 'Hard Wax Trax' den neuen Musikstil charttauglich. Die Philosophie von Industrial ist düster und von der Vision einer zugrundegehenden Zivilisation geprägt, in die eine computerisierte Welt münden wird. In Detroit erleben die Menschen den Niedergang der Wirtschaft, Menschen werden von Maschinen ersetzt, ein Grund für Kraftwerk, demonstrativ Puppen zu Pressekonferenzen zu schicken.

Diese (gesellschafts-)kritische Haltung verschwindet später, als Techno aus den USA nach Deutschland kommt. Kraftwerk hat Impulse über den Ozean ausgesandt, die Weiterentwicklung dieser Einflüsse kommen jedoch als reine Musik zurück: Techno, die reine Feier-Kultur (s.u.).

Unter dem Einfluß von Kraftwerk produzieren mittlerweile auch schwarze Detroiter technologische Musik mit zwischenzeitlich recht günstigen Second-Hand-Synthe-sizern. Ttypisch für Techno ist die - 'Bum Bum Bum Bum' im Viervierteltakt - 'Four to the Floor'-Baßlinie, der mit rhythmischen Klängen untermalt wird.

Dieser sehr frühe Techno steht in Abgrenzung zur immer kommerzieller werdenden House-Musik. Der Untergrund ist gleichzeitig die Wohnung von Derrick May, in der er und befreundete Künstler seit 1986 an neuen Klängen forschen. Die angesprochene Platte mit dem Namen 'Techno' dreht sich 1989 auch im Berliner UFO, obwohl man zu diesem Zeitpunkt dort kaum an Platten aus Detroit herankam.

Hier begann die deutsche Geschichte von Techno, die in und durch Berlin eine eigene Dynamik bekam und letztlich weltweit für neue Impulse (Love Parade oder auch Mayday, s.u.) sorgte.

4. Die Detroit-Berlin-Connection

Dimitri Hegemann, der heutige Betreiber vom Tresor am Potsdamer Platz, reist 1988 nach Detroit, um dort für seine kleine Plattenfirma 'Interfish Records' die Industrial Band 'Clock DVA' über 'Hard Wax Trax' auf den amerikanischen Markt zu bringen. Im Austausch bekommt er ein Album mit dem Titel 'Deep into the Cut' von 'Final Cut', einer Gruppe, bei der auch 'DJ Jeff Mills' mitwirkte. Dieser beeinflußt bis heute maßgeblich die Entwicklung von Techno. Diese Platte macht 1989 endgültig den Übergang von Industrial zu Techno hörbar.

1989 erscheint diese Platte in Berlin. Dimitri Hegemann veranstaltet zusammen mit Achim Kohlberger wiederholt das Atonal-Festival im Berliner Künstlerhaus Bethanien in Kreuzberg, doch diesmal spielt keine Band, sondern es treten DJs (u.a. 'Jeff Mills' und der Berliner 'Cosmic Baby') auf, deren Mischung aus spätem Industrial und jungem Techno bei den Gästen gut ankommt.

"Plötzlich stand das Publikum im Mittelpunkt des Abends, von DJs umsorgt. Was mich begeisterte, war die frische Tanzeuphorie. Jahrelang hatte die Untergrungszene in Berlin nicht mehr richtig getanzt, bis auf die kleine Gruppe im UFO und in der Turbine Rosenheim. Atonal fand als Party statt, das war definitiv der Beginn einer neuen Geschichte."

Das Atonal-Festival brachte dem Publikum erstmals die Fusion von Industrial mit House-Elementen und moderner Tanzmusik näher. Die Berliner Szene wußte, dass es hier nicht um angelsächsische Importware handelte, sondern um etwas, was einst von hier abgesendet worden war und nun kulturell verarbeitet zurückschwappte. Alle Berliner Klangkünstler der Siebziger, die 'Einstürzenden Neubauten' und der immense Einfluß von 'Kraftwerk' kamen nun hier zusammen und wurden in einer neuentwickelten Form präsentiert. Die Techno-DJs und Musiker aus Detroit fanden in Berlin ein Publikum, das sie besser verstand als das amerikanische.

Atonal war der zündende Funke, der Techno in seiner rohen Form zu einer Untergrundkultur wachsen ließ, die in Berlin und Deutschland schon erste Wurzeln hatte. Die Parties hießen jetzt Techno-House-Parties, weil vielen der Unterschied zwischen Techno und dem noch discolastigen House nicht geläufig war.

"Die Wurzeln des Techno sind amerikanisch, die Wurzeln des amerikanischen Techno wiederum deutsch. Doch nirgends hat sich diese neue Musikkultur so exzessiv und stilprägend entwickelt wie in Berlin nach dem Mauerfall."

5. Techno in Berlin:

5a. Die besondere Situation der Mauerstadt & die Wende

Langeweile herrscht unter Berlins Szenegängern in den späten Achtzigern. Die Nachtschwärmer treffen sich immer in den gleichen Clubs und tanzen zu Musik, die in anderen Metropolen gerade Trend ist: "Berlin wird kulturell von außen beatmet, auch im Untergrund."

Vergessen sind die ersten elektronischen Gehversuche der Neuen Deutschen Welle (NDW). Neben dem Gemisch aus Punk, Hip Hop und New Wave etablieren sich auch Bands, die aus den Klangtrümmern der Industriegesellschaft ihren eigenen Stil entwickeln. Führende Innovatoren dieser neuen Musik waren unter anderem 'Thobbing Gristle' und 'Cabaret Voltaire', vor allem aber die 'Einstürzenden Neubauten', die die australische Avantgarde mit 'Nick Cave' zum Umzug nach Berlin veranlassen. Ihre neuen Klänge werden später in hohem Maße in den Techno-Untergrund einfließen.

Gleichzeitig gestalten sich im Berliner Metropol die ersten Formen der Non-Stop-Musik mit 'DJ WestBam'. Er mischt Soul- und Discoplatten so zusammen, dass man die Übergänge zwischen den einzelnen Liedern nicht mehr hört. Diese "High-Energy-Musik", der Vorläufer von House-Musik, "war eine Sensation. Nur wenige wußten, wie das geht."

Es bildet sich eine harte Fangemeinde, darunter auch große Teile der Berliner Schwulenszene, die bis in die frühen Morgenstunden zu den sich endlos wiederholenden, stampfenden musikalischen Übergang mit Trillerpfeifen und Johlkonzerten tanzen. Diese ununterbrochene Musik ähnelt sehr dem heutigen Techno, wie die in den USA, insbesondere in Chicago, entstandene House-Musik.

House findet seine Einflüsse in Disco, Funk und europäischer Tanzmusik, aus einer Mischung von Kraftwerk- und schwarzer Gospelmusik. WestBam kauft zu dieser Zeit alles, wo das Wort 'House' auch nur draufsteht, und versucht 1986 die erste Berliner House-Party zu veranstalten.

"Berlin hatte zu dieser Zeit noch keinen Dance-Untergrund, von der High-Energy-Schwulenszene vielleicht abgesehen. Aber hier gab es schon immer, mehr als in jeder anderen deutschen Stadt, Untergrund-Kultur. Das EX und POP, eine Berliner Szenebar, war Teil davon, eben mehr für Leute, die Einstürzenden Neubauten hörten oder Black Flag und dazwischen Schostakowitsch. Wir schleppten also zwei Technics 1210er, ein Mischpult und eine Roland 808 und meine ersten 30 House-Platten hinein. Dass Underground-Dancemusic plus Undergroundszene noch keine Underground-Danceszenen ergeben, kann man wohl als Ergebnis dieser ersten House-Parties Berlins, wohlmöglich Deutschlands, bezeichnen. Die Gäste (...) wippten etwas mit und fragten sich, was da wohl passiert in ihrer Kneipe."

Damals sorgt eine Variation von House, der Acid-House, auf Parties in London und Ibiza für Furore und schwappt prompt in den Berliner Untergrund. Entstanden ist der Acid-House-Sound eher zufällig in Chicago, wo zwei DJs mit einem 'Roland TB 303'-Synthesizer die Baßfrequenzen verdrehen, verzerren und strecken und daraus ein Lied komponieren. Der neugeschaffene Klang wird zum Renner im Untergrund.

