Nathan der Weise

Lessing wurde am 22. Januar 1729 als Sohn eines lutherischen Pfarrers geboren. Er studierte in Leipzig Theologie. Dort beschäftigte er sich auch mit dem Theater. Im Jahre 1779 schrieb er das dramatische Gedicht "Nathan der Weise". Vorausgegangen waren während Lessings Tätigkeit als Bibliothekar in Wolfenbüttel zahlreiche Auseinandersetzungen mit der Orthodoxie und schließlich das Verbot der Veröffentlichung von religionskritischen Schriften gegen den Hamburger Hauptpastor Melchior Goeze. Daraufhin schuf Lessing sein letztes dramatisches Werk, "Nathan der Weise", mit dem er erreichen wollte, dass der Leser seiner Religion kritisch gegenübersteht und Toleranz zeigt.

Im vierten Aufzug beginnt der vierte Auftritt mit einem Dialog zwischen Saladin und dem Tempelherrn, der zu einem Freundschaftsbund führt. Im darauffolgenden Gespräch äußert der Tempelherr Bedenken über die Person Nathans. In heftigen Äußerungen sind auch antisemitische Worte zu erkennen. Der Sultan aber wehrt alles ab. Gegen Ende des Gesprächs, lässt Saladin Nathan durch den Tempelherrn suchen und beruhigt den Tempelherrn, was Recha betrifft, mit den Worten "Sie ist dein" (S.102/Z.9).
Zuerst führen Saladin und der Tempelherr ein konfliktloses Gespräch, in dem der Tempelherr unterwürfig ist und Saladin gütig und großherzig ("Ich, dein Gefangener, Sultan... SALADIN: Wem ich das Leben schenke, werd' ich dem nicht auch die Freiheit schenken?" Z.22 - 25/S.96).

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In dem dann folgenden Enthüllungsdialog zeigt sich der Tempelherr aktiv und bereitet mit oft leidenschaftlichen Worten seine Enthüllung über Nathan vor ("[...] spricht von Aussicht, spricht von heitern Fernen. - Nun ich lasse mich beschwatzen." Z.18 - 20/S.99; "Wenn gleichwohl dieser Ausbund aller Menschen so ein gemeiner Jude wäre [...]" Z.23 - 24/S.100). Saladin ist betroffen ("Nun, so sage doch, mit wem dus hast? - Es schiene ja gar mit Nathan, wie?" Z.38 - 39/S.98), bleibt aber eher in der reagierenden Position und versucht den Tempelherrn zu beruhigen ("Nun, nun! So sieh doch einem Alten etwas nach." Z.38 - 39/S.99). Er zeigt eine überlegene Haltung und wird erst auf dem Höhepunkt des Gespräches heftig und weist den Tempelherrn in seine Schranken, indem er ihn ermahnt: "Sei ruhig, Christ!" (Z.4/S.101). Beide sind aber an einem möglichst großen Maß an Verständigung interessiert, und so endet das Gespräch in der Einigung beider ("Aber geh! Such du nun Nathan, wie er dich gesucht;" "Verzeih!" Z.5 - 6/S.102; Z.37/S.101).
Wie auch im gesamten Drama, wird Saladin in diesem Auftritt als eine sympathische, menschliche Gestalt dargestellt. Hier muss auf die treffende Selbsteinschätzung Saladins hingewiesen werden (Z.32 - 34/S.98: "Leider bin auch ich ein Ding von vielen Seiten, die oft nicht so recht zu passen scheinen mögen."). Seine von den zeitgenössischen Kreuzfahrten abstechende Friedensbereitschaft ("Sieh doch einem alten etwas nach!" Z.39/S.99; "Geh behutsam! Gib ihn nicht sofort den Schwärmern deines Pöbels Preis!" Z.23/S.101) und seine große Toleranz (Z.28/S.97: "Ich habe nie verlangt, dass allen Bäumen eine Rinde wachse") kommen zum Ausdruck. Durch das geliehene Geld ist er von Nathan "abhängig", und