Berlin wird durch erste Acid-House-Parties in der Turbine Rosenheim Bestandteil und Multiplikator der Untergrund-Bewegung. Im UFO, der "Geburtsstätte der Berliner House-Szene" versammelten sich 1988/89 all jene, die in den 90er Jahren eine Karriere hinter den Kulissen der Techno-Szene starten werden. Die illegalen Parties im UFO werden von Monika Dietl, Moderatorin bei Radio 4U kurzfristig angekündigt. Das UFO ist nur unter Insidern bekannt, wird von der Polizei und den Behörden gesucht und ist deshalb gut versteckt.

In diesem Lagerkeller einer Kreuzberger Ladenwohnung untermalen Stroboskop-Blitze visuell die neuen, wegen der schlechten Musikeinlagen kaum zuzumutbaren Töne von Acid-House. Die etwa 50 bis 100 anwesenden Gäste tanzen 1988/89 stundenlang gasmaskiert durch den lichttrunkenen Nebel zu den zusammengemischten Endlosklängen.

"Das Neue an der Musik war, dass es nicht mehr wichtig war, ob man die A- oder B-Seite der Platte spielte, wer der Interpret war und wer die Musik komponiert hat. Wichtig waren die neuen Klänge, mit denen es abging. Du musst dir das so vorstellen: Du hörst dein Lieblingsstück, und darauf tanzt du dann. Irgendwann merkst du, dass du schon viele Stunden tanzt."

Ein weiteres Novum ist, dass das Publikum der Star ist und die Bühne ausfüllt, der DJ rückt in den Vordergrund. Eine Party, zu der die Leute in einer so großen Gruppe völlig frei und losgelöst tanzen, verursacht eine völlig neue, im Kollektiv erlebte, enorm positive Stimmung. Die "Gib mir das Unterhaltungspensum für meinen Zwanziger, den ich bezahlt habe"-Attitüde, die den Konzertbesucher wieder frustriert in seine Welt hinausschickt, wird von der Partykultur geändert.

Der idealistische Einsatz der ersten DJs auf diesem neuen Musiksektor (u.a. auch 'Dr. Motte' und 'WestBam') macht für viele den Berliner Party Untergrund attraktiv und ist insofern zu schätzen, als dass diese Acid-House-Parties nie die breite Massenwirkung erzielten, wie wenig später die ersten Techno-Parties.

5b. Die Wende

Die ersten Techno-Radiosendungen auf Radio 4U im Jahre 1989, stoßen auch im Berliner Osten auf interessierte Zuhörer. Die infizierten Ostbürger schneiden die Sendungen mit und veranstalten damit ihrerseits Parties.

"Die Wiedervereinigung der Techno-Szenen dauerte genau zwei Tage. An einem Donnerstag gingen die Grenzen auf, und an einem Samstag machten wir gemeinsam Party im Westberliner Kultclub UFO."

Das System der illegalen Raves funktioniert sogar auch im Osten. Erster Anbieter ist Wolle Neugebauer, der im Haus der jungen Talente in Mitte die erste große Technozid-Party veranstaltet, die mit rund 1.000 Besuchern ein voller Erfolg wird. Diese Raves sind große ekstatische Technoveranstaltungen, wo möglichst viele Leute in einem Zustand des Tanzrausches zu vereinen.

"Wenn die Leute miteinander abgehen und nicht auf die Bühne konzentriert sind, sondern miteinander tanzen und auf geheimnisvolle Art miteinander kommunizieren, das ist schon was ganz anderes."

Neue Namen für neue Formen bekannter Phänomene deuten hin auf eine neue kulturelle Indentität und auf ein neues Selbstwertgefühl, das jeder Anhänger dieser ersten Techno-Parties verspürt. Raves finden mittlerweile europaweit statt, der Austausch von Gast-DJs expandiert, nirgends wird so ausgelassen gefeiert wie im wiedervereinigten Berlin.

"Die Technozid-Parties hatten ein sehr radikales Konzept und einen sehr radikalen Raumansatz. Wichtig war vor allem die wahnsinnige Musikanlage, denn jede Tanzfläche funktionierte nach einem konzentrativen Prinzip. Du musst mindestens vier Lautsprechertürme aufstellen und somit ein Feld erzeugen, dass sich in der Mitte konzentriert. Hier bündeln sich die Energien zwischen dem DJ und den Tanzenden... Wow. Und dann gab es dieses gnadenlose Stroboskop-Licht in der Mitte über der Tanzfläche. Da es das einzige Licht war, hat man beim Tanzen völlig die Orientierung verloren. Das Ausreizen dieser minimalistischen Stilmittel ..., das war der Kick der Technozid-Parties."

Die Machart dieser Parties beinhalten im wesentlichen alle Elemente, die auch die heutigen Techno-Parties charakterisieren. Die Philosophie bleibt im Laufe der Jahre dieselbe. Aufgrund der einstigen Illegalität lautet die Devise: Weniger ist mehr. Der ständige hektische Auf- und Abbau von Musikanlagen der Vergangenheit reduziert die Wahl der Requisiten aufs Nötigste. Trockeneismaschine, Stroboskop und laute Musikanlage bilden eine effektvolle und handliche Einheit.

Die Frage nach einem passenden Ort - einer Location - muss noch geklärt werden. Ideal scheint zu diesem Zweck der Osten. Er bietet nach dem Mauerfall einzigartige Möglichkeiten zu Parties an neu zugänglichen Orten wie Bunkern, Grenzanlagen oder in verlassenen Gebäuden der Armee und der DDR-Organisationen.

Die darin stattfindenden Parties geben deren historischer Atmosphäre eine Prägung. Die verfallenden Gebäude mit rohen Mauern und abgerissenen Rohren stellen die Dekoration dar und verweisen auf einen baufällig zugrunde gegangenen Staat. DDR-Polizei und Verwaltungskräfte scheinen 1990/91 völlig gelähmt, handlungsunfähig und ohne autoritäres Selbstverständnis. Alles scheint erlaubt und möglich und daher fühlt sich der Untergrund mit dem Osten verbunden. Motivation genug für genügend Westler sich den Traum von Anarchie und extremer Freiheit hier zu verwirklichen.

Sechs Monate dauert es 1990 bis Studenten und Teile der Kreuzberger Szene 140 leerstehende Mietshäuser in den Ostteilen der Stadt besetzen. Die dadurch neuentstandene Stadtteilkultur wird gekennzeichnet von Bars, Clubs, Partyorten oder Kunstgalerien, alle ohne Konzession, die wie Pilze aus der Erde sprießen, um nach der Schließung an anderen Orten erneut wieder aufzutauchen.

Durch den Fall der Mauer liegen die Zutaten für die kreativen Kräfte praktisch auf der Straße. Altes Ostinventar wird auf dem Sperrmüll zusammengesammelt und neu verarbeitet. Der Osten bietet jedem die Möglichkeit sich in billigem Lebens- und Arbeitsraum frei zu entfalten. Aus alt mach neu, und deshalb werden die besetzten Häuser im Prenzlauer Berg neu entdeckt und gelten heutzutage als Geheimtip für Touristen aus aller Welt.

Technojünger aus Ost und West nutzen die neuen Möglichkeiten in gleichem Maße. Die harten Bässe des Techno erschüttern die maroden Wände ehemaliger SED- und Stasi-Immobilien. Für die Westler eine neue unbekannte Party-Location, für die Ostler die Möglichkeit ihre Vergangenheit mit der Untergrundkultur Techno zu überwinden, denn Musik ist für sie erstmals kein Second-Hand-Import von 'Drüben', sondern ein Trend, den sie gleichzeitig erleben. Die Raves im Osten wecken den Abenteuergeist der Wochenend-Emigranten aus dem Westen.

Der Reiz ist das Unbekannte, das Illegale und das Neue im Gegensatz zum drögen Westwochenende und steht in der Tradition der britischen Clubszene zu Acid-House-Zeiten. Um den behördlichen Zwangsjacken zu entkommen, werden die Parties mit Mund- und Flyerpropaganda beworben. Nur die Insider erfahren von den nächsten Veranstaltungen:

"Das Weiterreichen von einem Flyer war schon so gut wie der halbe Eintritt, anders hast du ja von der Party häufig nicht erfahren."

So geschieht es auch im Berliner Osten, doch in einer bisher unbekannten Dimension. Alle Energie wird für die Organisation und in die Kreativität investiert. Viele der Initiatoren brechen mit ihrer Karriere ab, um sich ganz dem Techno-Leben zu widmen. Die ehemalige Schuhverkäuferin Marusha ergattert sich einen Moderatorenjob beim neugegründeten halbkritischen Sprachrohr der Ostjugend, dem Radiosender DT 64. Mit Techno- und Houseplatten wird sie zur Identifikationsfigur der Jugendlichen und zum Aushängeschild eines neuen Radios für eine neue Jugendbewegung und erhält nach kurzer Zeit die volle Kultreferenz aus den Untergrundkreisen.

Techno bietet der Jugend im Osten eine neue kulturelle Identität in der Wendezeit. Marushas Sendung 'Dancehall' wird zur Informationsbörse der sich langsam auffächernden Untergrundszene. Es werden die ersten technospezifischen Plattenfirmen gegründet, die Techno-Clubs werden seßhaft. Man produziert nun seine eigene Musik mit eigener Mode und Partykultur.

5c. The Spirit of 1991

Die Medien werden aufmerksam, beantworten erste besorgte Leserbriefe und setzen sich erstmals mit den neuen Phänomen auseinander. Man prophezeit dem simplen 'Bum Bum' ein frühes Ende. Doch die Technoszene feiert 1991 exzessiver und ausgiebiger den je - es wird als das Jahr des 'Spirit of '91' gefeiert und heute auch vermißt.

"Heute ist alles Routine und langweilig und kommerziell. Damals war alles neu und aufregend, das Jahr 1991 war das der ausgefallensten Parties", meint Frontpage-Herausgeber Jürgen Laarmann: "Jeder, der dabei gewesen ist, wird das nicht vergessen. Die legendären Bunker-Parties waren sensationell."

Eine Party zu feiern war 1991 im Ostteil Berlins ganz einfach: Man wirft ein Notstromaggregat über einem ehemaligen NVA-Bunker an, und ab geht die Party:

"Die haben für 20 Stunden einfach die Türen zugeschlossen, so dass keiner mehr aus dem Bunker 'rauskonnte. Ganz schön kraß war das. Aber da wurden die Slogans 'Love, Peace & Unity' wirklich in absolut ekstatischen Momenten mit allen zusammen gelebt. Das war eine Art modernes Hippietum. Man war bemüht, von den mega-individuellen Achtzigern wegzukommen, hin zu einer superdemokratischen Lebensform. Da steckte Aufbruch und Lebensgefühl drin. Es wurde auf Konflikte verzichtet. Es gab keine Machtausspielung, höchstens hintenrum, und es gab auch keinen Sex, auch wenn die Frauen im Latex-Mini herumliefen. Alles war so friedlich - eine abgeschwächte Realität mit überschwenglicher Freude."

Die unaufhaltsame Verbreitung der Szene wird ebenfalls dem Geist des Jahres '91 zuerkannt. Techno versprüht ein einzigartiges Gemeinschaftsgefühl, der Idealismus und die Euphorie infizierte Außenstehende und hatte missionarischen Charakter.

Man mag der Bewegung vorwerfen, durch die geheime Partykommunikation die Nicht-Involvierten absichtlich ausgegrenzt zu haben, aber trotzdem war für die junge Techno-Bewegung gleichzeitig eine freundliche Offenheit für neu Dazugestoßene charakteristisch. Jeder durfte bei der Dancerevolution mitmachen.

Das Motto war einfach und effektiv. Es gab einen inoffiziellen Kodex, der vorsah, dass alle ethischen Moralvorstellungen politisch korrekt zu sein hatten. Leider gab es darüber nie irgendwelche schriftlichen Vereinbarungen, anhand derer man dies nachvollziehen konnte, doch jeder, der neu in diese Bewegung dazustieß, akzeptierte den Moral- und Verhaltenskodex der Partykultur.

Die einst intimen Parties wurden gigantisch groß. Dies liegt nicht nur an dem gesteigerten Profitinteresse der Veranstalter, sondern vor allem an der unausgesprochenen Maxime der Techno-Kultur. Die andere Seite der Medaille wird im Partyjahr 1991 gern verdrängt, nämlich dass sich diese Massenakzeptanz auch in Identitätsverlusten der Partybewegung äußert.

Auf der anderen Seite ermöglichte dieser Massenzulauf, dass sich Techno als das Hauptmusikprogramm in verschiedenen Berliner Clubs etablierte. Die teilweise in früher genutzten Räumen/Häusern gegründeten Techno-Clubs wie z.B. das WMF, der Tresor und das E-Werk (alle in Berlin/Mitte) sind noch heute, selbst nach Umzügen oder Umbenennungen, die Anlaufstellen der Nightlife-Szene. Eine Entwicklung, die parallel in anderen Großstädten der Bundesrepublik wie Hamburg oder Frankfurt zu beobachten war - und es ist noch kein Ende in Sicht.

Die Impulse gingen jedoch von Berlin aus, die Szene Berlins bereitete für Techno in Deutschland den Boden und ließ dann neue Einflüsse auch von außen zu - begründet ist dies maßgeblich an dem neuen, aufstrebenden Charakter der ehemaligen Inselstadt nach der Wende.

6. Raus aus dem Untergrund:

Techno erblickt das Licht des Geldes

Die Technozid-Parties 1991 werden abgelöst von Unternehmungen, die heute den Massencharakter der Techno-Bewegung symbolisieren. Mit dem Wachsen der Love Parade und der ersten Mayday-Parties beginnt langsam aber sicher der Weg vom Untergrund zum Mainstream. Techno wird zum Pop der Neunziger.

Die stetig wachsende Zahl der Techno-Anhänger zieht zwangsläufig auch die kommerzielle Vermarktung aller Techno-Veranstaltungen nach sich. Dies trifft im wahrscheinlich höchsten Maße die Vermarktungsstrategie der größten Techno-Innovation, nämlich die der Love Parade. Diese Veranstaltung lockte bislang jedes Jahr mehr (!) Techno-Sympathisanten an: 1996 kommen insgesamt ca. 750.000 Menschen nach Berlin (was eine Verdopplung der Teilnehmerzahl von 1995 entspricht !), um bei dem ungefähr dreitägigen "Techno-Taumel" dabeizusein.

Mit der einstigen Untergrundzeremonie hat die Massenekstase von heute kaum noch etwas zu tun. Die jährliche Love Parade als das "Woodstock der Techno- & House-Generation". Underground und Overground, Avantgarde und Mainstream, Camel-Promotion, XTC und CDU, die Techno-Bewegung scheint sich im kulturell Beliebigen zu verlieren.

Der Entwicklungsprozeß der Techno-Szene ist beeindruckend: 1991 kommen 6000 Raver nach Berlin, um die noch junge Bewegung begeistert zu feiern. Dreimal soviel wie 1990, vierzig mal soviel wie 1989. Alle Techno-Involvierten aus ganz Deutschland reisen an, um die Love, Peace & Unity-Ravolution zu erleben.

"Frontpage und die Love Parade haben ein besonderes Verhältnis: Bis 1990 war die Parade eine reine Berliner Veranstaltung, bei der ca. 2000 Leute über den Ku'damm zogen. Dann traf Dr. Motte auf den Frontpage-Chefredakteur Jürgen Laarmann und man verabredete, dass Frontpage erstmals auch überregional die Werbetrommel für die Parade rühren solle, so dass auch die Anhänger von Love, Peace, Unity, House & Techno aus Deutschland und dem angrenzenden Ausland nach Berlin kommen könnten, um die Idee mitzuzelebrieren."

Diese neue Werbekomponente, ein gratis verteiltes bundesweites Techno-Magazin macht Werbung für die kostenlose Party Love Parade, trug wesentlich dazu bei, dass sich dieses Open-Air-Ereignis zum Massenerlebnis wandelte.