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steht schon deshalb auf dessen Seite ("Indes, er ist mein Freund, und meiner Freunde muss keiner mit dem andern hadern." Z.21/S.101).
Außerdem hat ihn Nathans Parabel von den drei Ringen tief beeindruckt, und er hat Nathan als sehr weise und human bezeichnet. Spontan bot er ihm seine Freundschaft an.
Der Tempelherr ist eine widersprüchliche Person. Er sagt, er "habe wider Nathan nichts." und er "zürn'" allein mit sich (Z.3 - 4/S.99). Andererseits sagt er ca. zwei Seiten weiter: "Ich werde hinter diesen jüd'schen Wolf im philosoph'schen Schafpelz, Hunde schon zu bringen wissen, die ihn zausen sollen!" (Z.39/S.100; Z.1 - 2/S.101). Diese Wut, die er gegen Nathan hat, kommt einerseits aus antisemitischen Tendenzen, die sich in ihm zeigen und andererseits aus seiner Liebe zu Recha, der Nathan noch nicht zugestimmt hat. Im Wechsel der Gefühle bereut er zum Schluß des 4. Auftritts sein Handeln mit den Worten: "Verzeih! Du wirst von deinem Assad, fürcht ich, ferner nun nichts mehr in mir erkennen wollen" (Z.37 - 29/S.101).
Mit Hyperbeln wie "blöde Menschheit" (Z.17/S.100), "gemeiner Jude" (Z.24/S.100) oder "toleranter Schwätzer" (Z.38/S.100) drückt Lessing die intolerante Haltung des Tempelherrn aus. Dagegen steht das sprachliche Hilfsmittel der Metapher, wenn Saladin sagt, "[...] dass allen Bäumen eine Rinde wachse" (Z.28/S.97). Hier kommt die Toleranz, die Lessing fordert, zum Ausdruck. Auch durch das Symbol des "jüdischen Wolfes im philosophischen Schafspelz" (Z.39/S.100; Z.1/S.101) verdeutlicht Lessing die Abneigung des Christen gegenüber dem Juden. Andere Symbole wie "Blutbegier des Patriarchen" (Z.30/S.101) oder die Metapher "Sturm der

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Leidenschaft" und "Wirbel der Unentschlossenheit" (Z.36 - 37/S.101) ma -
chen den Leser auf die Reue des Christen aufmerksam. Durch Sätze, die nur begonnen und nicht zu Ende geführt werden ("Wohl sein! Doch
Nathan..." Z.15/S.100), zeigt Lessing dem Leser, dass Saladin die Meinung des Tempelherrn zwar akzeptiert, sie aber, was Nathan betrifft, nicht mit ihm teilt.
Die analysierte Szene gehört zum Höhepunkt des Dramas, denn die Zusammenführung der Hauptpersonen im letzten Auftritt wird vorbereitet. In dieser Szene kommen Lessings utopische Harmonie - und Toleranzvorstellungen zwischen den Hauptreligionen zum Ausdruck. Die erneuten Vorurteile des Tempelherrn werden nämlich zum Schluß der Szene in seiner Reue zunichte gemacht mit der Aussage Saladins "Mich dünkt, ich weiß, aus welchen Fehlern unsre Tugend keimt" (Z.2 - 3/S.102). Der Tempelherr zeigt seine Selbstkritik mit den Worten "[die] Blutbegier des Patriarchen, des Werkzeug mir zu werden graute" (Z.30 - 31/S.101). Dass jede der drei Religionen ihre Existenzberechtigung haben soll, kommt auch in der Aussage Saladins zum Ausdruck: "Ich habe nie verlangt, dass allen Bäumen eine Rinde wachse" (Z.28/S.97). Saladin verkörpert die Menschlichkeit, die Lessing fordert, indem er in diesem analysierten 4. Auftritt fast immer gelassen reagiert, Verständnis für den Tempelherrn zeigt und versucht, ihn zu beruhigen.

Lessings Drama hat auch heute an seiner Gültigkeit noch nicht verloren. Hier denke ich zum Beispiel an die religiös bedingten Unruhen in Nordirland oder an die Intoleranz der Menschen in Jugoslawien, die zu dem katastrophalen Krieg und dem damit verbundenen Leid für viele Menschen
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geführt hat. Mehr Menschlichkeit und Toleranz sollte unsere Gesellschaft auch gegenüber anderen Menschen wie z.B. Ausländern oder Behinderten zeigen. Lessings Vorstellung seiner Idealwelt, in der Menschen verschiedener Herkunft und Religionen zu einer Familie zusammenwachsen, wird es sicher so nie geben können, aber die Menschen sollten wenigstens versuchen, mit mehr Toleranz und dementsprechenden Handeln zusammenzuleben.

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