7. Die Massenveranstaltungen:

7a. Die Love Parade - Feste(r) feiern

Die Diskussion um die politische Aussagekraft der Love Parade bleibt bis heute ein Thema. 1995 will der Berliner Innensenator Dieter Heckelmann den Umzug verbieten, da sie keine Stellungnahme zu öffentlichen Angelegenheiten sei, und die Beseitigung des anfallenden Mülls sei ein zu hoher Kostenfaktor.

Nachdem die Stadt Frankfurt bereit ist, eine Million Mark für die Austragung und den damit verbundenen Imagegewinn an die Love Parade GmbH zu zahlen, lenkt Berlins Oberbürgermeister Diepgen ein und gestattet die Durchführung bei Übernahme aller Kosten.

Love Parade '96: Die Stadt Berlin findet in dieser Form von (Jugend-)Demonstration einen positiven Imagegewinn für die Stadt und das Tourismusgeschäft, so konnte man es in der Berliner Tagespresse nach der Veranstaltung lesen. In Berlin passierte etwas, und diesmal waren nicht die zahlreichen Aktivitäten auf den hiesigen Baustellen gemeint.

Die Love Parade sieht sich fern von konservativen politischen Ansichten und trifft als Aushängeschild einer neuen Jugendbewegung keine expliziten Aussagen zu diesbezüglichen Themen oder Problemen. Techno ist einerseits unpolitisch: "Es gibt uns, wir sind viele, wir sind anders, wir wollen Spaß."

Techno ist andererseits doch politisch: "Techno ist sehr politisch und Soziologen sind alte Wichser, die nichts verstanden haben. Techno ist deswegen politisch, weil es die Musik demokratisiert hat und sich jeder seine Musik machen kann. Wir brauchen Fehler anderer Jugendbewegungen nicht mehr zu wiederholen. ... Wir sind keine Antibewegung zur Spießergesellschaft, sondern stellen eine Alternative dar."

Cord Schnibben vom 'Spiegel' sieht diese Komponente eher zynisch:

"Die Love Parade ist so politisch wie ein Sommerpicknick und so unpolitisch wie eine Friedensdemo, aber wenn Politik die Verständigung darüber ist, wie man zusammenleben will, dann sind drei Tage voller 'Love, Peace and Unity' politischer als drei Kilo Parteiprogramm."

Wie politisch oder unpolitisch diese Bewegung letztendlich bewertet wird, Parallelen zu anderen Massenerscheinungen und Massenmeinungsbekundungen können aufgezeigt werden. Im Grunde ist der Umzug der Liebe nicht anders als die Anti-Vietnam-Kriegs-Demonstration oder der Karnevalsumzug in Mainz. Man demonstriert Einheit und Zusammenhalt, versucht das Gute im Menschen zu vermitteln:

"Love, Peace und Unity als Selbstzweck. Diese Kids sind nicht explizit gegen etwas, und sie haben nicht im Sinn, zu kämpfen. Sie wollen - im Gegensatz zu den HipHoppern zum Beispiel - nicht einmal Spuren in der Außenwelt hinterlassen. Keine Grafitti, keine Texte, höchstens in der Mode manifestiert sich die Technokultur. Gelingt es aber, von den Ansprüchen an eine Jugend, die per definitionem rebellisch sein soll, abzurücken, stellt man fest, dass die Techno-Kids praktizieren, was vorangegangene politische Bewegungen und Gruppierungen gefordert haben. Diese Kids skandieren keine Parolen, in ihrer abgeschlossenen Raver-Gesellschaft existiert weder Rassismus noch plumpe Anmache, noch Ausgrenzung. Aus der Sehnsucht nach dem Wunderland heraus haben sie vielleicht entdeckt, was bis dahin als Utopie angestrebt wurde, aber kaum je in Realität stattgefunden hat. Die Raver planen keine 'Revolution', ihr Umgang miteinander ist aber in einem gewissen Sinn durchaus revolutionär."

Oder eine andere Stellungnahme dazu: "Techno ist eben nicht ausgrenzend, Techno besteht nicht auf ethnische Besonderheiten, sondern ist offen nach allen Seiten hin. Die Love Parade ist friedlich orientiert. So etwas hat einen Einfluß auf das Alltagsleben. Nur Love, Peace & Unity zu denken und sich anzulächeln, anstatt sich gegenseitig auf die Füße zu treten und sich anzurempeln, das ist für mich schon so politisch: Ich glaube, das geht in das kollektive Bewußtsein der Menschheit ein, da bin ich idealistisch."

Der praktizierte Pazifismus der Ravolution findet seinen Feind möglicherweise in dem kopfschüttelnden Spießer am Rande des Geschehens, sonst nirgends. Die Szene grenzt sich nicht gesellschaftlich ab, die propagierte Liebe, Friede und Einigkeitsdemonstration braucht keine ideologische Zusammengehörigkeitsformel. Doch dies empfinden dennoch nicht alle so:

"Die Inhaltslosigkeit wird kompensiert durch dieses Familiy-Gehabe. Es wird eine Homogenität herbeigeschworen, die es eigentlich gar nicht gibt."

Nach 1991 lautete das Motto der Friede, Freude & Eierkuchen-Demonstration anders, eine an den Punk angelehnte "Leckt uns alle am Arsch"-Philosophie als Ausdruck der kommerziellen Verweigerung und Anpassungsunlust:

"Wir machten unsere eigenen Klamotten und unsere eigene Musik, wir sind kulturell und ökonomisch autark, weil wir unser eigenes Ding machten: Das ist jetzt nicht mehr so: 1994 ist das ganze Ding umgekippt."

Ein Generationswechsel hat zur Folge, dass der idealistische Geist von 1991 teilweise verlorengegangen ist und sich die Szene von ihren ehemaligen, ursprünglichen Ideen entfernt. Die ökonomische Expansion des Erlebbaren bei den Raves spaltet die Szene und die engen Beziehungen der Macher aus den Anfangszeiten. Man kennt sich nicht mehr persönlich, die Szene ist unüberschaubarer geworden. Auch die Love Parade GmbH ist längst machtpolitisch strukturiert. Die Teilnehmer des Umzugs werden ebenso von ihr bestimmt wie die Auswahl von Sponsoren.

"Du musst erstmal einen Antrag ausfüllen, wenn du mit einem Wagen bei der Love Parade mitmachen willst. Der Antrag kostet etwa 400,- DM Bearbeitungsgebühr. Wenn du genommen wirst, musst du noch einmal 5000,- DM fürs Mitmachen zahlen. ... Love, Peace & Unity klingt dann schon etwas lächerlich, wenn Machtkämpfe auf dem Berliner Markt knallhart ausgetragen werden. Wir durften z.B. lange nicht mit einem eigenen Wagen mitmachen. Der Bunker stand immer außen vor, weil wir erst später (1992) dazukamen. ..."

Nach der 1995er Love Parade gibt es von 65 Anbietern für die Massen an Rave-Touristen eine Party danach. Doch deren Hoffnung auf ein gutes Geschäft wird zu einer überraschenden Pleite. Anstatt in Clubs zu gehen, sonnen sich die Teilnehmer lieber an der Spree bei einer kostenlosen Party der Radiosenders Kiss FM oder setzen die Feier in Parks mit eigens mitgebrachten VW-Bussen fort.

Im Jahr 1995 wird deutlich, dass der Zenit der ökonomischen Auswertung der Parties längst überschritten ist. Die Schadenfreude der Szene über den Mißerfolg der Veranstaltungen im Rahmen der Love Parade verdeutlicht den neuerlichen Trend, sich wieder in kleine, weniger kommerzielle Szenen aufzusplitten. In der Masse kann nichts Neues mehr entstehen. Dieser Eindruck bleibt auch nach der 1996er Love Parade, die diesmal aufgrund der großen Erwartung von Teilnehmern durch den Berliner Tiergarten führte: Die Medien haben zwar in erster Linie über die erneut gestiegene Anzahl an Ravern (ca. 750.000 Teilnehmer) geredet, an zweiter Stelle wurde jedoch von den Medien das Müllproblem im Anschluß an die Love Parade angeschnitten. Motto der Presse: 'Don't waste our times with nothing.' - keine Rede von den Parties vor und nach dem Massenumzug.

7b. Mayday - Das Kind der Love Parade

Der Kult-Charakter der Love Parade zieht auch andere Metropolen in ihren Bann. Das karnevalistische Ritual wird in Zürich seit 1992 erfolgreich imitiert: In Köln mit dem Night Move, 1994 raven auch 1.500 Österreicher durch die Straßen der Alpenstaat-Metropolen. Bayern folgt 1995 mit dem Münchener Union Move.

Schon sechs Monate nach dem kulturellen Durchbruch der Love Parade folgt ein weiteres, bundesweites Ereignis aus der Berliner Techno-Event-Erfinderküche. Die Mayday-Party, die die immer größere Dimension der Rave-Veranstaltung zum Ziel hat und sich zum Berliner Party-Exportartikel Nummer eins entwickelt. Auch ihr gelingt es, immer neue Besucherrekorde zu brechen. 1995 raven 30.000 Teilnehmer in der Frankfurter Festhalle. Trotz des Eintrittspreises von 85,- DM ist die Veranstaltung schon Monate vorher ausverkauft:

"Es gibt leider keine größere geeignete Halle für einen Rave in Deutschland, sonst wäre Mayday sicherlich größer. Fußballstadien eignen sich jedenfalls von der Atmosphäre her wegen der schlechten Akustik schlecht dafür."

Die Mayday-Party steht in der Tradition der früheren Raves, den Technozid-Parties, zu denen schon bis zu 3.000 Tänzer im Gleichklang monotoner Baßlinien die Massenekstase erleben durften. Die letzte Party unter Technozid-Motto findet 1991 statt und sechs Monate nach der Love Parade, im Dezember 1991 ist das erste Mayday-Happening:

"Ich wollte so etwas wie die Party nach der Love Parade nochmal, nur irgendwie anders veranstalten. Also habe ich mich mit den Low Spirit-Leuten zusammengesetzt und mit Marusha, die durch ihre Radiosendung Rave-Satelite bei DT 64 großen Einfluß im Osten hatte. Als der Sender zumachte, haben wir überregional zu pushen begonnen und Mayday gemacht. Mayday bedeutete damals: Rettet das Jugendradio DT 64. Der Demonstrationscharakter war da, und DT 64 hat das Ereignis stark in seinem Programm gepusht."

Auch der Berliner Untergrund solidarisiert sich mit dem Sender DT 64 und damit gleichzeitig mit der Mayday. Zur Rettung des Senders werden Vereine gegründet und Tausende von Unterschriften gesammelt. Fanclubs gehen in den Hungerstreik oder ketten sich an das Brandenburger Tor. DT 64 gilt als der kritischste unter allen Radiosendern und das scheint der Grund für dessen schnelle Beseitigung durch die Landesmedienanstalten.

Der Empfangsradius des einzigen überregionalen Jugendradios reicht über die gesamte DDR bis nach Niedersachsen und Bayern hinein und so entstehen auch in der Bundesrepublik DT 64-Fanclubs. Im Jahr 1991 hat das Radio Kultstatus und ist ein mächtiges Medium.

Techno symbolisierte bis dahin die kulturelle Öffnung zum Westen. Bei der ersten Mayday funktionierte Techno auch als Musik eines gemeinsamen Widerstandes gegen die fortschreitende Zerstörung der Ost-Kultur durch westdeutsche Entscheidungsträger. Im Gegensatz zum engagierten Einsatz der DT 64-Moderatoren für die Mayday in der Halle Weißensee ließ der Idealismus zur Rettung von DT 64 seitens der Mayday-Veranstalter zu wünschen übrig.

Die erste Mayday kostete 200.000,- DM. Nach deren erfolgreichem Export in andere deutsche Städte wird schnell vergessen, dass es einmal ein Jugendradio DT 64 gab.

Heute werden bei den Parties Millionen umgesetzt. Aus den einst improvisierten Parties mit drei VW-Bussen voll Musikanlagen, Stroboskop und Bier an ungewöhnlichen Orten, an denen der Geist des Techno herbeigefeiert wurde, sind Riesenraves geworden. Deren Aufwand an Technik gleicht dem der Rolling-Stones-Konzerte.

1991 wirkten die Love Parade und die Mayday-Raves auf die Mitglieder der ersten Stunde wie erste kulturelle Siegesfeiern ihres noch jungen Techno-Underground. Die Bewohner verschiedener (Techno-)Städte lernten sich kennen. Ein neues überregionales Bewußtsein entstand, eine neue Mobilität - Techno-Tourismus - gab der Sache neuen Schub. Die Zahl der Techno-Anhänger ist seitdem immer weiter angewachsen.

8. Body & Sex - Einfach schön oder schön einfach?

Wie keine andere Jugendkultur zuvor hat sich Techno die Nacht als Raum erobert. Techno-Parties machen die Nacht zum Tag und den Tag zur Nacht. Die Nacht ist der Raum des Traumes und des Unergründlichen, des Körperlichen - des Sexuellen. Zusätzlich eroberte sich Techno auch den Untergrund der Städte: dunkle Fabrikhallen, Keller und Nischen, die oft zuvor brachlagen.

Techno findet also gewissermaßen in einer von der Gesellschaft noch unkontrollierten Zone statt. Kommerzdiscos und Techno-Tracks im Radio können demnach als bloßer Versuch angesehen werden, das "Bedrohliche" unter Kontrolle zu bringen. In der nächtlichen Partywelt lässt sich historisch zwischen Club Culture und den auf sie folgenden Raves unterscheiden.

Clubs und Raves weisen unterschiedliche Merkmale auf: Im Gegensatz zum Rave (oder auch: Rave Nation) ist die Club Culture tribalistisch organisiert, sie variiert von Club zu Club und ist jeweils durch die Interessen und Codes einer bestimmten Szene geprägt. Wichtiges Merkmal der Unterscheidung sind unter anderem sexuelle Interessen und Vorlieben:

So existiert eine traditionelle, heterosexuelle Nightclub-Szene, deren Droge in erster Linie Kokain und deren Musik eher House als Techno ist. Eine reiche Tradition an Club Culture aber haben vor allem Homosexuelle: Clubs waren - und sind teilweise immer noch - der Ort, wo die gesellschaftlich zu großen Teilen geächtete Homosexualität sich inszenieren und ausleben konnte. Im Untergrund wuchs eine lebendige Subkultur, die sich mit der Entstehung von House und Techno selbstbewußt geöffnet und diese neue Kultur geprägt hat.

Die neuartige Durchmischung der Szenen ist die unabdingbare Grundlage für die heute bestehende Party- und Club Culture. Dabei hat sich diese, jedenfalls nach außen hin, stark sexualisiert:

"Kommunikation findet nicht mehr nur in Worten statt. Körper korrespondieren im Tanz, das Gespräch führen die Bewegungen. Arme antworten Beinen, Leiber erzählen eigene Geschichten. Worte und Werte der anderen Welt verlieren ihre Bedeutung, Gedanken formen sich zu Bildern. Hat man sich am Anfang noch gewundert über die seltsam gewundenen Bewegungen und die Figuren, die die Hände in der Luft beschreiben, staunt man alsbald bloß noch, wie schnell man ohne Scheu ähnliche Bewegungen ausführt. Der Abbruch des Austausches zwischen Tanzenden ist zwangloser als bei einem Gespräch mit Worten und ebenfalls fließend."

Aus dem Boom von Techno und House geht eine neue Art der Selbstinszenierung hervor, die sich vorallem in Form einer neuen Mode ausdrückt. Diese ist stark auf sexuelle Reize (oder: Über-Reize) ausgerichtet. Selbst S/M-Accessoires feierten Einzug in die Clubmode. Wenn schon 'Sehen-und-Gesehen-werden', dann bitte richtig und möglichst voyeuristisch. Die Präsentation des eigenen Körpers bleibt allerdings nur auf die Kleidung beschränkt.

Techno hat die Clubs von stereotypen Tanzritualen befreit - alles ist erlaubt. Die Szene wird pornographisiert, Sexualität zelebriert. Die Szene feiert rauschend den Abgrund: den Abgrund der industriealisierten Welt, den Abgrund, an dem sich ihre Gesellschaft befindet. Dem trüben Sein wird der Schein vorgezogen. Die Lust zu spielen und zu repräsentieren ist größer geworden - allerdings auch der Druck dazu.

Die Allgegenwertigkeit des 'Schönen' in faltenloser Hochglanz-Erotik verstärkt den Zwang zur Perfektion. Dieser verhindert Nähe - Stellt Sex zukünftig für Generation Y und Z Safer Sex, Cybersex, Softporno und MTV dar?

"Die Zeremonie des Ankleidens ist von großer Bedeutung. ... Wiederum entsteht das Gefühl, dass die Raves ermöglichen, was das Leben nur in normierten Abläufen und zu festgelegten Zeiten ermöglicht: Das Verkleiden, das Spiel mit einem anderen Ich, das kindliche Herumtollen in schräger Aufmachung."

Raves sind andererseits sinnliche Erlebniswelten, in denen die Grenzen verwischen und ein neues Experimentierfeld für neue Formen der Sexualität entstehen: Androgynität, die Vermischung von homo- und heterosexuellen Szenen, neue Begegnungen zwischen den - nicht mehr eindeutig bestimmten Geschlechtern, die Lust und Freiheit, sich zu inszenieren, kollektive Trance-Erlebnisse.

"Beim Rave nun ist Tanzen nicht mehr länger der vertikale Ausdruck horizontaler Sehnsüchte, sondern zuvorderst Selbstzweck."

Interessant ist aber auch die Infantilisierungstendenz dieser Bewegung: "Die Versprechungen des sexy Aufzugs werden nicht eingelöst, vielmehr nimmt jetzt das Kind überhand. Und die Sehnsucht ist spürbar, die Sehnsucht, dass die Nacht kein Ende hat, dass sich der Wechsel zwischen Ekstase und leichtem Schweben ohne Ende nachvollziehen möge, dass der Tanztempel seine Türen nicht schließt - und dass die andere Welt in der Zwischenzeit untergegangen ist. Dass sie hier in ihrer ganzen Unschuld sitzen bleiben können und die Erinnerung an die normierte Welt da draußen verschwindet. Irgendwann steigen sie dann trotzdem wieder in ihre Autos, S-Bahnen und Trams, lassen sich in die Alltagswelt zurücktransportieren, in der Hand einen Flyer, auf dem steht, wo die nächste Party stattfindet."

IV. Schlußbemerkungen

1. Die Erlebniswelt 'Rave' - Rave New World?

"Techno und Tanz führen in einen Bereich der Ekstase, wo der göttliche Funke erlebt werden kann.", so Hans Cousto, 'Techno-Experte' von der Drogenberatung Eve & Rave auf der 16. Volksuni 1995 an der HU Berlin.

Techno wird in den Medien immerwieder sehr kontrovers diskutiert. Vorallem von Seiten der Soziologen wird die Technokultur kritisiert: Ihr wird vorgeworfen, dass sie eine oberflächliche und unpolitische Bewegung sei, ein Spiegelbild der selbstzufriedenen Gesellschaft. Der Spiegel fand schon 1994 heraus, dass diese Jugendbewegung dadurch gekennzeichnet ist, dass die Jugendlichen es als rebellisch empfinden, nicht rebellisch zu sein.

Die Vorwürfe sind teilweise konkreter: Es heißt, die Technobewegung zeichnet sich durch überdurchschnittliche individuelle Eigenschaften aus: "Be yourself", oder auch: "Vergiß das System. Tu was!"

So paradox es scheint, Techno zeichnet sich durch diese individualistische Komponente als Massenbewegung aus: "Techno ... habe die Produktionsweise von populärer Musik radikal demokratisiert."

Trotz der großen Massen, die gemeinsam friedlich feiern (können), fehlt die diskursive Auseinandersetzung: Soziale und ökologische Mißstände der Gesellschaft sind kein Thema. So schreibt Cord Schnibben über die "Party-Partei" Techno, sie sei "eine, die sehr laut e und sprachlose "Jugendrevolte":

"Raver reden so ungern, weil es so laut ist, weil es nichts zu sagen gibt, weil sie nichts sagen wollen oder weil alles gesagt ist. Raver wollen nichts von der 'Öffentlichkeit', sie stellen keine Forderungen, mit ihren Demonstrationen wollen sie ihre Lebenslust zur Schau stellen."

Er bezweifelt zusätzlich, dass es überhaupt nicht viel gibt, was diese Bewegung vereint, außer dem Wunsch zur Flucht aus der Alltagsrealität, um möglichst nahe an der Zukunft zu sein.

"Sosehr die Musik beim ersten Eindruck im Zentrum steht, die Hauptsache ist sie nicht. Sie ist bloß Hilfsmittel. Sie ist der fliegende Teppich, die Welle, die alle mitnimmt, die mitwollen auf die Reise ins Wunderland. Die Reise - um die es geht. ... Stars gibt es keine - Stars sind alle, die in dieser Nacht zusammen auf die Reise gehen. ... Techno verfügt über enorme Qualitäten der Verführung."

Aber wo geht die Reise hin? Es scheint, als ob die Reise selbst das Gesuchte, oder das Ersehnte ist. Der Rave wird bei der Flucht aus dem Alltag zu einem befreienden Erlebnis. Raves zeichnen sich dadurch aus, dass alles erlaubt ist: Das Erfahren der eigenen Körperlichkeit, die Lust an der Bewegung und das Austesten der eigenen Grenzen bis zu völliger Erschöpfung.

Dazu kommt der Versuch, die Zeitrechnung außer Kraft zu setzen. Getanzt wird die ganze Nacht und den nächsten Tag bis die körperliche oder psychische Grenze erreicht ist. Vergangenheit und Zukunft sind irrelevant, so scheint es. Der Techno-Rave ist eine Illusion (von Glück), nicht mehr und nicht weniger, denn wenn alles vorbei ist, wird man sehr schnell wieder von der Gegenwart eingeholt. Techno - die reine Flucht?

Es scheint, als habe die Technobewegung folgenden Ansatz: Die schöne, heile Welt gibt es nicht, also schaffen wir uns die Illusion einer solchen und feiern solange, bis es sie gibt:

"Da ist Techno beruhigend zivilisiert und paßt prima zu Wohlstandsgesellschaften, oberflächlich und nett, wie er ist. Raves sind bunt, inhaltsleer und von kindlicher Fröhlichkeit erfüllt."

2. Kritische Auseinandersetzung mit dem Techno-Vokabular

Die Frage danach, wieso Techno so erfolgreich werden konnte, hängt sicher auch damit zusammen, dass sich die Technobewegung selbst gut vermarktet hat. Dazu gehört nicht nur die 'richtige' Einstellung zum Geld, sondern auch die entsprechende Marketingstrategie für die Platten, Klamotten und vor allem für die Veranstaltungen.

Nicht von ungefähr gab es Stimmen, die der Technobewegung latenten Faschismus vorwerfen. Das liegt weniger an dem 'Marschmusik'-Charakter der Technobeats, wenn man so will, sondern eher an dem teilweise bewußt pathetisch gewählten Vokabular der "Bewegung", oder wie sie auch auf englisch mit "The Move" oder "Movement" bezeichnet wird. Assoziationen mit dem Buch "Die Welle" (von Morton Rhue) können dabei schon entstehen.

Zwar handelt es sich in diesem Buch um den Versuch, aufzuzeigen, inwiefern Menschenmassen politisch verführbar sind, jedoch kann man hier auch einen indirekten Bezug massenpsychologischer Einflußnahme einer Jugendkultur auf den Konsumenten herstellen. Die 'Vermassung' von Techno wurde vorzugsweise durch teilweise pseudo-religiöses Vokabular und ständige Redundanzen bestimmter Schlagwörter und Parolen forciert.

Die einfach strukturierten Botschaften der Technobewegung werden von uns anhand einiger Beispiele kritisch unter die Lupe genommen. Zu diesem Zweck ziehen wir vor allem die Love Parade und die Mayday-Veranstaltungen in Betracht.

Wenn man sich die unterschiedlichen Mottos der Love Parade anschaut, dann wird man feststellen, dass sie thematisch sehr einfach sind, so dass man ihnen vor allen Dingen sehr schnell zustimmen kann, so zum Beispiel dem Slogan "Friede, Freude, Eierkuchen" (1989), "Love 2 Love" (1993), "Alltogether now" (1994), "Peace on Earth" (1995) oder "We are one Family" (1996).

"... hämmern auf Massen-Raves die ewig gleichen Slogans, die mittlerweile wie Durchhalteparolen klingen: "One Nation", "One Tribe", One Familiy" ..."

Dies ist sicherlich ein Grund, wenn auch nicht der entscheidende, warum sich so viele Menschen dieser Bewegung anschließen (können). Das Gerede von "Love, Peace & Unity" gerät zur Farce, wenn es nichts anderes mehr zu geben scheint, und die eigentliche Aussage zur sinnentleerten Worthülse degeneriert.

"Die einzige Botschaft ist: Spaß, Spaß und noch mal Spaß", und das Hochglanz-Techno-Blatt 'Frontpage' propagiert: "Wir wollen durch Musik- und Ravekultur glücklich werden."

Unsere Kritik fällt negativer aus, wenn wir uns mit dem Begriff 'Mayday' befassen: Anfangs stand als Namensgeber der 1. Mai (engl. May Day) Pate, es wurde mit der anderen Bedeutung (Internationaler Funknotruf) kokettiert: Die Macher haben ohne Not den Namen für eine Form von (Massen-)Party weiterverwendet.

Es stellt sich die Frage, wer oder was in Not geraten ist, denn gerade angesichts der immensen Geldsummen, die auf solchen Veranstaltungen mit zehntausenden Teilnehmern in Bewegung gesetzt werden, kann man hier nicht mehr von einem Notruf sprechen. Es müsste sinnvollerweise statt 'Mayday' eher 'Payday' heißen.

Das Schema der Slogankreation für Party oder Platte läuft anscheinend ungefähr so ab: Irgendetwas mit Liebe, Spaß eventuell noch ein bißchen Frieden, möglichst griffig und gerne einfach: Hauptsache Englisch und 'hip'.

3. Schluß mit Lustig? Techno - Wohin?

Ist Techno die konsequente Erscheinung einer Jugendkultur der 90er Jahren in den Industriegesellschaften?

Eine Entwicklung, die dafür spricht, ist die Tatsache, dass mit dem Preisverfall der Computer und auch der Grafikprogramme in den 80er Jahren einer Szene der Zugang zur technologisierten Produktion von Musik, Grafik (oder auch Text) ermöglicht wurde. So konnten die gestiegenen Ansprüche bei der Organisation von Parties umgesetzt werden und mittels der gerade in Mode gekommenen Flyerkultur ergänzt werden.

Und noch eine Entwicklung ist bei den Jugendlichen in den letzten Jahren zu beobachten: Kein Rebellieren gegen Familie, Beruf und Staat (s.o.) - oder: Resignation statt Rebellion?

"Einzigartig bei Techno ist die Mischung zwischen Superpop und Underground, zwischen Millionenerfolg und Authentizität"

Mittlerweile hat die Technobewegung solche Dimensionen angenommen, dass es Stimmen gibt, die behaupten, es gäbe keine Technobewegung (mehr). Die Differenzierungsentwicklung hat die Zahl der Techno-Anhänger mit ihren unterschiedlichen Motivationen immer mehr voneinander getrennt oder entfremdet:

"Nur weil einem niemand auf den Keks geht, ist man noch keine Bewegung. Der Eindruck zu ein und demselben Verein zu gehören, speist sich mehr durch die Fremdwahrnehmung. ... Deshalb gibt es keine Techno-Bewegung. Als gemeinsamer Nenner der Unterabteilungen bleiben gerade mal ekstatisches Tanzen zu elektronischer Musik sowie der Hang zu chemisch und technisch verursachten Sinnesreizen."

Dieser Beitrag zeigt, dass sich ein "Generationskonflikt" abspielt, und das im 'verflixten' siebten Jahr der Love Parade.

Den Techno-Enthusiasten der ersten Stunde gefällt die Entwicklung zur Massenkultur nicht mehr: Weitaus schwerwiegender als die Drogenproblematik, die in den Jugendkulturen oft eine katalytische Rolle spielte (und dabei immer kontrovers diskutiert wurde), wird der Ausverkauf der Technobewegung kritisiert. Die Bewegung habe ihre Exklusivität verloren, wenn zur Finanzierung der Love Parade immense Gelder (eine Summe von 500.000,- DM machte die Runde) von den Sponsoren beigesteuert werden (müssen), um das Spektakel stattfinden zu lassen.

Dazu kommt die Entwicklung in der Popmusik, Technosounds zu adaptieren: Es springen Musiker auf den Techno-Train auf, die ihren Zenit eigentlich schon überschritten haben: Der ehemalige Neue Deutsche Welle-Star Falco mit seiner Single "Mutter, der Mann mit dem Koks ist da" (1996), oder auch das ehemalige 'Ideal'-Mitglied Inga Humpe und ihre Schwester Annette mit ihrer niedlichen Formation "Bambi" (1995). Extremer sind da noch 'Die Schlümpfe', hier werden mit verzerrten Stimmen alte Hits einfach gecovert.

Unter den Insidern gilt diese mittlerweile populäre Variante von Techno als "Deppentechno" der von "Technodeppen" gehört wird. So hören sich die beschwörenden Worte der Pioniere der ersten Stunde mittlerweile wie "Durchhalteparolen" an: Es klingt Wehmütigkeit aus diesen Worten - Retten, was noch zu retten ist.

Das Nachdenken über die Zeit nach Techno hat mittlerweile auch die Etage des "Chefideologen" (Der Spiegel) der Technobewegung, Jürgen Laarmann, erreicht. In den Frontpage-Ausgaben vom Juni/Juli 1996 ist ein Schwerpunktthema seines Magazins die Frage nach dem "neuen Ding", wie sieht das Ding nach Techno aus, und wer der Erste sein könnte, der es entdeckt.

Wenn es jemand ist, der die Mechanismen der Entwicklung von Jugendkulturen verstanden hat, könnte er aus dieser neuen Bewegung immenses Kapital schlagen!

V. Literaturangaben

-Philipp Anz/Patrick Walder: Techno, Verlag Ricco Bilger, 1. Auflage, Zürich 1995

-Oliva Henkel, Karsten Wolff: Berlin Underground, Techno und HipHop zwischen Mythos und Ausverkauf, FAB Verlag, Berlin 1996

-Klaus Janke/Stefan Niehues: Echt abgedreht, Die Jugend der 90er Jahre, Beck'sche Reihe 1091, 3. unveränderte Auflage, München 1995

-Die Ausgaben von der 'tageszeitung' vom 01.07.1994, 04.07.1994, 24.02.1995, 02.06.1995, 06.06.1995

-Die Ausgaben der 'Berliner Zeitung' vom 11.07., 15.07. und 16.07.1996

-Frontpage-Magazin, Juni & Juli 1996, Technomedia GmbH Verlag, Herausgeber Jürgen Laarmann, Berlin

-[030]-Magazin, Ausgabe 14.1-96, Lloyd-Presse-Verlags-GmbH

-Subway-Magazin, Ausgabe 2/95, Subway Werbe- und Verlags-GmbH, Braunschweig

-Der Spiegel 29/1996

-Die Wochenzeitung, 32/94

-Spiegel Special: Die Eigensinnigen, November 1994

Das Rave-Phänomen (von Christine Steffen) in dem Techno-Buch:

"Noch etwas hat die Sehnsucht nach dem Wunderland geboren: Rituale. Tanz, Trance und gemeinsam erlebte Ekstase. ... Die Raves scheinen etwas anzusprechen, was einem menschlichen Urbedürfnis, einem archetypischen Verhalten entspricht: Geborgenheit, das Gemeinschaftsgefühl treten der Vereinzelung entgegen und können heutzutage nirgendwo friedlicher und ausgiebiger genossen werden."

"Dass in einer Welt, in der das Hauptritual darin besteht, jeden Morgen um die gleiche Zeit aufzustehen und zur Arbeit zu fahren, das reale Bedürfnis besteht nach sinnlichen Erlebnissen und Berührungen mit anderen Bewußtseinssphären, erstaunt kaum. Dass Techno als Ausgeburt der technisierten, genormten und beschleunigten Zeit dieses Bedürfnis befriedigt, noch weniger. Das enorme Manko an sinnlichen Erfahrungen, an Eins-zu-eins-Erlebnissen, lässt Scharen zu den Tempeln pilgern, so wie frühere Generationen Sonntag für Sonntag zu den Kirchen gepilgert sind. Doch statt in Stille zu verharren und einer Predigt zu lauschen, die von einer anderen Welt erzählt, tanzen sich die Kids an die jenseitigen Bewußtseinssphären heran. Sie werden im Lauf ihrer stundenlangen Reise so leicht, als führte die Reise in den Weltraum. ... Der stundenlange Tanz renigt und läutert, trägt Gewicht ab, das sich Tag für Tag auf die Seele legt - die Raves als große Seelen- und Körpermassage."

"Chillout: In dem geschlossenen System 'Rave' haben die Ruhepausen große Bedeutung."

Hierhin ziehen die müde gewordenen 'Krieger' zurück.

"Offensichtlich können die Kids mit ihrer zweitgeteilten Welt leben. Die Tage ohne Tanz verbringen sie unauffällig und nicht unbedingt als Raver erkennbar. Scheinbar kommen sie so gut zurecht mit der real existierenden Welt, mit deren genormten Abläufen, den fehlenden Freiräumen, dem Mangel an lustvoller Sinnlichkeit, dass sie keinen sichtbaren Versuch unternehmen, die Erfahrungen einfließen zu lassen, die sie an den Raves machen. Von Ausbrechen aus dem Alltagsleben, von Wut und Rebellion kann schon gar keine Rede sein.

Die Raves unterstützen - und das ist die paradoxe Seite - die Alltagsgesellschaft, der die Kids Wochenende für Wochenende entfliehen.

Weil sie dringende Bedürfnisse unmittelbar befriedigen, Frustationen auffangen und Erlebnisse vermitteln, müssen sich die Kids unter der Woche nicht auf die Suche nach einem real existierenden Wunderland machen. Und sogar ihre Droge Ecstasy entspricht den heutigen Anforderungen. Sie macht nicht müde oder traurig, sondern wach, happy und selbstbewußt."

"Vielleicht wächst da eine Generation heran, die ihre Erfahrungen aus den Tanztempeln unspektakulär und selbstverständlich in die Alltagsgesellschaft einbringt. Kann die sinnliche Erfahrung von Gleichheit, Respekt, Achtung, Lust und Freude wie die schrille Kleidung abgelegt werden?

Lassen sich Spuren der Rave-Gesellschaft statt im öffentlichen Ausdruck ganz unmittelbar im Wesen, im Verhalten der Techno-Kids finden?

Wodurch ersetzen die Kids das kollektive Reise- und Gemeinschaftsgefühl, wenn es die Raves einmal nicht mehr geben sollte oder wenn sie älter sind? Behalten sie in Erinnerung, dass sie fliegen können?"

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Das Lebensgefühl - Nachrichten vom Rave (von Thomas Haemmerli) im Techno-Buch

"Techno war die Befreiung von der standardisierten Stupidität der Rockkonzerte"

"Die erste Offenbarung seit Punk."

"Die Anmutungsqualität eines technisch hochgerüsteten Raves ist etwas gänzlich Neues, ein Vorgriff auf die Visionen virtueller Räume, ein Schnitt, der die Alltagsrealität scharf abtrennt."

Endorphine: "Die beglückenden Erlebnisse außerhalb tagtäglicher Bewußtseinszustände, die einem ein Rave ermöglicht, machen neugierig auf chemische Selbstexperimente."

"Am Rave ist man eine unbeschwerte und oberflächliche Klischeefigur und kehrt zurück in die unbelastete Welt der Kindheit, in einen heilen Mickey-Mouse-Comic."

"Ja, zuweilen fühlt man sich am Rave von so dumpfer Zufriedenheit erfüllt, als gehörte man zu einer Herde Urchristen."

XTC: "Die XTC-Freaks fungieren als Anheizer, als psychische Vortänzer und mentale GoGo-Girls."

"Offenheit und auch die lange Dauer eines Raves tun ein Weiteres dazu, dass sich herkömmliche Sitten in Wohlgefallen auflösen."

neue Mentalität

"Das generelle Schwinden sozialer Kontrolle und verbindlicher Verhaltensrepertoires verschärft sich an Technoparties zu weitgehender Regelfreiheit - ohne in anarchische Exzesse zu kippen."

Auflösung der Tanzfläche

"Zwei gegensätzliche, komplementäre Tendenzen verändern unsere Gesellschaft, nämlich Globalisierung und Segmentierung."

Die stete Ausdifferenzierung, die Zunahme der Möglichkeiten, was man alles sein kann, hat zur Folge, dass unsere nach wie vor räumlich definierte Gesellschaft immer segmentierter wird, heterogener und pluralistischer. Die damit einhergehende Auflösung verbindlicher Normen und das Verschwinden einheitsstiftender Verhaltensweisen zeitigt zwei mögliche Reaktionen. Man klammert sich reaktionär an alles Hergebrachte. Und je mehr sich der Wandel beschleunigt, je unverständlicher die Gesellschaft wird, desto verbissener klammert man."

"Techno ist ein Testlabor für ein nahezu reibungsfreies Nebeneinander."

Integrationsfunktion?!

Musik ist immer ein Spiegelbild ihrer Zeit.

"Am Mega-Rave kannst du am Boden liegen und ein Ohr voll Schlaf nehmen, ... niemand wird dich dabei stören."

Vorwurf: Freizeitvergnügen: "... überhaupt lasse sich die Jugend für hehre Ziele nicht länger begeistern, weil sie ja jetzt diesem oberflächlichen Spektakel anheimgefallen sei."

Der Faschismus muss als Schreckgespenst zur Erklärung des Phänomens herhalten.

"Schwinden der Adhäsionskraft", "Ohnehin schon heterogen zusammengewürfelt, driften die diversen Techno-Unterabteilungen weiter auseinander."

"Nicht mal als Jugendkultur ist Techno zu verorten.", trotzdem eine Art Familiengefühl

"Hat man sich außerhalb des Partygesschehens auch oft wenig mitzuteilen, so scheint doch dieses wissende Lächeln auf, wenn man sich in Zivil begegnet und als Clubber aus demselben Clan erkennt. Zuweilen vibriert gar etwas Sektenhaftes mit."

Underground: "Gemeinschaftsstiftend ist auch eine Attitüde, mit der sich Kommerztechno und die entsprechende Industrie gerne schmücken, die aber bloß da und dort auch tatsächlich zu finden ist: Das Gütesiegel 'Underground'."

Großbrittanien, Polizeiverfolgung, Illegalität: "Derart wird Techno mit dem Nimbus einer aufmüpfigen Sache geadelt."

Möglich, dass dies einen Teil der Anziehungskraft ausmacht, den die Zürcher Underground-Technoszene auf eine Schar ehemaliger Autonomer ausübt - perspektivenamputierte Ex-Kämpen wider die Schlechtigkeit der Welt, die jetzt tanzenderweise auf den Putz hauen und asketisch graue Politjahre kompensieren."

"Selbst die 'Junge Freiheit', ein Blatt zwischen rechtskonservativ und radikalnational, hat schon Kraft durch Techno besungen."

"Für den Frieden schweigen"

"Ich bin dann gar nicht mehr so unglücklich, die Mit-Technos lediglich als nette Partner auf der Tanzfläche zu erleben und mich wegen des Lärms in keine unnötigen weltanschaulichen Dispute zu verlieren, die doch nur gute Stimmung stören würden."

"Für das Disco- und Tanzwesen ist Techno eine Revolution, die innert kürzester Zeit unheimlich populär geworden ist, ohne dass deshalb irgend etwas aus den Fugen gehen würde - außer der Party-Sparte im Veranstaltungsmagazin."

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